„Die Front ist mein neues Zuhause“
Julia Krasilnykowa ist Chefin des Verwaltungsrats der Hilfsorganisation Wostok SOS. Sie ist vor sieben Jahren aus Luhansk weggegangen und könnte sich nicht vorstellen, einer Tätigkeit nachzugehen, die nicht mit der Ostukraine verbunden ist. Für unsere Reihe „Fluchtgeschichten“ berichtet sie, wie sie seitdem neue Heimatorte gefunden hat.
30 Jahre ukrainische Unabhängigkeit sind ein Grund zum Feiern. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, dass Krieg und Besetzung in Teilen des Landes weitergehen. Seit nunmehr sieben Jahren gibt es knapp 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine, deren Hoffnung, in ihre Heimatregion zurückzukehren, stetig schwindet. Ukraine verstehen veröffentlicht deshalb ausgewählte Essays von Geflüchteten, die an die Ereignisse von 2014 erinnern.
Ich komme ursprünglich aus Dowschansk in der Oblast Luhansk, die an Russland grenzt. Heutzutage ist das besetztes Gebiet. Vor der Besetzung habe ich sieben Jahre lang in Luhansk gelebt, studiert und gearbeitet. Das erste Ereignis, das mein Leben in ein „davor“ und „danach“ geteilt hat, war der Euromaidan.
Vor dem Maidan arbeitete ich beim Menschenrechtscenter „Postup“. Ich schreibe bewusst „vor“, denn während jener Ereignisse war jede Lohnarbeit zweitrangig. Das alte Gebäude, das als Büro von „Postup“ diente, wurde schnell zum Hauptquartier des Luhansker Maidan, ein Rückzugsort, an dem wir uns versammelten, um Plakate zu malen und zu planen. Nach der letzten Demonstration am 29. oder 30. April 2014 wurden die Gebäude mehrerer Behörden besetzt, darunter die Polizeizentrale, in der auch Waffen erbeutet wurden. Ein Teil des aktiven Euromaidans verließ die Stadt noch in dieser Nacht, denn es war allen klar, dass hier etwas ungeheures vor sich ging.
Ich war damals in Slowjansk, wo die Lage „am heißesten“ war. Nach meiner Rückkehr führten wir noch einige nächtliche Widerstandsaktionen durch, bei denen wir russische Flaggen mit den ukrainischen Farben übermalten. In der Nacht zum 9. Mai nahm ich zum letzten Mal an so einer Aktion teil. Wir waren in den frühen Morgenstunden dabei, die letzte Flagge zu übermalen, als uns ein prorussischer Aktivist über den Weg lief, der den Tag des Sieges am besetzten Gebäude des Geheimdienstes SBU gefeiert hatte. Wir diskutierten zwei Stunde lang mit ihm, während der er uns mehrmals drohte, die „Bürgerwehr“ zu rufen. Und dennoch fanden wir zu gemeinsamen Standpunkten. Mal fühlte er mit uns mit, pflichtete uns bei, mal äußerte er die üblichen Propagandaphrasen. Am Ende gingen wir friedlich auseinander, doch die Auswirkungen der Propaganda spürten wir nun umso stärker.
Innere Auflehnung gegen die Abreise und die erste Zeit am neuen Wohnort
Anfangs fiel es mir schwer zu akzeptieren, dass ich die Stadt verlassen müsste. Doch ich verstand, dass unsere Arbeit vor Ort nicht mehr effektiv war, und dass sie denjenigen zusätzliche Probleme bereitete, die von Fern helfen wollten. Ich wollte zunächst die Präsidentschaftswahl abwarten, die am 25.05.2014 stattfinden sollte. Als schließlich feststand, dass es hier keine Wahlen geben würde, besorgte ich mir ein Ticket, um nach dem sogenannten Referendum abreisen zu können. Es war mir wichtig zu spüren, dass ich vor Ort nichts mehr verändern könnte, sodass mir die Abreise leichter fiele.
Den Tag des „Referendums“ verbrachte ich mit Freunden außerhalb der Stadt. Nach unserer Rückkehr lasen wir die Nachrichten und stießen auf ein Video, auf dem zu sehen war, wie ein Maidan-Aktivist vor dem besetzten SBU-Gebäude gefangengenommen und gezwungen wurde, auf allen Vieren zu kriechen und Schweinelaute von sich zu geben.
Dieser Akt der Erniedrigung war der Wendepunkt. Nun war klar, dass ich in zwei Tagen fahren würde, und dass ich diese Entscheidung vor mir selbst rechtfertigen konnte. Mitte Mai fuhr ich nach Kyjiw. Alle meine engsten Verwandten kamen bis Ende des Sommers 2014 nach.
Wohin ich ziehen sollte, stand bereits fest. Ich hatte die Stadt verlassen, um von einem sicheren Ort aus auf die Lage einwirken zu können. Nach Kyjiw zog ein Großteil meiner Kollegen und Freunde, dort gab es Partnerorganisationen, Medien und Personen, die Entscheidungen trafen.
Eine Freundin lud mich für die erste Zeit zu sich nach Hause ein, wofür ich ihr unendlich dankbar bin. Das spendete uns ein wenig Ruhe und Stabilität in einer Zeit, in der unsere Projekte in Luhansk den Bach runtergingen, und wir nicht wussten, wie und wovon wir leben sollten. Die Gewissheit, sowohl eine Wohnung und ein Büro zur Verfügung zu haben, war mir in diesem Lebensabschnitt eine psychische Stütze. Das Gefühl hier angenommen zu werden, verlieh mir die Kraft, die ich brauchte, um meine Gedanken und inneren Ressourcen zu sammeln.
Schließlich gelang es uns mithilfe eines Projektes zur Unterstützung von Aktivisten zwei große Wohnungen anzumieten. In einer davon wohnten zu einem Zeitpunkt 16 Personen, darunter Eltern mit ihren Kindern, drei bis vier Personen pro Zimmer. Das stillte auch unser Bedürfnis nach Nähe zu Menschen, die das gleiche Schicksal teilten. Es war nicht die richtige Zeit, um mit sich allein zu bleiben. Man verlor leicht den Verstand.
Als sich langsam die Gewissheit verbreitete, dass die Lage sich in naher Zukunft nicht beruhigen und man sich neu orientieren musste, als das Grundbedürfnis nach Privatsphäre zurückkehrte (das erste halbe Jahr war dieses Bedürfnis nicht vorhanden), begannen die Bewohner nach und eine eigene Bleibe zu suchen.
Als ich eine Wohnung suchte, hörte ich nicht zuerst die Frage „Wer will einziehen?“, sondern „Wo gemeldet?“. Sonst waren die Probleme bei der Wohnungssuche immer dieselben gewesen: entweder ist die Familie nicht vollständig, oder es sind die Haustiere bzw. die Kinder. Und nun kam auch noch die Diskriminierung aufgrund der Herkunftsregion hinzu. Wie weise ich nach, dass ich aus der Ostukraine und dennoch „in Ordnung“ bin?
Die gemeinnützige Stiftung „Wostok SOS“ als untrennbarer Bestandteil meines Lebens
Die gemeinnützige Stiftung „Wostok SOS“ gründete sich noch in Luhansk in den ersten Maitagen des Jahres 2014, als Serhij Schadan mit dem Kunstfestival ArtPole in die Stadt kam. Eine Künstlertruppe aus jungen Menschen traf sich außerhalb von Luhansk, um sich darüber auszutauschen, was nun zu tun sei. Zu diesem Zeitpunkt hatte es noch keine Entführungen gegeben, aber Aktivisten waren bereits angegriffen worden und es musste über Unterstützung nachgedacht werden. Wir entschlossen uns, eine Hotline einzurichten, eine Website zu erstellen und eine Gruppe bei Facebook aufzumachen. So entstand am 05.05.2014 die Initiative „Luhansk SOS“. Nach kurzer Zeit wurde uns bewusst, dass wir nicht nur einer Handvoll Aktivisten halfen, sondern uns mit Fragen beschäftigten, die Hunderte oder gar Tausende von Menschen betrafen. Also erweiterten wir unseren geografischen Einsatzbereich und benannten unsere Facebook-Seite in „Wostok SOS“ um.
Wir taten, was niemand sonst tat. Wir informierten darüber, wo geschossen wurde, halfen bei der Planung von Umsiedelungen, dann kam die humanitäre Unterstützung befreiter Siedlungen hinzu, sowie juristische Beratung und die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen. Wir befragten Menschen, die in Gefangenschaft geraten waren und die Verwandten von Verschwundenen. Später boten wir auch Bildungsarbeit und psychologische Unterstützung an.
Derzeit leisten wir Vertriebenen und Betroffenen des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine in vielfältiger Weise Unterstützung, um die ukrainische Zivilgesellschaft zu aktivieren und die Folgen des Konflikts zu abzudämpfen. Diese Arbeit wird uns noch Jahrzehnte begleiten, denn die werden vergehen, bis in die Region wieder Ruhe und Stabilität einkehren. Ich gebe mich keinen Illusionen mehr hin. Ausgehend von der heutigen Lage kann ich mir nicht vorstellen, was alles passieren und wie viel Zeit vergehen müsste, damit die Besatzung beendet wird. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als eine Stadt nach der anderen befreit wurde und wie wir bereits auf unseren Koffern saßen, um mit dem ersten Zug zurück in die Heimat zu fahren. Es war eine schmerzhafte Erfahrung. Nach einiger Zeit folgte die Ernüchterung. Auf ein Wunder hoffen wir nicht mehr.
Wie sich heute „Zuhause“ anfühlt
Eine lange Zeit verfolgte mich Nacht für Nacht derselbe Traum. Ich fahre nach Luhansk und komme bis zu einem gewissen Punkt, wache auf, und in der folgenden Nacht geht der Traum von eben diesem Punkt weiter. Der Traum endete damit, dass ich in Luhansk ankam, wo mir schrecklich und unheimlich zumute war. Ich wurde verfolgt und landete in einem der Folterkeller und verbrachte dann noch einige Zeit damit, wieder von dort wegzukommen. Damit endete der Traum nach ungefähr einem halben Jahr, und es folgte eine andere Handlung. Irgendwann hörte es einfach auf und darüber bin ich froh. Ich habe mich nicht von diesen Orten losgesagt, aber meine Verbindung zu ihnen hat sich verändert. Das Gefühl der Heimat hat sich von Luhansk auf andere Orte verschoben.
Ich fühle mich in Kyjiw zuhause und in der Wohnung, in der ich nun schon fünf Jahre lebe. Ähnlich fühle ich mich in Sewerodonezk, das an der Frontlinie liegt, und wo ich noch häufiger bin als in Kyjiw. Auch dort habe ich meine Ecke, wo ich meine Aufgabe habe und wo Menschen auf mich warten (auch in Luhansk ging es mir in erster Linie um die Menschen). „Zuhause“ ist für mich auch im „Haus der Menschenrechte“. Hier gefällt mir der Name und ich habe eine Beziehung dazu, wie es entstanden ist und wie dort gearbeitet wird. Und außerdem gefällt es mir noch in Schtschastja, denn von dort sind es nur zehn Kilometer bis Luhansk.
Eine Konsequenz meiner durchlebten Traumata, mit der ich am besten leben kann, ist die, dass ich nun viele Orte habe, an denen ich mich zuhause fühle.
Auch wenn ich viel aus dem Büro arbeite, ist es mir wichtig, an die betroffenen Orte selbst zu reisen, zu verstehen, für wen und für was meine Arbeit da ist. Eine andere Beschäftigung kann ich mir nicht vorstellen, denn für mich ist der direkte Draht zu den Menschen und zur Frontlinie wichtig. Ich will tief in den Kontext des Krieges eintauchen, sonst habe ich das Gefühl, dass ich die Situation nicht gut genug verstehe.
Vor den Ereignissen des Jahres 2014 hat es in Luhansk viele verschiedene Transformationsprozesse in der Gesellschaft gegeben. Heute beobachten wir einen kolossalen Rückschritt. Die Menschen leben seit sieben Jahren außerhalb ihres historischen, kulturellen, sprachlichen und politischen Kontextes. Es wird Jahrzehnte dauern, bis das Loch in ihrem Bewusstsein geflickt ist. Und erst dann wird man es auf das Niveau von 2014 zurückführen können. Über diese gigantische Aufgabe muss schon jetzt nachgedacht werden. Wir müssen uns auf sie vorbereiten. Für mich steht schon heute fest, dass ich, wenn es so weit ist, nicht untätig bleiben werde.
Übersetzung aus dem Ukrainischen von Dario Planert.
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