Warum man sich den Kampf der Ukraine gegen das Virus genauer ansehen sollte
Die Ukraine hat frühzeitig drastische Maßnahmen ergriffen, um die Corona-Pandemie einzugrenzen. In seiner Kolumne beschreibt Wolodomyr Jermolenko, warum es sich lohnt, die Reaktion der Ukraine und die Einstellungen der Ukrainer und Ukrainerinnen genauer zu betrachten.
Oberflächlich betrachtet erscheint der Kampf der Ukraine gegen das Coronavirus nicht außergewöhnlich zu sein. Mit 4662 Coronafällen (Stand 17. April 2020) ist das Land weniger stark betroffen als viele andere Länder in Europa; es liegt nicht einmal unter den Top 30 der festgestellten Fälle. Bisher sind gerade einmal bei 125 Menschen in Folge einer Coronainfektion gestorben, mit täglichem Zuwachs von 5 bis 10 Todesfällen. In den USA, Spanien, Italien und Frankreich sind es jeweils mehr als 20.000, in Deutschland mehr als 3000.
Obwohl kaum vorherzusagen ist, wie sich die Pandemie weiterentwickeln wird, lohnt es sich, das Verhalten der Ukraine genauer zu betrachten. Das wichtigste Faktum: Das Land hat unglaublich schnell eine strenge Quarantäne verhängt. Sie wurde am 11. März eingeführt, als erst ein (!) COVID-19 Fall offiziell bestätigt wurde. Mitte März wurden die Grenzen geschlossen, als die Zahl der bestätigten Fälle noch unter zehn lag und erst eine Person an dem Virus gestorben war.
Das frühe, drastische Handeln kann einfach erklärt werden: Die ukrainische Bevölkerung hat prinzipiell größere Angst vor Bedrohungen als westeuropäische Nationen. Für die meisten Menschen gehören existentielle Sorgen und Bedrohungen zur traurigen Realität. Sie sind in der kriegs- und krisengebeutelten Ukraine häufig damit konfrontiert und verstehen, dass manchmal schnell und entschieden gehandelt werden muss. Die Ukrainer*innen fühlen sich schlicht unsicher, vielen ist es daher lieber, eher früher als zu später zu handeln.
„Weltmeister des Überlebens“
Jewhen Hlibowytskyj, einer der bekanntesten Intellektuellen der Ukraine, wiederholt gerne, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer vielleicht „Weltmeister im Überleben“ sind. Alle teilen das Bedürfnis nach Sicherheit, ungeachtet der Region, in der sie leben, und über alle Sprachen, Identitäten, Religionen oder wirtschaftlichen Diskrepanzen hinweg. Die World Values Survey – die umfangreichste und weiträumigste Umfrage über menschliche Werte, die je durchgeführt wurde – hat ergeben, dass in der Ukraine Werte wie Selbstverwirklichung nicht als entscheidend angesehen werden; man orientiert sich notgedrungen eher an Werten des Überlebens.
Aufgrund der Besonderheiten der ukrainischen Geschichte ist dies verständlich. Rund vier Millionen Menschen starben während Stalins künstlicher Hungersnot der Jahre 1932–33; rund eine Million jeweils in den Hungersnöten Anfang der 1920-er Jahre und 1946–47. Während des Zweiten Weltkriegs starb jeder vierte Ukrainer, rund 10 Millionen Menschen, von denen drei bis vier Millionen als Soldaten der Roten Armee fielen. Von sechs Millionen Opfern des Holocaust stammte eine Million aus der Ukraine. Millionen Ukrainer wurden auch Opfer der sowjetischen GULAGs, die ukrainische Intelligenz wurde in den 1930er Jahren praktisch ausgelöscht, und viele prominente Dissidenten wurden auch nach Chruschtschows kurzzeitigem „Tauwetter“ in den GULAG geschickt.
Die russische Okkupation der Krim und Teile des ukrainischen Donbas im Jahr 2014 und praktisch tägliche Nachrichten von Toten entlang der Front verstärkten seitdem dieses Gefühl der Unsicherheit. Zur Corona-Pandemie kamen jüngst auch massive Waldbrände unter anderem im Gebiet von Tschernobyl. Die Rauchschwaden überzogen die ukrainische Hauptstadt und sorgten für Angst vor erhöhten Strahlenwerten.
Dazu kommt ein Sicherheitsvakuum, da die Ukraine kein NATO-Mitglied ist und nach der Verletzung des Budapester Memorandums durch Russland sich auf keine internationalen Sicherheitsgarantien verlassen kann. Hinzu kommt aber auch, dass die Bürger*innen der Ukraine ihren eigenen Exekutivorganen extrem misstrauen und sie eher als zusätzliche Bedrohung denn als Schutz wahrnehmen.
Ein ukrainisches Sprichwort besagt, es sei besser, Bedrohungen zu über- als zu unterschätzen. Das war der Grund dafür, die strenge Quarantäne so früh einzuführen.
Ostern als Quarantäne-Probe
Seltsamerweise sind es ausgerechnet die Religion und Kirche, die für eine sprunghafte Zunahme von Coronafällen gesorgt haben. Trauriger Vorreiter ist die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats. Vor einiger Zeit sagte deren Erzbischof Pawel, Leiter des Kyjiwer Höhlenklosters, man „solle sich vor der Epidemie nicht fürchten“ und die Gläubigen sollen „zur Kirche eilen und einander umarmen.“ Es überrascht deshalb nicht, dass das Höhlenkloster selbst einer der Hotspots des Virus in Kyjiw wurde. Erst vor Kurzem sagte Onufrij, Leiter der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, dass die Kirchen des mit Abstand größten Orthodoxen Patriarchats in der Ukraine am 19. April ihre Ostergottesdienste abhalten werden – entgegen der Quarantäne-Maßnahmen und entgegen des Aufrufs anderer Kirchen (einschließlich der kürzlich in der Ukraine etablierten autokephalen Kirche), zu Hause zu bleiben. Wenn die Teilnahme am Gottesdienst nicht eingeschränkt wird, werden Menschenmassen zu Ostern in die Kirchen strömen und großen Ansteckungsrisiken ausgesetzt sein.
Was an diesem Sonntag passiert, wird auch ein Test dafür sein, wie rational die Ukrainer*innen sich verhalten und ob ihre Überlebensinstinkte stark genug sein werden, zu Hause zu bleiben.
Wenn das Sicherheitsdenken überwiegt, wirft das eine Frage für die Zukunft auf. Und zwar: Soll die Sicherheitslogik in Zeiten von Pandemien die Freiheitslogik dominieren? Bis zu einem welchen Grad sollten Freiheiten wie Religionsfreiheit eingeschränkt werden, und in welchen Fällen bedroht das Bedürfnis nach Sicherheit sogar die Gesundheit der Bevölkerung?
Freiheit und Liberalismus werden üblicherweise von neo-autoritären Akteuren denunziert, die die Pandemie nun als zusätzliches Argument benutzen, um Demokratie und Offenheit zu verunglimpfen. Diese und ähnliche Argumente werden beispielsweise von der russischen Propaganda gegen die demokratische Welt vermehrt eingesetzt. Mit der Corona-Pandemie beginnt eine neue Phase in der internationalen Debatte, in der die liberale Demokratie brutal angegriffen wird.
In dieser Situation ist es wichtig, dass Länder und Gemeinden klar unterscheiden: Mehr Sicherheit bedeutet nicht unbedingt weniger Demokratie. Beschränkungen der Freiheit können und müssen zeitweise toleriert werden, wenn sie für die allgemeine Gesundheit und für die öffentliche Sicherheit nötig sind, aber sie sind kein Instrument, um alle anderen Probleme zu lösen.
Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid Müller.
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