„Wie ich zur Vertriebenen wurde“
Oksana Mikheieva ist Soziologie-Professorin an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw. Derzeit ist sie Gastdozentin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). In unserer Reihe „Fluchtgeschichten“ erzählt sie, wie sie ihre Heimatstadt Donezk verlassen musste.
30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit sind ein Grund zum Feiern. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass Krieg und Besetzung in Teilen des Landes weitergehen. Seit nunmehr sieben Jahren gibt es knapp 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine, deren Hoffnung, in ihre Heimatregion zurückzukehren, stetig schwindet. Ukraine verstehen veröffentlicht deshalb ausgewählte Essays von Geflüchteten, die an die Ereignisse von 2014 erinnern.
Wir alle spürten schon im April 2014, dass der Krieg kommen würde. Auf den Straßen der Stadt tauchten mehr und mehr Fremde auf. Sie liefen umher und machten Fotos von Gebäuden. Donezk ist keine touristische Stadt, weshalb solches Verhalten ungewöhnlich ist. Gleichzeitig begann eine Informationskampagne, die darauf abzielte, Feindseligkeit zu sähen. Zum Beispiel wurden Gerüchte verbreitet, dass gewalttätige Nationalisten aus der Westukraine anreisen würden. Die Angst wuchs und die Gesellschaft wurde zunehmend polarisiert.
Gegen Ende Mai und Anfang Juni waren viele unserer Studierenden von ihren Familien abgeschnitten. Sie kamen aus anderen Teilen der Oblast Donezk. Einige konnten nicht mehr zu Lehrveranstaltungen kommen, weil ihre Heimatorte im Kampfgebiet lagen. Die Staatliche Donezker Universität für Management entschied, das akademische Jahr früher als sonst zu beenden und den Studierenden Papiere auszustellen, mit denen sie sich an anderen Hochschulen einschreiben könnten. Das Lehrpersonal war nur noch zwölf Stunden pro Woche an der Universität. Meine Universität befand sich genau in der Mitte des Wegs zwischen dem besetzten Regionalregierungsgebäude und dem Rathaus.
Im Mai steigerte sich die Konfrontation zwischen den pro-russisch und pro-ukrainisch eingestellten Bevölkerungsteilen. Erstmals erschienen Bewaffnete und militärisches Gerät auf den Straßen. In so einer Lage verstehst man erst einmal nicht, was vor sich geht. Die Realität scheint absurd und man kann nicht glauben, dass das wirklich passiert beziehungsweise überhaupt möglich ist.
Als wir die Stadt noch verlassen konnten, fuhren wir einmal durch einen Checkpoint und ich sah, wie ein Mann erschossen wurde. Es sind nur ein paar Sekunden, bis dein Auto weiterfährt. Und dein Bewusstsein weigert sich, die Realität zu akzeptieren.
Unsere Studenten gingen immer noch in die Universität, aber sie waren völlig verstört. Auf der Straße versuchte man sie für den bewaffneten Kampf anzuwerben, lediglich gegen Vorlage einer Passkopie und einer Telefonnummer. Junge Männer wurden von der Straße geholt, um Schützengräben auszuheben.
Am 4. Juni erhielt mein ältester Sohn, der zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt war, seinen Bachelor-Abschluss in Geschichte. Er wurde in Donezk geboren, liebte die Stadt und wollte sie nicht verlassen. Der Bahnhof von Donezk ist nicht weit vom Flughafen. Auf dem Flughafengelände wurde gekämpft. Ich erinnere mich an jedes Detail. Mein Sohn saß bereits im Zug. Ich stand auf dem leeren Gleis, auf dem bewaffnete Männer herumliefen, ich hörte die Explosionen auf dem Flughafen und in meinem Kopf gab es nur einen einzigen Gedanken: Hoffentlich lassen sie diesen Zug raus, hoffentlich lassen sie meinen Sohn gehen. Es war der letzte Zug aus Donezk. Danach wurde der Bahnhof geschlossen. Geschosse schlugen in das Gebäude ein.
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse erkrankte meine Mutter an einem Gehirntumor. Es lagen bereits Verwundete in den Krankenhäusern, aber die Ärzte willigten ein, sie zu operieren. Ich verbrachte mehrere Tage mit ihr in der Neurochirurgie, die von bewaffneten Männern besetzt war. Ich musste rund um die Uhr bei ihr sein. Mein Mann ging währenddessen weiterhin in einem Stadtbezirk zur Arbeit, wo gekämpft wurde. Mein jüngster Sohn war im Kindergarten. Er war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Ich hatte Angst um ihn, weil in den Straßen geschossen wurde.
Das Verrückte ist, dass es unmöglich war, zu glauben, was da vor den eigenen Augen passierte. Die Menschen taten so, als sähen sie die Bewaffneten nicht. Sie versuchten ihr Bestes, so zu tun, als sei alles wie immer. Noch an meinem letzten Tag in Donezk sah ich, wie Angestellte der Stadtverwaltung in zerbombten Bezirken Blumen auf Grünflächen pflanzten.
Meine Freunde aus Lwiw, Dr. Viktoria Sereda und ihr Ehemann Ostap Sereda, boten Hilfe an und erklärten sich bereit, meinen jüngsten Sohn bei sich aufzunehmen. Das war eine sehr schwierige Entscheidung für uns. Wir waren seit mehr als 20 Jahren befreundet. Als ich meinen Sohn zu ihnen schickte, war mir klar, dass ich sterben könnte. Und mir war bewusst, dass dann die Erziehung meines Sohnes ihnen zufallen würde.
Das war eine der schrecklichsten Entscheidungen, die ich je treffen musste. Nachdem wir wieder zusammen waren, verlor mein Sohn ein Jahr lang kein Wort über den Krieg, Donezk oder unser Leben dort. Zudem wurde er mit allen Facetten des Mobbings einer Gesellschaft konfrontiert, die in ihm „eine Person aus Donezk“ und einen „Feind“ sah. Damals sagte ich oft, dass ich wohl verrückt würde, wenn ich keine Soziologin wäre.
Mein Mann und ich blieben mit unseren Eltern in Donezk. In unserem Bezirk blieb es mehr oder weniger friedlich. Das ist eine weitere überraschende Entdeckung des Krieges für mich. In einem Teil der Stadt gibt es Kämpfe und Menschen sterben, während das Leben im anderen Teil ganz normal weitergeht. Wir haben alle gesehen, wie bewaffnete Männer Autos beschlagnahmen. Wie bewaffnete Männer Menschen auf der Straße festnehmen und wegbringen. Und du bist machtlos gegen bewaffnete Männer. Zu dieser Zeit blühte eine besondere Form des Menschenhandels in Donezk. Eine Art Kriegsgeschäft. Junge Menschen wurden wegen erfundenen Vergehen verhaftet und nur gegen Bezahlung ihren Eltern zurückgegeben. Ich persönlich kenne Menschen, die ihre Kinder freikaufen mussten. Der Preis für eine Person betrug damals 3.000 bis 4.000 Dollar. Später ist diese Summe deutlich gestiegen.
Im Juni stellte die Ukraine unsere Gehaltszahlungen ein. Ich gab mein ganzes Geld für die Operation und Behandlung meiner Mutter aus. Es war nicht länger möglich, Donezk per Zug zu verlassen. Die letzte Möglichkeit war, privaten Fahrern eine große Summe zu zahlen, die bereit waren, Menschen herauszubringen. Aber ich hatte kein Geld mehr, weder für einen Umzug noch um in einer anderen Stadt eine neue Wohnung zu mieten. In dieser Situation rettete mich eine Freundin aus Moskau – Ksenija Roschdestwenskaja. Sie ließ mir Geld über einen Bankangestellten zukommen, den sie kannte. Die Banken in Donezk waren zu dem Zeitpunkt bereits geschlossen. Ich ging zur Filiale, die Tür wurde geöffnet, man ließ mich ein, händigte mir das Geld aus und setzte mich sofort wieder auf die Straße.
Wir haben Donezk alle zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedene Himmelsrichtungen verlassen. Ein Freund meines ältesten Sohnes fuhr mich durch die Checkpoints. So war es mir möglich, per Zug abzureisen. Ich erinnere mich, wie die drei anderen Personen in meinem Abteil und ich mucksmäuschenstill verharrten, bis wir die Grenzen der Oblast Donezk hinter uns gelassen hatten. Erst dann konnten wir aufatmen und ein Gespräch beginnen.
Ich hatte echte Freunde, die mir geholfen haben. Es ist sehr schwer, selbst Hilfe anzunehmen. Ich war immer diejenige, die stark war und anderen half. Und es war unglaublich schwierig für mich, selbst Hilfe anzunehmen. Doch das gehört zu den Dingen, die ich gelernt habe – wir dürfen uns nicht überschätzen und müssen verstehen, dass eine solche Situation eintreten kann. Wenn wir schwach sind, haben wir das Recht um Hilfe zu bitten.
Ich habe außerdem gelernt, nicht darauf zu achten, wie ein Mensch gekleidet ist. Wie viele andere Vertriebene haben wir fast alle unsere persönlichen Dinge zurückgelassen. Ich musste die Miete für meine Wohnung zahlen. Ich konnte mir keine Kleider leisten und trug das, was mir meine Freunde gaben. Für Außenstehende muss ich lächerlich ausgesehen haben, als hätte ich keinen Geschmack.
Und ich habe gelernt, Menschen zu verstehen, die ihr Gesicht verziehen, wenn sie sehen, dass mein Pass in Donezk ausgestellt ist. Auch sie brauchten Zeit, um mit der neuen Situation fertig zu werden. Sie mussten mich erst näher kennenlernen, um ihre Stereotypen zu überwinden.
Und ich weiß immer noch nicht, was ich auf die Frage „Woher kommst du?“ antworten soll. Ich bin seit beinahe sieben Jahren nicht mehr zuhause gewesen. Mir unbekannte Menschen leben jetzt in meiner Wohnung. Und ich habe keine Fotos aus meiner Kindheit mehr.
Und ich weiß, dass meine Geschichte nicht einzigartig ist. Es ist eine von Millionen.
Ich teile meine Geschichte nur selten mit anderen, weil ich sie selbst kaum glauben kann. Sie enthält sehr viel Schmerz, aber auch einen neuen, durch das Leben gestärkten Glauben an die Menschen und an ein Wunder.
Meinen Studierenden gewidmet, die mich motiviert haben, über meine Erlebnisse zu schreiben.
Übersetzung aus dem Englischen von Dario Planert.
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