Die jüngsten Schwierigkeiten in der Ukraine verstehen
Anfang des Monats entließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unerwartet zwei Drittel seiner Regierung sowie den Generalstaatsanwalt des Landes. Im Inland wie auch im Ausland läuten die Alarmglocken, aber sind Angst oder gar Verzweiflung tatsächlich angebracht? Von Bohdan Nahailo
Ja, die Veränderungen kamen überstürzt und wurden aus PR-Sicht schlecht gehandhabt. Aber spiegeln sie das impulsive Wesen und die Unerfahrenheit eines politischen Newcomers wider, der unbedingt schnelle Ergebnisse erzielen will?
Oder signalisieren sie eine Kapitulation vor den Kräften der Vergangenheit, einen neuen faustischen Pakt mit hegemonialen Oligarchen?
Wichtiger noch: Welche Bedeutung hat Selenskyjs Vorgehen für den angekündigten Kurs der Ukraine im In- und Ausland?
Selenskyj selbst nennt den Wunsch nach einem glaubwürdigeren Auftritt seines Teams als Grund für den Wechsel – mit konkreten Ergebnissen anstatt bloßem Gerede und Absichtserklärungen.
Wenn wir ihn beim Wort nehmen wollen, dann waren vermutlich einige Änderungen erforderlich. Aber doch sicher nicht auf eine Art, die die Autorität des obersten Führungsteams des Landes, das er selbst ernannt hatte, untergräbt?
Auch wenn noch unklar ist, ob der neue und erfahrenere technokratische Premierminister einen Mehrwert einbringt, oder ob die anderen bisher ernannten Minister viel bewegen werden, so hofft Selenskyj dochauf greifbarere Zeichen eines schnellen Vorwärtskommens.
Dies ist an sich nichts Schlechtes, abgesehen vom ungeschickten Umgang damit. Einige der Veränderungen auf Ministerebene deuten zu diesem Zeitpunkt tatsächlich auf Verbesserungen hin, wie im wichtigen Verteidigungsministerium, wo ein Fachmann vom Militär einen Zivilisten ersetzt. Es wird sich bald herausstellen, ob der ukrainische Präsident mit seinem energischen Handeln recht behält oder ob andere Motive am Werk waren.
Selenskyjs Kritiker vermuten, dass er trotz allen Geredes von einem Neustart vor den Oligarchen klein beigegeben hat. Entweder vor dem berüchtigten und großspurigen Ihor Kolomojskyj, der darum kämpft, seinen finanziellen und damit politischen Einfluss zu bewahren, oder vor dem diskreteren, aber tatsächlich wichtigeren Oligarchen Rinat Achmetow. Manche sorgen sich auch, dass pro-russische Kräfte die Oberhand gewinnen.
Angesichts der aus der Ära Janukowytsch und Poroschenko fortbestehenden Gegebenheiten wäre es naiv, zu glauben, dass ein neuer, reformorientierter Präsident sich einfach befreien kann von dem restriktiven politischen und wirtschaftlichen Rahmen, den seine Vorgänger und das oligarchische System geschaffen haben. Hinter den Kulissen bleiben Kompromisse und wechselnde Zweckbündnisse im politischen Leben eine Notwendigkeit.
Wird jedoch das Geschehene den Kurs der Ukraine im In- und Ausland verändern?
Was hinter den Kulissen geschieht ist schwer einzuschätzen, jedoch deuten die an der Oberfläche sichtbaren Zeichen ermutigenderweise weder auf eine Kehrtwende noch auf einen katastrophalen Sturz in den Abgrund hin, mögen auch die zahlreichen Schwarzseher uns drängen, es anders zu sehen.
Selenskyj selbst hat betont, dass die aktuellen Veränderungen das Vorwärtskommen stärken sollen. Er und sein neuer Premierminister haben ihr unbeirrtes Engagement für Reformen und die diesbezügliche Kooperation mit den Verbündeten und Gläubigern der Ukraine betont. Sie haben ihre Entschlossenheit signalisiert, die IWF-Vorgaben zu erfüllen, damit das Land eine wichtige neue Tranche der Finanzhilfe erhält, die bereits seit langer Zeit auf Eis liegt.
Es gibt auch keinen Grund für die Annahme, dass Selenskyj vom europafreundlichen Kurs seines Landes und dem Ziel der Integration in euro-atlantische Strukturen abweicht. Er war und ist standfest in Bezug auf Russland und dessen Aggression, stärker als von allen erwartet.
Es ist allerdings im Krieg mit Russland im Donbas kein Ende in Sicht und der Verhandlungsprozess im Normandie-Format unter Beteiligung Deutschlands liefert keine Resultate. In dieser für Kyjiw schwierigen Zeit, da die Ukraine zu einem Objekt interner politischer Auseinandersetzungen in den USA geworden ist, da der französische Präsident sich bei seinem Amtskollegen im Kreml einschmeichelt und da Deutschland, seinem Nord-Stream-2-Projekt mit Russland verpflichtet, abwartet, was die politische Zukunft nach Kanzlerin Angela Merkel bereithält, wird es für Präsident Selenskyj zunehmend schwerer, sich gegenüber Moskau zu behaupten. Es erübrigt sich zu sagen, dass sein Blick weiterhin nach Berlin geht, wenn es um Verständnis, europäische Führung und Unterstützung geht.
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