Luhansk im Sommer und Herbst 2014: Furcht und Ohnmacht
Das Kriegsjahr 2014 war in Luhansk besonders schlimm. Quer durch das Stadtgebiet lieferten sich ukrainische Regierungstruppen Artilleriegfechte mit russisch-kontrollierten Separatisten. Für unsere Reihe „Fluchtgeschichten“ hat die 40-jährige Hanna (*), die mittlerweile in Kyjiw lebt, ihre Erinnerungen aufgeschrieben.
30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit sind ein Grund zum Feiern. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass Krieg und Besetzung in Teilen des Landes weitergehen. Seit nunmehr sieben Jahren gibt es knapp 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine, deren Hoffnung, in ihre Heimatregion zurückzukehren, stetig schwindet. Ukraine verstehen veröffentlicht deshalb ausgewählte Essays von Geflüchteten, die an die Ereignisse von 2014 erinnern.
Alles, was an jenem Tag passierte, glich einem Film, den du dir anschaust, ohne selbst an den Ereignissen teilzunehmen.
Im Juli 2014 war ich auf einer längeren Dienstreise in der zentralukrainischen Stadt Kropywnyzkyj. Mehrmals täglich rief ich bei meiner Familie an und bestand darauf, dass sie die Stadt verließen. Mein Vater lehnte das kategorisch ab. Er hielt dagegen, dass wir unser Leben dort nicht zurücklassen könnten, und dass dort, wo wir wohnten, schon nichts passieren würde. Es war merkwürdigerweise tatsächlich so, dass in unserem Stadtbezirk nichts Schlimmes passierte.
Ich entschied mich also, nach Luhansk zurückzukehren und meine Eltern zu überreden, die Stadt zu verlassen. Das war am 17. Juli. Vom Bahnhof nahm ich zusammen mit einer Kollegin ein Taxi. Der Fahrer roch nach Alkohol. Als wir das ihm gegenüber bemerkten, antwortete er: „Man merkt sofort, dass ihr eine Weile nicht mehr hier wart, Mädels“. Die Stadt war menschenleer. Auf den Straßen waren nur wenig Fahrzeuge unterwegs. Das war sehr ungewöhnlich und auch unangenehm. Es war, als würde hinter den Kulissen etwas vor sich gehen, dass man nicht genau verstand. Wir hörten Sirenengeheul, das uns Angst einjagte. Der Fahrer beschleunigte.
Als wir zuhause ankamen, beruhigte ich mich und wartete auf meine Eltern. Sie fuhren nach wie vor zur Arbeit. Als wir uns abends trafen, fing ich an, sie darüber auszufragen, was hier vor sich ginge, was man so höre. Die folgende Nacht war unruhig. Ich lauschte permanent in die Dunkelheit, ohne genau zu wissen, welche Geräusche ich hören wollte.
Am nächsten Tag, am 18. Juli, fuhren meine Eltern wie gewohnt zur Arbeit und ich blieb zuhause. Freunde aus anderen Städten riefen mich an und fragten, wie die Situation in der Stadt sei. Ich antwortete ihnen, dass bisher alles in Ordnung sei. Gegen 11 Uhr morgens hörte ich Lärm, der an Donner erinnerte. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Mir wurde klar, dass das Gefechtsfeuer war. Woher es kam, war schwer zu sagen. Ich wollte meine Eltern anrufen, aber die Verbindung war weg. Ich lief auf den Balkon und sah, wie Menschen in unseren Hof rannten und eine Art Kanone mit sich schleppten. Mir kam zuerst in den Sinn, dass sie schießen würden, um Gegenfeuer auf das Wohnviertel zu provozieren. Ich lief ins Badezimmer, setzte mich auf den Boden und wartete. Ich hatte irgendwo gehört, dass es dort sicherer sein soll. Sie begannen zu schießen. Es war schrecklich. Ich hielt den Atem an.
Das Internet funktionierte, also rief ich eine Freundin per Skype an, um wenigstens mit irgendjemandem reden zu können. Sie kaufte uns Zugtickets nach Kyjiw, damit wir noch am selben Tag fahren könnten. In unserem Bezirk wurde es stiller. Der Geruch von Rauch breitete sich aus. Der Lärm war nun weiter entfernt. Einige Stunden später kamen meine Eltern völlig verschreckt von der Arbeit wieder. Man hatte den Betrieb neben ihrer Arbeitsstelle beschossen. Ich schrie sie nur noch an, dass wir schnellstmöglich die Stadt verlassen müssten. Wir packten unsere Sachen zusammen und riefen ein Taxi. Am Telefon fragte man uns, ob wir den Verstand verloren hätten, dass doch gerade in diesem Moment die Stadt beschossen werde. Da entschied mein Vater, selbst mit dem Auto zu fahren. Wir fuhren los, und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Salven von „Grad“-Raketen flogen direkt über unsere Köpfe hinweg. Dieser Anblick war so schrecklich, dass ich mir einfach nur die Ohren zuhalten und rennen wollte. Wir sprangen aus dem Auto und warfen uns instinktiv auf die Erde. Von irgendwoher drang Geschrei. Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange dieser Moment dauerte, aber ich empfand solche Angst wie noch nie zuvor in meinem Leben. Nachdem das Feuer über unseren Köpfen geendet hatte, liefen wir zurück zum Fahrzeug und fuhren schweigend zum Bahnhof. Die Straßen waren wie leergefegt. Menschen liefen zu Fuß mit Koffern, Kindern und Tieren zum Bahnhof.
Am Bahnhof drängten sich viele Menschen. Alle warteten auf Züge, um die Stadt zu verlassen. Der Bahnhof befindet sich in dem Teil der Stadt, durch den die Straße in Richtung Schtschastja verläuft. Dort befanden sich ukrainische Armeeeinheiten, aus deren Richtung Kampfgeräusche zu hören waren. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich schon nicht mehr, was und wie uns geschah.
Ich bin Anfang Herbst in die Stadt zurückgekehrt. Es war nicht mehr das Luhansk, das ich kannte.
Ab dem 3. August 2014 waren Strom- und Wasserversorgung, Internet und das Mobilfunknetz abgeschnitten und alle Verkehrswege waren blockiert. Wasser besorgten sich die Menschen aus Bohrlöchern oder, wie meine Familie, bei der Autowaschanlage. Die Schlangen waren so lang, dass man bis zu sieben Stunden warten musste. Strom gab es nicht, was besonders hart für die Bewohner von elektrisch geheizten Häusern war. Die Menschen kochten ihr Essen über offenem Feuer in den Höfen, organisierten sich in Gruppen und kochten für mehrere Familien gleichzeitig. Sie überlebten dank angesparter Vorräte. Die Arbeit in der Stadt stand völlig still. Lebensmittel wurden nicht mehr hergestellt, Benzin auch nicht. Die Bevölkerung ging entweder zu Fuß oder fuhr Fahrrad. Feuerwehr und Rettungswägen blieben in Betrieb, doch es gab zu wenig davon.
In den Krankenhäusern herrschte Personalmangel. Als mein Vater ins Krankenhaus kam, blieb die Familie rund um die Uhr bei ihm, weil es nicht genug qualifiziertes Personal gab, dass sich um ihn kümmern konnte. Auch Ärzte gab es nicht. In die Stadt kam man nur noch, in dem man bei Stanyzja Luhanska durch die Wälder fuhr. Private Personenbeförderer boten ihre Dienste an und riskierten dabei auf eine Mine zu fahren oder unter Feuer zu geraten. Deswegen waren ihre Preise sehr hoch. Als die Stadt schließlich vollends zerstört wurde, stellten auch sie ihre Fahrten ein.
Auf den Straßen schwirrten Kämpfer auf gepanzerten Fahrzeugen und anderer Kriegstechnik umher. Ihre Formationen bestanden vor allem aus lokalen Außenseitern – Drogenabhängigen oder Kriminellen. Das waren keine professionellen Kämpfer. Es waren aber auch Kämpfer anwesend, die der Herkunft nach kaukasisch wirkten, vermutlich aus Tschetschenien. Ich sah besonders viele von ihnen, als ich bei meinem Vater im Krankenhaus weilte. Mehrere Etagen der Klinik waren zum Lazarett umfunktioniert worden. Ständig wurden Verwundete gebracht und Zivilisten war der Aufenthalt auf diesen Etagen verboten. Sie wurden bewacht.
Die Stadt wurde zunehmend fremder und gefährlicher. Es wurde eine Sperrstunde von 22:00 bis 07:00 Uhr eingeführt. Doch auf den Straßen war weit und breit kein Mensch zu sehen. Man hatte auch tagsüber Angst sich dort aufzuhalten, denn die eigene Wehrlosigkeit war jederzeit spürbar. Die Macht hat immer der mit der Waffe. Und Waffen gab man Menschen, die sich unanständig benahmen.
Die Stromversorgung ging gegen Ende Herbst wieder in Betrieb. Der Mangel an Lebensmitteln und Ärzten blieb. Nach Luhansk kam man nur noch über Russland. Dadurch ist eine merkwürdige Situation entstanden: die russischen Grenzwächter wissen, dass es keine legale Grenze mit der Ukraine gibt, und lassen die Menschen trotzdem einfach passieren. So läuft das bis heute.
(*) Aus Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit nennen wir den Familiennamen der Autorin nicht. Übersetzung aus dem Ukrainischen von Dario Planert.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.