Isjum – ein Jahr nach der Befrei­ung aus rus­si­scher Besatzung

Foto: Vik­to­ria Savchuk

Isjum war von Ende März bis zum 10. Sep­tem­ber 2022 unter rus­si­scher Besat­zung, wie viele andere Städte und Dörfer in der Region Charkiw. Bis heute hat sich die Stadt von den Ver­wüs­tun­gen nicht erholt.

Am 24. August 2023, dem Tag der Unab­hän­gig­keit der Ukraine, ver­las­sen wir – Marie­luise Beck, Ralf Fücks und ich – Charkiw, eine Stadt in der Ost­ukraine, die sich seit andert­halb Jahren gegen rus­si­sche Angriffe wehrt, und begeben uns in Rich­tung Isjum. Auf der Fahrt sehen wir überall Wracks von rus­si­schen Mili­tär­fahr­zeu­gen und Spuren der schwe­ren Kämpfe. Die ver­min­ten Felder rechts und links wagen wir nicht zu betre­ten – der Oblast Charkiw ist zurzeit eine der am meisten ver­min­ten Regio­nen der Ukraine.

Je mehr wir uns Isjum nähern, desto weniger Autos sind auf der Auto­bahn zu sehen und umso häu­fi­ger gibt es Luft­alarm. Schon am Stadt­ein­gang erwar­tet uns ein „Begrü­ßungs­ge­schenk“ der soge­nann­ten „russkij mir“, der „rus­si­schen Welt“: die zer­störte Brücke über den Fluss Siwers­kyj Donez.

Zer­störte Brücke über den Fluss Siwers­kyj Donez, Foto: Vik­to­ria Savchuk

Isjum hat sich noch nicht von der Besat­zung erholt

Wir treffen den Bür­ger­meis­ter von Isjum, Valeriy Mar­chenko. Leider muss das Treffen außer­halb des Rat­hau­ses statt­fin­den, da das Gebäude bei rus­si­schen Luft­an­grif­fen im Früh­jahr 2022 voll­stän­dig zer­stört wurde, wie 80 Prozent der Gebäude in der Stadt.

Vor der rus­si­schen Inva­sion 2022 war Isjum eine blü­hende Indus­trie­stadt, bekannt für eine starke Maschi­nen­bau- und Optik­bran­che und die Pro­duk­tion von Möbeln. Offi­zi­el­len Angaben zufolge lebt jetzt nur noch die Hälfte der einst rund 50.000 Ein­woh­ner hier, dar­un­ter fast 12.500 Bin­nen­flücht­linge aus anderen Regio­nen der Ukraine.

Der Bür­ger­meis­ter berich­tet uns von den Bemü­hun­gen der lokalen Ver­wal­tung, die Stadt wieder auf­zu­bauen. Aber immer noch hat sie sich nicht von der Besat­zung erholt: Sie ist nach wie vor von Ver­wüs­tung gekenn­zeich­net. Die Lebens­be­din­gun­gen sind kri­tisch und mit der Zer­stö­rung von Woh­nun­gen, Indus­trie und kri­ti­scher Infra­struk­tur ver­schwan­den auch die Jobs. Nach der Befrei­ung durch die ukrai­ni­sche Armee im Sep­tem­ber 2022 wurde fest­ge­stellt, dass die meisten Heiz­kraft­werke der Stadt nicht wieder in Betrieb genom­men werden können: Von den einst 24 funk­tio­nie­ren heute nur etwa zehn. Von 190 mehr­stö­cki­gen Häusern werden nur etwa 140 mit Wärme versorgt.

Das zer­störte Rathaus von Isjum, Foto: Vik­to­ria Savchuk

Isjum besaß auch eine große Anlage zur Erzeu­gung von Solar­ener­gie, die während der Besat­zung von der rus­si­schen Armee demon­tiert wurde, um die Ersatz­teile zu stehlen. Die Strom­ver­sor­gung der Stadt ist inzwi­schen gesi­chert, aber die Men­schen machen sich Sorgen wegen des Winters und mög­li­cher Strom­aus­fälle durch Raketenangriffe.

Kinder werden nur noch online unterrichtet

Medi­zi­ni­sche und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen waren und bleiben nach wie vor Ziele der regel­mä­ßi­gen rus­si­schen Angriffe. Direkt in der Stadt­mitte sehen wir die Über­reste eines Kran­ken­hau­ses. Nur wenig ent­fernt stehen wir vor den Trüm­mern einer Schule. Die Lage ist dra­ma­tisch: Von den elf Schulen kann auf­grund der Zer­stö­run­gen keine einzige in diesem Jahr Schü­le­rin­nen und Schüler auf­neh­men. Statt­des­sen mussten sich die Kinder kom­plett auf Online-Unter­richt umstel­len, was wegen der anhal­ten­den Netz­stö­run­gen und Rake­ten­an­griffe eben­falls selten rei­bungs­los funktioniert.

Eine der zer­stör­ten Schulen von Isjum, Foto: Vik­to­ria Savchuk

Wir fahren weiter durch die Stadt und halten kurz an einem zer­stör­ten Hoch­haus, auf dessen Fas­sa­den­res­ten das Bild einer Kerze zu sehen ist. Zu Beginn der rus­si­schen Besat­zung wurde dieses Wohn­haus mehr­mals aus der Luft ange­grif­fen. Ein­hei­mi­sche erzäh­len, dass das Gebäude den Besat­zungs­trup­pen die Sicht auf eine dahin­ter lie­gende Schule ver­sperrt habe und deshalb nie­der­ge­bombt wurde. Das gesamte Haus stürzte ein, auch die Kel­ler­räume. Dort hatten viele Fami­lien Zuflucht gesucht, mehr als 60 Men­schen starben.

Mas­sen­grä­ber für die vielen Leichen

Dieses Haus war kein Ein­zel­fall, wie uns die Anwoh­ner erzäh­len: Die Leichen lagen überall in der Stadt: unter den Trüm­mern von ein­ge­stürz­ten Gebäu­den, auf den Straßen, in den Parks, in den Innen­hö­fen zwi­schen den Wohn­blö­cken. Als der Gestank im späten Früh­jahr 2022 zu stark wurde, erlaubte die Besat­zungs­ver­wal­tung den Ein­hei­mi­schen, die mensch­li­chen Über­reste in Mas­sen­grä­bern zu bestat­ten. Auf den Gräbern durften keine Namen, sondern nur fort­lau­fende Nummern ange­bracht werden.

Das ganze Ausmaß der Tra­gö­die wurde erst nach der Befrei­ung von Isjum deut­lich. Es wurden Mas­sen­grä­ber mit mehr als 450 Toten ent­deckt. Vor den Augen der Heim­keh­rer lag eine zer­störte und aus­ge­plün­derte Stadt, geprägt von Mord, Folter, Ent­füh­rung und Ver­ge­wal­ti­gung durch rus­si­sche Soldaten.

Mili­tärs, Poli­ti­ker, Akti­vis­ten und auch Zivi­lis­ten getötet

Maryna, eine Frau, die die Besat­zung über­lebt hat, berich­tet uns von Mas­sen­ent­füh­run­gen und Mas­sen­mor­den, auch von Erschie­ßun­gen direkt auf der Straße. Dabei wurden nicht nur ukrai­ni­sche Mili­tärs, Poli­ti­ker oder Akti­vis­ten getötet, sondern auch Zivi­lis­ten. So wurde im März 2022 Wolo­dymyr Waku­lenko, ein ukrai­ni­scher Schrift­stel­ler, Kin­der­buch­au­tor und Bewoh­ner von Isjum, zusam­men mit seinem Sohn ent­führt. Der Sohn kam frei, die Leiche seines Vaters wurde erst im Sep­tem­ber 2022 in einem Mas­sen­grab im Vorort von Isjum identifiziert.

Belegt ist auch sexu­elle Gewalt durch rus­si­sche Sol­da­ten gegen Frauen, Männer und Kinder, ver­bun­den mit Schlä­gen, Folter und Mord. – dar­un­ter auch in Isjum. Da das Thema stark mit Gefüh­len von Scham, Angst und Unsi­cher­heit der Über­le­ben­den ver­bun­den ist, werden nach der Befrei­ung von Gebie­ten in der Regel viel weniger Fälle bei der Polizei ange­zeigt als tat­säch­lich gesche­hen sind.

Alle Über­le­ben­den aus Isjum, aber auch aus anderen befrei­ten Gebie­ten der Ukraine kommen in ihren Erzäh­lun­gen zum glei­chen Schluss: Ein Leben unter rus­si­scher Besat­zung ist das schlimmste Sze­na­rio, das man sich vor­stel­len kann. Ein Leben, das Russ­land den Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­nern seit der Beset­zung der Krim im Februar 2014 auf­zwin­gen will.

Portrait von Alya Shandra

Vik­to­ria Savchuk ist Refe­ren­tin der Geschäfts­füh­rung beim Zentrum Libe­rale Moderne. Als Juris­tin und Advo­cacy Exper­tin war sie mehrere Jahre bei der NGO „Cri­me­a­SOS“ in Kyjiw (Ukraine) tätig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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