Menschlichkeit geht über Politik
Für die Angehörigen der Opfer von MH17, genauso wie für die Familien der Maidan-Toten, waren die sechs Jahre, die nach der Tragödie vergangen sind, Jahre des Kampfes. Dieser Kampf kann jedoch nur dann Früchte tragen, wenn sowohl der Staat als auch die Gesellschaft mitziehen. Von Angelina Kariakina
Am 23. März fand in den Niederlanden der dritte Prozesstag in der Verhandlung um die über dem Donbas abgeschossene Boeing MH17 statt. Ohne Presse und ohne Verwandte von Opfern: Stichwort „Coronavirus“. Ich lese diese traurige, jedoch nachvollziehbare Nachricht in Kyjiw, bin unter Quarantäne. Vor gerade einmal zwei Wochen bin ich noch in die Niederlande geflogen, um dem Start der Gerichtsverhandlungen beizuwohnen. Damals waren Flughäfen wie Gesichter noch offen, und Menschen gaben einander zur Begrüßung die Hand. Piet Ploeg, den Vorsitzenden der Stiftung „MH17“, habe ich genauso begrüßt. In der von einer russischen „Buk“ abgeschossenen Boeing befand sich sein Bruder Alex samt Familie. Alex wurde bis heute nicht identifiziert.
Piet zeigt uns die MH17-Gedenkstätte: Ein großes Feld voller Sonnenblumen und Bäume. Alles ist durchdacht: Die Samen der Sonnenblumen kommen vom Feld bei Hrabowe, wo das Flugzeug abstürzte. Unter jedem Baum – der Name eines Opfers. Wir sahen die Schilder mit den Namen von Alex, seiner Ehefrau und seines Sohnes. „Mein Bruder kam nie zurück, und wir können nicht mal den Ort besuchen, wo es passiert ist“, – Piets Augen glänzen verräterisch, doch seine Stimme bleibt ruhig. „Ich sah die Fotos dieser Vier [Beschuldigter] – sie haben ein schönes Leben in Russland, sie trinken Whisky, paffen Zigarren. Ich habe da keine Illusionen mehr, dass jemand von ihnen jemals hinter Gittern landet. Die Ermittlungen haben sechs Jahre gedauert, und ich vertraue dem Ergebnis. Ich möchte, dass alle Welt die gesammelten Beweise endlich sehen kann”.
Eine Verhandlung ohne anwesende Beschuldigte
Am nächsten Tag im Gerichtsaal verstehe ich, was er meint. Der Richter liest die Akten vor, die detailliert berichten, wie man mit den vier Beschuldigten Kontakt aufgenommen hat. Gerichtsvorladungen wurden verschickt, es wurde angerufen, per Skype, Messenger und sogar WhatsApp geschrieben: „Dubinskiy [einer der Beschuldigten] hat die Messages gelesen, jedoch nie beantwortet. Er hatte auch den Hörer abgenommen, sagte aber, er ist es nicht; ein Gutachten hat danach bewiesen, dass es doch seine Stimme war“.
Alle persönlich befragten Personen stehen unter Zeugenschutz. Einige haben womöglich auch den Wohnort gewechselt. In einer solchen Sache darf es keine Fahrlässigkeit, kein Nachgeben und keine Fehler geben. Vor der Verhandlung haben Staatsanwälte zusammen mit den Richtern sogar eine Art Probe veranstaltet – um zu verstehen, woran die Beweisführung scheitern könnte.
„Sehr geehrter Vorsitzende, meine sehr geehrten Damen und Herren. Vor über 5 Jahren, am 17. Juli 2014, wurde eine Passagiermaschine MH17 der Malaysia Airlines abgeschossen. Alle 298 Passagiere verloren dabei ihr Leben. Das älteste Opfer, Gerda Leliana Lahenda aus Indonesien, war 82. Das jüngste, Benjamin Lee Jian Han aus Malaysia, wurde gerade mal ein Jahr alt“. So fängt die Rede des Staatsanwalts an, eine ganz einfache und menschliche Rede. Eine Rede, in der der Wert eines Menschenlebens im Mittelpunkt steht, genauso wie bei dem ganzen Prozess um die MH17.
Parallelen zur Maidan-Ermittlung
Seit nunmehr sechs Jahren warten auch die Familien derer, die auf dem Maidan getötet wurden. Obwohl – einige Gerichtsprozesse laufen schon eine ganze Weile lang. Ich beschäftige mich seit fünf Jahren damit, zum Beispiel, mit der Ermittlung in Sachen Ermordung von 48 Menschen in der Instytutska Straße am 20. Februar 2014. Ich bin Zeugin der Verzweiflung geworden, des Verlusts, und auch einer totalen Entmutigung. Die Verhandlung, die eine Schlüsselrolle für die Ukraine hätte spielen können, wurde vom Justizsystem und von der Leitung der Generalstaatsanwaltschaft faktisch sabotiert. Die Hinterbliebenen hat man zeitweise vor eine undenkbare Wahl gestellt: Bauen wir eine Gedenkstätte am Ort der Tragödie oder führen wir doch die Ermittlungen fort? Wie so viele andere in der Ukraine, sind diese Ermittlungen ein Geflecht aus Bürokratie, Politik und Gleichgültigkeit. Das Ganze wird nur von denen vorangetrieben, die diese drei Übel bekämpfen – oft auch unter Einsatz des eigenen Lebens. Ein Beispiel: Die Anwältin, die einige Angehörige vertritt, ist im Winter in einen Hungerstreik gegangen, um endlich die Aufmerksamkeit auf die Sache zu lenken. Hier wurde von professionellen Ermittlern endlich sorgfältig ermittelt, und der vorsitzende Richter hat für eine offene und transparente Verhandlung gesorgt. Man erwartet Ende des Jahres bereits das Urteil. Doch diese wertvolle Erfahrung haben die Ukrainer nicht zu schätzen gewusst: Im Angesicht der systemischen Korruption, der Bürokratie und Politisierung wollen die Menschen einfach nicht glauben, dass es in Sachen Maidan-Morde tatsächlich Fortschritte geben kann. Dass es Fakten gibt und Beschuldigte, gegen die Beweise vorliegen.
Im Dezember 2019 hat Russland fünf Berkut-Männer, denen die Morde auf dem Maidan zur Last gelegt werden, gegen die ukrainischen Gefangenen tauschen wollen. Im Gegensatz zu MH17-Prozess, saßen diese Beschuldigten schon auf der Anklagebank. Die Regierung beschloss aber, diese Männer gegen die ukrainischen Soldaten zu tauschen, die seit Jahren von den Milizen gefangen gehalten wurden. Es ist noch so eine undenkbare, unmögliche Wahl. Sie wurde aber dadurch möglich, dass die Gesellschaft das Interesse an der Sache verloren hat. Zwei der Beschuldigten sind in die Ukraine zurückgekehrt und befinden sich unter Hausarrest. Ein Urteilsspruch ist noch möglich. Doch die Ukrainer muss man noch davon überzeugen, dass Gerechtigkeit möglich ist, dass sie einfach Zeit braucht. Wie diese Zeit für die Opfer und deren Angehörige sowie für alle, die an Wahrheitsfindung interessiert sind, vergeht, ist auch ein Teil der Rechtsprechung. Die Hinterbliebenen von MH17 wie die Angehörigen der Maidan-Opfer kämpfen gleichermaßen. Doch dieser Kampf kann nur dann Früchte tragen, wenn sowohl der Staat als auch die Gesellschaft mitziehen.
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