Russlands politische Gefangene im Konflikt mit der Ukraine. Teil 1
Über einhundert ukrainische Staatsbürger werden aktuell in Russland, in den besetzten Gebieten des Donbas und auf der Krim gefangen gehalten. Unabhängige Beobachter bezweifeln die den Gefangenen vorgehaltenen Schuldvorwürfe und sehen ausschließlich politische Motive für die Inhaftierungen. Menschenrechtsaktivisten fordern die Weltgemeinschaft dazu auf, den Druck auf Russland umgehend zu erhöhen, um die unverzügliche Freilassung der Inhaftierten zu erreichen. Von Mykola Mirny
Der Beitrag zeigt anhand ausgewählter Fälle von der Krim, wie die Politik Russlands fingierte und gefälschte Informationen dazu nutzt, um Strafverfahren gegen ukrainische Bürger einzuleiten.
Vor der Annexion der Krim im März 2014 unterrichtete Olha Skrypnik Geschichte an der Humanitären Universität in Jalta. Es erschien ihr seltsam, dass nach einer Vorlesung über den Zweiten Weltkrieg im Universitätshof plötzlich nicht identifizierbare bewaffnete Männer in einem Militärfahrzeug zu sehen waren. Sie verfolgte damals das Fahrzeug bis zur Kuranstalt der Schwarzmeerflotte, deren Pächter das russische Verteidigungsministerium ist. An diesem Ort dokumentierte sie erste Bilder der Annexion mit ihrem Handy.
Olha Skrypnik
Sie gründete wenig später die NGO Crimean Human Rights Group, die aus Sicherheitsgründen nach Kyjiw verlegt werden musste. Olhas Kolleginnen und Kollegen dokumentieren die Menschenrechtsverletzungen auf der Halbinsel Krim für die Vereinten Nationen und den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Seit dem Ausbruch des Russland-Ukraine-Konfliktes werden dort Menschen immer wieder aus politischen Gründen verhaftet. Ein Krieg zwischen beiden Ländern wurde offiziell bis heute nicht erklärt. Die Besatzung der Schwarzmeerhalbinsel gilt bei angesehenen Völkerrechtsexperten als internationaler bewaffneter Konflikt zwischen beiden Staaten.
Zu den fingierten, politisch motivierten Strafverfahren gibt es erwartungsgemäß keine offiziellen Daten der russischen Seite. Die ukrainische Beauftragte für Menschenrechte sowie eine Koalition von NGO versuchen über Anwälte Zugang zu solchen Fällen zu bekommen, um sie dokumentieren und bewerten zu können. Die Verfolgten werden von Menschenrechtsaktivisten in fünf Gruppen eingeteilt:
- Politiker,
- proukrainische Aktivisten,
- krimtatarische Aktivisten,
- Menschen, denen Sabotage und Spionage vorgeworfen wird und
- Gläubige.
Sehr häufig sind unter den politischen Gefangenen ukrainische Bürger, die die Krim als Bestandteil der Ukraine ansehen und die Besetzung der Halbinsel öffentlich in Frage stellen.
„Versetzen Sie sich an die Stelle eines Ukrainers auf der Krim. Sie werden eines Morgens wach und sind Zeuge, wie der Nachbarstaat ihr Territorium besetzt. Sie protestieren öffentlich dagegen und werden dafür verfolgt. Ihre Familie und ihr Anwalt können Sie nach ihrer Verhaftung längere Zeit nicht finden. Nachdem Sie aufgefunden wurden, sagen die Ermittler, dass Ihnen terroristische Tätigkeiten nachgewiesen und Sie zu zehn Jahren verurteilt worden sind. Die Haftstrafe müssen Sie über 2,5 Tausend Kilometer entfernt von ihren Verwandten verbüßen“, – sagt der Managing Partner der britischen Menschenrechtsorganisation „Global Rights Compliance” Martin Scott. Er beobachtet, dass man sich mittlerweile sowohl in der Ukraine als auch international an politische Verfolgung auf der Krim gewöhnt hat.
Menschenrechtsverteidiger Martin Scott und Oleksandra Matwijtschuk
Der letzte Gefangenenaustausch zwischen beiden Ländern fand Ende 2019 statt. Westliche Medien werteten dies als erste Annäherung in den Beziehungen zwischen Russland und Ukraine. Die Leiterin der Crimean Human Rights Group Olha Skrypnyk kommt zu einem anderen Schluss. So hat Russland seit dem letzten Gefangenenaustausch 28 weitere ukrainischer Bürger aus politischen und religiösen Gründen inhaftiert. Darunter befinden sich zehn Muslime und sechs Zeugen Jehovas.
Die Gesamtzahl der von Russland auf der Krim zu Unrecht inhaftierten ukrainischen Bürger liegt aktuell bei 114 Personen. Laut dem ukrainischen Geheimdienst SBU kommen noch 251 Zivilisten und Militärs hinzu, welche auf den besetzten Territorien des Donbass festgenommen wurden.
Während der bereits mehr als sieben Jahre andauernden Besatzung haben nur wenige politische Gefangene ihre Freiheitsstrafen abgebüßt und wurden freigelassen. Dies sind unter anderem Wolodymyr Prysitsch, Oleksandr Kostenko, Oleksandr Steschenko, Hlib Schablij, Oleksiy Stohnij, Oleksandr Schumkov, Renat Sulejmanow und Nariman Memedeminov.
Menschenrechtsaktivisten weisen darauf hin, dass Russland nach dem großen Gefangenenaustausch von 2019 auf der Krim keine politischen Häftlinge mehr freigelassen hat. Sie fordern die Welt auf, nach wirksamen Mechanismen zu suchen, um Russland zur Freilassung politischer Gefangener zu drängen.
Die Ziele Russlands
Das Instrument der politischen Verfolgung dient nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivisten in der russischen Strategie mehreren Zielen.
Als vorrangiges Ziel erscheint die Erschaffung und Erhaltung des ukrainischen Feindbildes in der russischen Öffentlichkeit, macht die Vorsitzende des Zentrums für bürgerliche Freiheiten Oleksandra Matwijtschuk in Kyjiw deutlich. So werden seit gut sieben Jahren in Russland Ukrainer als Spione und Saboteure sowie Krimtataren als Terroristen und Extremisten dargestellt.
Skrypnyk stimmt ihr zu. Sie ergänzt, dass mit fingierten Terroranklagen und der rigiden politischen Verfolgung liberaler Kräfte versucht wird, die unliebsame Bevölkerung der Krim einzuschüchtern und „ins Ausland“ zu vertreiben. Gleichzeitig soll mit den Schauprozessen der Kritik an der russischen Politik aus dem Ausland begegnet werden.
„Solche Fälle haben immer eine Propagandakomponente. Russland will damit den G20 Staaten zeigen, dass Ukrainer angeblich Anschläge gegen Zivilbevölkerung auf der Krim ausüben, um sie einzuschüchtern. Den Krimbewohnern sendet die russische Führung gerne das Signal, dass „ultrarechtsgerichtete Stepan-Bandera-Anhänger“ grausame Attentate auf ihren Märkten begehen wollen. Dabei spielt Russland mit den Leben schutzloser Menschen, die diffamiert werden und sich rechtlich nicht wehren können“, sagt Skrypnik.
Nach Matwijtschucks Ansicht benutzt Russland das Instrument der politischen Verfolgung als besonders perfide Methode der Kriegsführung. Die Menschenrechtsaktivistin erinnert an eine Reihe von Aktivisten, die am Anfang der russischen Aggression tot aufgefunden wurden, wie Reschat Ametow auf der Krim und dem Stadtrat Wolodymyr Rybak in Horliwka.
„Diese Methode der Kriegsführung zielt darauf ab, die aktive Minderheit zu vertreiben oder zu vernichten und die passive Mehrheit einzuschüchtern. Dies ermöglichte eine schnelle Kontrolle der Region. Das Territorium soll dauerhaft besetzt bleiben, weshalb der Besatzer die Repressalien nach der Eroberung fortsetzt“, sagt Matwijtschuk.
Monatlich protestieren Aktivisten der Menschenrechtsorganisation „Krim SOS“ vor der Russischen Botschaft in Kyjiw. Auf Plakaten und Transparenten fragen sie nach vermissten Krimbewohnern. Ihnen sind insgesamt 45 Fälle von auf der Krimhalbinsel verschwundenen Personen bekannt. 20 davon wurden zwischenzeitlich freigelassen. Drei befinden sich in politisch motivierter Haft. Einer wurde von der Krim ausgewiesen. Sechs wurden tot aufgefunden. Weiterhin verschwunden bleiben folgende 15 Personen: Tymur Schajmardanow, Seiran Zinedinov, Isljam Dzhepparow, Dzhewdet Isljamow, Eskender Apseljamow, Muchtar Arislanow, Rusland Hanijew, Arlen Terechow, Erwin Ibrahimow, EskenderI braimow, Walerij Waschtschuk, Iwan Bondarets, Wasyl Tschernysch, Fedir Kostenko und Arsen Alijew.
Russland vertreibt illoyale Einwohner durch den Zuzug und die Ansiedlung russischen Bürgern aus dem Territorium Russlands. Es gibt mehrere Migrationsprogramme für Russen auf die Krim. Vor allem geht es um Militärs, ehemalige Richter, Ex-Angestellte des Geheimdienstes FSB, Lehrer und ihre Familien.
Nach Angaben des UN-Generalsekretärs AntónioGuterres aus dem Jahr 2019 hatte Russland bis dahin 140 Tausend Russen illegal auf der Halbinsel angesiedelt. Der krimtatarische Anführer Mustafa Dzhemiljew hält die Zahlen für zu niedrig. Er verweist auf die Daten der de-facto-Stadtverwaltung Sewastopol, wonach die Bevölkerung seit der Besetzung um 240.000 Einwohner (+80%) angestiegen ist. Gleichzeitig wuchs auch die Bevölkerung Simferopols von 350.000 auf 600.000 Einwohner.
Crimean Human Rights Group erläutert, dass die von Russland veröffentlichten offiziellen Statistiken das Militär und die Sicherheitskräfte nicht berücksichtigen. Die Staatsanwaltschaft der Ukraine hat zudem etwa 48.000 Binnenflüchtlinge ermittelt, die die Halbinsel während der Besetzung der Krim verlassen haben.
Darüber hinaus, wie Matwijtschuk erklärt, versucht Russland mit dem Instrument der politischen Verfolgung von der Ukraine politische Zugeständnisse zu erreichen.
„Während der Verhandlungen hören wir ständig politische Forderungen. Wir lassen Menschen frei, wenn Kyjiw die ukrainische Verfassung verändert, das Wasser des Dnipros über den Nordkrimkanal auf die Halbinsel leitet und eine Generalamnestie für Kriegsverbrecher im Donbas gewährt. Die Menschen sind ein Werkzeug, um beispielsweise die fünf Berkut-Angehörigen nach Russland auszuliefern, die wahrscheinich an den Erschießungen von Euromajdan-Aktivisten beteiligt waren, oder um Wolodymyr Tsemach freizulassen, einen wichtigen Zeugen des Abschusses des MH17-Flugzeugs“, erläutert sie. Matwijtschukist ist davon überzeugt, dass Russland verstärkt weitere Menschen inhaftieren wird, um Druck auf die Ukraine auszuüben und seine Ziele zu erreichen.
Die Hizbut-Tahrir-Fälle
Russland verfolgt eine erhebliche Anzahl von Krimtataren in den sogenannten Hizbut-Tahrir-Strafverfahren (HuT-Fälle). HuT ist eine transnationale islamistische Bewegung, die 1953 durch den palästinensischen islamischen Religionsgelehrten Nabhānī gegründet wurde und für die Errichtung eines Kalifats kämpft. Seit 1999 gehört sie zu den Hauptakteuren des islamischen Radikalismus.
In den arabischen Ländern, in Indonesien und Malaysia, in der Türkei und auch in Deutschland ist sie mit einem Betätigungsverbot belegt. Hauptdoktrin ist die Rückkehr der Muslime zu einem auf der Scharia basierenden Lebensstil. HuT wurde in Deutschland 2003 vom Bundesinnenministerium verboten, weil die Organisation den demokratischen Rechtsstaat ablehnt. Deren Anhänger äußerte sich zudem öffentlich antisemitisch.
Am 14. Februar 2003 wurde diese religiöse Bewegung auch vom Obersten Gerichtshof Russlands als terroristische Vereinigung eingestuft. In der Ukraine ist die HuT hingegen in ihrer Tätigkeit nicht eingeschränkt.
Allen ukrainischen Bürgern wurde zum Zeitpunkt der Besatzung der Halbinsel Krim die russische Staatsbürgerschaft auferlegt. Zusätzlich wurde die Krim als Teilrepublik in die Russischen Föderation eingegliedert, und die russischen Anti-Terror- und Anti-Extremismus-Gesetze werden auf der Krim unmittelbar angewendet. Dies ist gemäß Artikel 64 der Genfer Konvention zum Schutz von Zivilisten während eines Krieges völkerrechtlich verboten. Russland muss also weiterhin die ukrainische Strafgesetzgebung auf der besetzten Halbinsel anwenden.
Terroristische und extremistische Fälle werden nach russischem Recht vor Militärgerichten verhandelt. Das zuständige Militärgericht befindet sich auch in Rostow am Don, wohin die politischen Gefangenen von der Krim aus überstellt werden. Das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte hat Russland darauf hingewiesen, dass es Russland nach der vierten Genfer Konvention, unabhängig von den Motiven, verboten ist, Bewohner des besetzten Gebiets über die Halbinsel hinaus zu verlegen. Ukrainische Menschenrechtsaktivisten sehen in einem solchen Vorgehen ein Kriegsverbrechen.
Während der Jahre der Besatzung leitete Russland Dutzende von HuT-Strafverfahren gegen Muslime ein. Allein 2020 führten russische Sicherheitskräfte mindestens 48 Hausdurchsuchungen im Rahmen religiöser oder politischer Verfolgung durch. Im gleichen Zeitraum wurden 69 Krim-Muslime inhaftiert. Zuletzt wurden am 17. Februar 2021 sieben Personen wegen angeblicher terroristischer Verdachtsmomente festgenommen. Im vergangenen Jahr verhängten russische Gerichte in solchen Verfahren 15 Haftstrafen, zehn davon mit einem Strafmaß von 12 bis 19 Jahren.
Tamila Taschajewa, zweite ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten auf der Krim stellt fest, dass Russland in den letzten drei Jahren damit begonnen hat, Menschenrechtler, Aktivisten und zivile Berichterstatter der Bürgerbewegung “Krymska Solidarnist” politisch zu verfolgen. Die Bürgerbewegung wurde von Familien politischer Gefangener, deren Anwälten und krimtatarischen Aktivisten ins Leben gerufen. Ihre Teilnehmer überwachen und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, bieten Rechtsbeistand und überwachen Gerichtsverfahren.
Russland beschneidet die Redefreiheit auf der Halbinsel und verschlechterte seine eigene Gesetzgebung, indem es unabhängigen Medien und Journalisten vor Ort unter Druck setzt oder deren Tätigkeit verbietet. Prorussische Medien verbreiten gleichzeitig eine angebliche Bedrohung durch Terrorismus auf der Halbinsel. Vor diesem Hintergrund ist die zivile Berichterstattung angestiegen. Engagierte Beobachter streamen in sozialen Medien Durchsuchungen und zivile Kundgebungen, welche die reale Situation auf der Krim deutlich besser wiedergeben.
„Unser Gewissen hat es einfach nicht zugelassen, sich von der Realität zu isolieren und gleichgültig zu bleiben“,sagt Mumine Salijewa, die Frau des inhaftierten zivilen Berichterstatters Sejran Salijew. „Wir hatten das Gefühl, dass die Spezialeinsatzkräfte eines Tages zu uns kommen würden. Sie sind, wie sie es immer machten, dann tatsächlich frühmorgens im Januar 2016 in unser Haus eingebrochen. Sie gaben keine Gründe für die Hausdurchsuchung an, zeigten keinen Gerichtsbeschluss, drehten alle Gegenstände im Haus auf der Suche nach Waffen um; sogar jede einzelne Seite von religiösen Kinderbüchern. Dann beschuldigten sie uns des Verstoßes gegen das russische Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. Wir wurden vor die Wahl gestellt, zu schweigen oder die Halbinsel zu verlassen. Wir blieben.”
Sechs Monate danach wurde Mumines Mann im Rahmen der zweiten Massendurchsuchungen in Rajon Bachtschyssaraj festgenommen und wegen Terrorismus angeklagt.
Derzeit hält Russland mindestens 44 Teilnehmer dieser Bürgerbewegung in Haft. Unter ihnen befinden sich die Menschenrechtsaktivisten Emir Usein Kuku, Server Mustafajew, die zivilen Berichterstatter Timur Ibrahimov, Marlen Asanow, Seyran Saliev, Ramzi Bekirov, Ruslan Suleymanov, Osman Arifmetov, Rustem Sheikhaliev, Ernes Ametov, Amet Suleymanov und Anhänger der Bewegung, welche Spenden an politische Häftlinge verteilten.
Crimean Human Rights Group betont, dass Russland das Recht der ukrainischen Bürger auf ein faires Verfahren verletzt. Es gibt keine Beweise, dass diese politischen Gefangenen der HuT angehören. Russland unterstellt dies immer wieder missbräuchlich und verurteilt sie zu hohen Gefängnisstrafen, die mit Terrorismusvorwürfen begründet werden. Diese Strafverfahren basieren auf den Aussagen geheimer Zeugen, Aufnahmen in den Moscheen und vermeintlichen Gutachten, erläutert Olha Skrypnyk.
„Wenn man das Unterlagenkonvolut der Strafverfahren liest und die Gerichtssitzungen verfolgt, wird klar, dass die russischen Ermittler die Beteiligung von Menschen in den Hizbut-Tahrir-Strafverfahren nicht nachweisen können. Das Äußerste, was diese Verfahren enthalten, ist ihre Beziehung zum Islam als Religion. Nichts ist von dem Dargelegten ist verboten. Nur die Glaubensrichtung dient als Rechtfertigung. Als Beweise legen die Ermittler heimlich aufgenommene Gespräche zu religiösen Themen vor, in welchen die Angeschuldigten keine Gespräche zur Vorbereitung von Terroranschlägen führen“, erklärt die Menschenrechtsaktivistin.
Anwälte von Kreml-Häftlingen und Menschenrechtsverteidiger merken immer wieder an, dass russische Ermittler in den HuT-Fällen überwiegend FSB-Offiziere als geheime Zeugen einsetzen. Ihre Identität und Namen sind immer verschleiert.
„Am 18. Februar 2021 beantwortete ein geheimer Zeuge in einer Sitzung des Südlichen Bezirksgerichts in Rostow am Don alle Fragen des Staatsanwalts sehr konkret. Auf alle Fragen der Verteidigung erwiderte er immer: ‚Ich erinnere mich nicht.‘ Auch konnte er die Moschee nicht beschreiben, in welcher er nach eigenen Aussagen jede Woche über mehrere Jahre hinweg gebetet haben will und wo er HuT-Veranstaltungen beobachtet haben wollte“, sagt Lilya Gemedschi, eine Anwältin mehrerer politischer Gefangener. Beweise, die von den Verteidigern vorgebracht werden, finden keine richterliche Beachtung. Außerdem werden Gerichtsgutachten regelmäßig mit dem russischen Geheimdienst in Verbindung gebracht.“
Lilya Gemeschi
Für Russland ist es nach Olha Skrypnyks Meinung wichtig, die Zivilgesellschaft auf der Krim zum Schweigen zu bringen.
„Russland zielt darauf ab, diejenigen ‚zu bändigen‘, welche die Menschen zusammenbringen können. Oleg Sentsow ist das beste Beispiel, oder die 66-jährige Halina Dowhopola, die zu 12 Jahren Haft für angebliche Spionage verurteilt wurde. Solche Menschen stellen eine Bedrohung für die Russische Föderation dar. Während der Ereignisse im Frühjahr 2014 waren Krimbewohner an den friedlichen Protesten beteiligt, sie bildeten Menschenketten gegen die Besetzung der Halbinsel. Es gab viele solche gewaltlosen Proteste“, sagt Olha Skrypnyk.
Russland wirft selbst Menschen mit Behinderungen Terrorismus vor. So verhaftete der FSB am 7. Juni 2020 den blinden 36-jährigen Oleksandr Sizikow nach einer Durchsuchung des Hauses seiner Freunde im Rajon Bachtschyssaraj. Nach einem Unfall im Jahre 2009 verlor dieser seine Sehkraft und wurde seitdem von den Dorfbewohnern und dem Imam Edem Smajilow im täglichen Leben unterstützt, bis zu dessen mit Terrorismusvorwürfen begründeter Festnahme durch den FSB im Jahr 2018. Sizikow wurde als Kontaktperson gleich mit verhaftet.
Sizikow akzeptierte die Verhaftung seines Imams nicht, er führte mit Hilfe von zwei Rentnerinnen im April 2019 und im Mai 2020 Protestaktionen während der Gerichtssitzungen durch. Bei der Hausdurchsuchung beschlagnahmten FSB-Angestellte Sizikows Handy, sodass er seinen Anwalt nicht kontaktieren konnte.
Der russische Geheimdienst unterstellt, dass Sizikow eine HuT-Terrorzelle im Jahr 2015 gegründet hat und Alim Sufjanow und Sejran Hejretdinow zu ihren Mitgliedern zählen. Als Beweis für Sizikows Schuld verweist der FSB auf in Russland und auf der Krim verbotene Schriften der religiösen Bewegung, die bei der Hausdurchsuchung gefunden wurden. Merkwürdig erscheint, dass die vermeintlich aufgefundenen Schriften nicht in Brailleschrift gedruckt sind.
Das Gericht des Kyjiwer Bezirks in Simferopol entschied Sizikow einen Hausarrest aufzuerlegen.
„Das Gericht sah allerdings keinen Grund, ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen, da dies kein ordnungsgemäßes Verfahren gegen den Angeklagten gewährleisten und der Gleichheit privater und öffentlicher Interessen widersprechen würde.“, führte die Besatzungsrichterin Olga Kusnetsowa in ihrer Entscheidungsbegründung aus. Die “Richterin” verbot Sizikow die Korrespondenz, Telefonanrufe, den Zugang zum Internet sowie mit Ausnahme von Eltern und Ärzten den Empfang von Besuchern.
Ein weiteres Problem, für das politische Verfolgung aufgrund terroristischer Anschuldigungen sorgt, ist die Sperrung von Bankkonten. Gefangene mit Behinderungen und kinderreiche Familien, die in der Regel Sozialhilfe erhalten, sind davon besonders hart betroffen. So sind derzeit die Konten der Häftlinge Amet Sulejmanow, Dzhemil Hafarow, Timur Ibrahimow, Olexandr Sizikov und Zekirja Muratow gesperrt.
Der russische Geheimdienst beschuldigt auch den behinderten Krimbewohner Edem Bekirow der Übergabe von Sprengstoff und Munition im Gesamtgewicht von 14 kg im Mai 2018 an einen von Russland geheim gehaltenen Zeugen. Sein Rechtsanwalt Alexej Ladin schließt dies vollkommen aus. Bekirow wurde ein Bein amputiert, er leidet an schwerem Diabetes und hat erhebliche Probleme mit seiner Wirbelsäule. Während einer Herzoperation wurden ihm vier Stents eingesetzt. Der Angeklagte ist körperlich nicht in der Lage mehr als ein Kilogramm zu tragen.
„Seit acht Monaten wiederholt die russische Justiz, dass Bekirow für die Gesellschaft so gefährlich sei, dass er keinesfalls nur unter Hausarrest gestellt werden kann. Er befindet sich die ganze Zeit in Untersuchungshaft“, teilt Bekirows Verteidiger mit.
Russland hat EdemBekirow im September 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Dennoch betreibt das illegal eingesetzte „Zentrale Bezirksgericht“ in Simpferopol immer noch ein Strafverfahren gegen ihn. Dieser Fall wird auf vermeintlicher Aussage eines geheimen Zeugen geführt.
Rasije Ibrahimowa, die Ehefrau des Inhaftierten Ismet Ibrahimow, erinnert sich noch gut an die Hausdurchsuchung am 7. Juli 2020. Ihre Kinder zitterten am ganzen Leib und baten unentwegt auf die Toilette gehen zu dürfen. Die Temperatur ihrer erkrankten Tochter stieg während der Durchsuchung bis auf 40 Grad. Die Sicherheitskräfte ließen es dennoch nicht zu, sie zu den Nachbarn zu bringen. Seit dieser traumatischen Situation isst sie viel und beklagt, dass sie ständig Hunger verspürt. Die jüngste Tochter hingegen verlor 5 kg innerhalb von zwei Monaten.
Die Kinder der ukrainischen Kreml-Häftlinge leiden erheblich unter der politischen Verfolgung ihrer Eltern. Laut der Bürgerinitiative „Krim-Kindheit“ gibt es 191 Minderjährigen auf der Krim, die ohne elterliche Betreuung aufwachsen müssen.
Im Juli 2020 verstörte der Tod des dreijährigen Sohnes des Häftlings Ruslan Sulejmanow die Ukraine. Musa spielte am Haus und blieb für etwa 15 Minuten lang von Erwachsenen unbeaufsichtigt, weil die kranke Großmutter väterlicherseits seine Mutter zu sich rief. Zwei Tage lang wurde der Junge intensiv im Dorf Strohaniwka in der Nähe von Simferopol gesucht. Letzten Endes wurde er in einer Kläranlage ertrunken aufgefunden.
Der Leiter des Krimtataren-Ressourcenzentrums Eskender Barijew macht Russland für den Kindstod verantwortlich. Der Ermittler Sergej Machnew erlaubte Ruslan Sulejmanow übrigens nicht, an der Beerdigung seines Sohnes teilzunehmen. Das Oberste Besatzungsgericht der Krim lehnte es ab, die Handlungen des Ermittlers als rechtswidrig anzuerkennen.
Menschenrechtsaktivisten weisen darauf hin, dass eine Reihe von Hausdurchsuchungen und damit einhergehende Verhaftungen bei den Kindern schwere traumatische Störungen hervorgerufen haben. Nicht wenige der Kinder brauchen eine angemessene medizinische Versorgung und psychologische Behandlung. Krim-Aktivisten haben die ukrainischen Behörden wiederholt aufgefordert, diesen Kindern professionelle Hilfe zukommen zu lassen.
Nach einem weiteren HuT-Gerichtsurteil am 3. November 2020 meldete sich Serhij Aksenow zu Wort, der Kreml-Kurator auf der Krim. Er empörte sich, dass sich zahlreiche Krimtataren auf den Weg zur Gerichtsverhandlung im russischen Rostow am Don machten. Die Zugehörigkeit zur HuT, die darauf abziele, ein Weltkalifat aufzubauen, verstoße gegen die russischen Gesetze und unterstütze den Terrorismus, betonte Aksenow.
„Ich bin überzeugt, dass unsere Strafverfolgungsbeamten die Dinge in Ordnung bringen und die notwendigen Entscheidungen im Rahmen der Gesetzgebung treffen werden. Ich rate den HuT-Anhängern dringend, die Ideen aufzugeben, welche diese terroristische Sekte predigt und hinter der Religion verschleiert. Wendet euch den wahren religiösen und moralischen Werten zu“, schrieb Aksenow in einem Facebook-Post.
Russische und auch ukrainische Menschenrechtsaktivisten sehen dies deutlich differenzierter. Das russische Menschenrechtszentrum „Memorial“ weist darauf hin, dass sowohl die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über das Verbot der Organisation als auch die Strafverfahren auf der Krim in Russland und den GUS-Staaten keine Fakten über eine terroristische Tätigkeit von HuT in diesen Gebieten enthalten. Es gibt auch keine Daten über die Beteiligung der Partei an dschihadistischen Gruppen in Europa oder im Nahen Osten. Russische Menschenrechtsaktivisten stellen fest, dass diese Organisation legal in meisten Demokratien Nordamerikas und Westeuropas tätig ist. Dortige Strafverfolgungsbehörden initiieren keine Gerichtsprozesse wegen Zugehörigkeit zu HuT.
An den Vorabenden der Urteilsverkündungen in den HuT-Fällen im Jahr 2020 begann Russland Reisende über die Krim-Brücke auszusortieren. “Polizisten” verboten damals reisenden Krimtataren die Halbinsel zu verlassen, um sie an der Teilnahme an den Gerichtsverhandlungen zu hindern. Der russische Anwalt Nikolaj Polozow reagiert emotional auf das diskriminierende Verhalten der Sicherheitskräfte.
Die Sicherheitskräfte haben 120 Krim-Aktivisten vor der Kertsch-Brücke in der Nacht vom 12. Januar 2021 versperrten, um ihre aufs russische Festland zu hindern.
“Über solche Maßnahmen habe ich das letzte Mal in verschiedenen Publikationen gelesen, dabei ging es um die Diskriminierungspraktiken gegen Juden und andere ‚unzuverlässige‘ Nationalitäten und soziale Gruppen in Nazi-Deutschland. Jetzt wird dieser Ansatz von den Behörden der Russischen Föderation offen praktiziert“, ärgerte er sich, nachdem die russische Polizei am Abend des 11. Januar 2020 Krimtataren festgenommen hatte.
Die russischen Behörden verhindern nicht nur die Berichterstattung über politische Verfolgung auf der Krim, sondern auch jede Art kritischer Äußerungen dazu. Oftmals bestrafen die “Polizeibeamten” administrativ die Verwandten der politischen Gefangenen für Einzelproteste gegen Gerichtsurteile, wie mit Seweli Oselowa, Mustafa Sejdalijev, Wenera Mustafajewa, Delichab Chairowa, Zurije Emerusejinowa, Abdulhanijewa Emine, Еlwina Usejinowa und Fera Abdullajewa geschehen.
Einzelprotest von Zuri Emiruseinowa, der Mutter des Angeklagten „Hizb ut-Tahrir“ Rustem Emiruseinov am 31. Oktober 2020
Darüber hinaus besuchen Sicherheitskräfte der Besatzer regelmäßig Aktivisten und erteilen ihnen schriftliche Mahnungen der “Staatsanwaltschaft” und der “Stadtverwaltungen“. Es ist bekannt, dass Krimtataren gegen Hausdurchsuchungen und politisch motivierte Verhaftungen protestieren. In solchen Mahnschreiben werden sie vor der Unzulässigkeit der Verletzung extremistischer Artikel des russischen Strafgesetzbuches gewarnt. 2020 erteilten die De-facto-Behörden mindestens 46 solcher schriftlichen Mahnungen. Solche Warnungen wurden aktiv von der “Polizei” auch nach den morgendlichen Hausdurchsuchungen in Simferopol, Bachtschisaray und Bilogirsk am 17. Februar 2020 erteilt.
Crimean Human Rights Group zufolge gab es insgesamt 410 behördliche Protokolle der „Polizei“ als administrative Strafe für die Teilnahme an friedlichen Versammlungen seit der Besatzung. Von diesen enthielten 344 Menschen Geldstrafen in Höhe von insgesamt 4.140.000 Rubel (45.509 Euro). 21 Protokolle verpflichteten die Protestierenden zur Zwangsarbeit von 20 bis 40 Stunden (insgesamt 500 Stunden). Mit 45 Entscheidungen wurden Krimbewohner in eine Ordnungshaft von ein bis 15 Tagen (insgesamt 243 Tage) verbracht.
Punktuell veröffentlichte die EU nach Urteilen in HuT-Fällen Erklärungen, in denen sie die politische Verfolgung durch Russland verurteilt. So auch im September 2020, als das Militärgericht in Rostow am Don die Angeklagten des sogenannten Bachtschyssaraj-Falles zu Haftstrafen von 13 bis zu 19 Jahren verurteilte. Nach solchen Äußerungen der EU zeigt sich Russland verärgert und setzt seine Verfolgungspolitik gegen die Krimtataren als „Terroristen“ dennoch fort.
„Die politischen Ansichten der Teilnehmer der Organisation, Nationalität und Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen haben nichts mit dem Gerichtsurteil zu tun, wie es Brüssel versucht zu schildern. Das sind nicht die ersten gefährlichen Versuche unserer westlichen Partner, die Terroristen in schlechte und gute oder gemäßigte aufzuteilen. Die tragischen Folgen solcher Versuche sind den EU-Bürgern bekannt, die den Schreck der Terroranschläge erlebten“, erwiderte damals die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa.Sie wies darauf hin, dass HuT in Deutschland seit 2003 verboten ist.
Maria Sacharowa
„Deutschland hat immer sein unerschütterliches Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit erklärt, daher möchte ich die Einschätzung Berlins zu den Versuchen der EU-Diplomatie hören, die diese terroristische Struktur mit einer politischen gleichsetzen. Oder, wenn es um Angriffe auf Russland angeht, können Sie die Augen vor Verstößen gegen das Gesetz verschließen?“, fragte sie weiter.
Die Pressestelle des Auswärtigen Amtes in Berlin verzichtete darauf Sacharowas Vorwürfe zu kommentieren. Auf Anfrage von ZMINA betonte das Auswärtige Amt, dass Deutschland die EU-Erklärung vom 16. September 2020 unterstütze. Brüssel unterstreicht, dass die EU die Anwendung der russischen Gesetzgebung auf der Krim und die Überstellung ukrainischer Bürger von der Krim an Gerichte in Russland nicht anerkennt. Die EU hat Russland stets aufgefordert, diese Entscheidungen außer Kraft zu setzen und alle illegal inhaftierten Ukrainer freizulassen.
Zum zweiten Teil geht es hier.
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