Selenskyj: Ein Jahr klüger?
Am 21. April 2019 gewann Wolodymyr Selenskyj die Stichwahl gegen Petro Poroschenko. Aber wie kann man die letzten Monate einordnen und was sind die nächsten Schritte des Präsidenten. In seiner neuen Kolumne resümiert Bohdan Nahailo das erste Jahr des Präsidenten.
Seit Wolodymyr Selenskyj am 21. April 2019 mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, ist ein Jahr wie im Fluge vergangen. Diese Woche hat der Politiker, vormals ein impulsiver und unberechenbarer Entertainer, den kontroversen ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili eingeladen, seine Regierung in der Rolle eines stellvertretenden Ministerpräsidenten mit Reformverantwortung zu unterstützen. Ist dieses Timing Zufall oder besteht eine Verbindung zwischen beidem?
Selenskyj hatte sich vorgenommen, Schluss zu machen mit der Heuchelei, der Korruption, den ins Stocken geratenen Reformen und der Manipulation patriotischer Symbole, die nach Ansicht der Mehrzahl der Wähler die Präsidentschaft Petro Poroschenkos geprägt hatten. Darüber hinaus hatte er seine Entschlossenheit bekräftigt, den Krieg mit Russland im Donbas beenden zu wollen.
Trotz gewisser Fortschritte in die gewünschte Richtung erwiesen sich die Veränderungsbarrieren größer als vorhergesehen. So musste Wolodymyr Selenskyj eigene Fehler eingestehen und daraus Lehren ziehen.
Wesentliche Hindernisse waren vermutlich seine politische Naivität, seine Unerfahrenheit sowie die Tatsache, dass er kein zuverlässiges Team aus engagierten und hartgesottenen Fachleuten zusammengestellt hatte, das ihn beim Regieren unterstützen konnte. Diese Hindernisse waren möglicherweise entscheidender als der Widerstand seitens fest verwurzelter oligarchischer und politischer Interessen, ein unglaubwürdiges Rechtssystem (an dem unter Poroschenko nur herumgedoktert worden war, statt dass es ernsthaft reformiert wurde), revanchistische Kräfte oder die Unnachgiebigkeit des Kremls.
Von Beginn an war klar, dass Selenskyj mit seinem Wahlsieg die Macht noch nicht wirklich übernommen hatte. Zwar stand ihm diese Macht formell zu, sie blieb aber gleichzeitig sowohl durch die ungünstige Gesetzeslage eingeschränkt, als auch durch die fehlende Parlamentsmehrheit zu sichern. Dies gelang ihm im Juli 2019; das Parlament kam jedoch erst Ende August zusammen.
Ein weiteres Hindernis ist die Anwendung effektiver Verschleppungstaktiken seitens seiner politischen Gegner. Des Weiteren handelten wichtige Gerichte alles andere als unabhängig. Außerdem wurden wir Zeugen eines kräftezehrenden Streits Selenskyis mit seinem ehemaligen Geschäftspartner, dem gefährlichen Oligarchen Ihor Kolomojskyj, der aufgrund seiner Geschäftsinteressen die entscheidende weitere Zusammenarbeit der Ukraine mit dem Internationalen Währungsfonds gefährdet hat.
Innenpolitisch sind die Ergebnisse Selenskyjs bescheiden. Es wurden problematische Gesetze verabschiedet, die die Bedingungen für eine Aufhebung der Immunität der Abgeordneten und die Amtsenthebung des Präsidenten festlegen. Auch eine heiß umkämpfte, aber stark verwässerte Version eines Gesetzes, welches das Verbot des Verkaufs landwirtschaftlicher Flächen aufhebt, wurde kürzlich verabschiedet. Von größter Bedeutung ist möglicherweise die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes, das transparentere und weniger korrupte Wahlen ermöglichen sollte, außerdem eine deutliche Verringerung der Sitze im Parlament sowie die Wiedereinführung strafrechtlicher Verfolgbarkeit für illegale Bereicherung.
Eine schnelle Beendigung des Krieges mit Russland erwies sich als illusorisch. Selenskyj ist es dennoch gelungen, den zuvor stockenden trilateralen Verhandlungen in Minsk (mit Vertretern der Ukraine, Russlands und die OSZE) neue Impulse zu geben. Neben rhetorischen Feineinstellungen hat Selenskyj auch Putin öffentlich davon überzeugt, einige der erdrückenden Bestimmungen der Minsker Abkommen von 2014/2015 überarbeiten zu müssen. Er hat die Freilassung Dutzender ukrainischer Gefangener aus Russland erreicht und einen Verhandlungsprozess über einen allmählichen Rückzug entlang der Frontlinie eingeleitet.
Die größten Kopfschmerzen hat es Selenskyj aber bereitet, „Ordnung im eigenen Haus“ zu schaffen. So entließ er seinen anfangs engsten Berater und Stabschef Andrij Bohdan, den sturen und unbeliebten ehemaligen Anwalt Kolomojskyjs. Allerdings hat Bohdans Ersatz, der zuvor auf Filmproduktionen spezialisierte Anwalt Andrij Jermak, bereits erhebliche Kontroversen ausgelöst. Und es ist unklar, warum Selenskyj ihm nicht nur die Verhandlungen mit dem Kreml, sondern auch die Außenpolitik im Allgemeinen anvertraut hat – unter Umgehung des Außenministeriums. Er schwächte dadurch auch seine eigene Partei „Diener des Volkes“.
Bei Meinungsumfragen erreicht Selenskyj weiterhin relativ hohe Werte und schneidet achtbar ab. Etwa die Hälfte der Ukrainer ist mit seiner Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden. Sowohl ihm selbst als auch seinem Umfeld ist aber bewusst, dass diese Zustimmung vieler Wähler von kurzer Dauer sein wird, wenn er die versprochenen Reformen nicht umsetzt. Mit der Entlassung seines Ministerpräsidenten und einem Großteil des Kabinetts Anfang März zeigte er, dass er sich dessen wohl bewusst ist. Nun sieht sich das Land jedoch der neuen, unerwarteten und gewaltigen Herausforderung der Coronavirus-Pandemie gegenüber, mit verheerenden Auswirkungen auf die Wirtschaft in der Ukraine und der gesamten Welt.
Zu diesem heiklen Zeitpunkt ist Micheil Saakaschwili so etwas wie das „Kaninchen“, das Selenskyj hervorzaubert. Der erfahrene georgische und neuerdings ukrainische Politiker beansprucht immer noch die Rolle eines kompromisslosen Erneuerers, und seine Rückkehr lässt nichts Gutes für Poroschenko ahnen, der ihn kurzerhand (und rechtswidrig?) aus der Ukraine hinausbefördert hatte, nachdem die beiden sich entzweit hatten. Auch andere Oligarchen und ortsansässige Ganoven dürften Grund haben, Saakaschwili zu fürchten.
Saakaschwilis Ernennung – die vom Parlament erst noch bestätigt werden muss – mag das richtige Mittel sein, um die Dinge wieder in Bewegung zu bringen, aber der Plan könnte ebenso nach hinten losgehen und unnötig Probleme in Selenskyjs eigenem Team verursachen. Erst einmal jedoch wurde mit diesem Schritt ein Vorankommen signalisiert und das ist ein gutes Zeichen.
Aus dem Englischen übersetzt von Meike Temberg.
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