„Ich habe vor, meinen Schul­ab­schluss hier in der Ukraine zu machen!“

Foto: Albert Lores

Tau­sende ukrai­ni­sche Schulen wurden seit Beginn des Angriffs­krie­ges von rus­si­schen Raketen getrof­fen, der Unter­richt von Mil­lio­nen Kindern unter­bro­chen. Schul­lei­te­rin­nen und Schü­le­rin­nen erzäh­len, was nötig ist, damit sie im nächs­ten Schul­jahr endlich wieder gemein­sam vor Ort lernen können.

3.582 Schulen und andere Bil­dungs­ein­rich­tun­gen wurden laut ukrai­ni­schem Bil­dungs­mi­nis­te­rium seit Beginn des Angriffs­krie­ges von rus­si­schen Raketen getrof­fen. 341 davon wurden voll­stän­dig zer­stört. Allein diese beiden Zahlen offen­ba­ren den stra­te­gi­schen Angriff Russ­lands auf das Bil­dungs­sys­tem der Ukraine.

Laut einer Analyse der Kyiv School of Eco­no­mics vom März 2023 beläuft sich die Gesamt­summe der unmit­tel­ba­ren Schäden im Bil­dungs­sek­tor auf rund 8,1 Mil­li­ar­den Euro. UNICEF geht davon aus, dass der rus­si­sche Angriffs­krieg den Unter­richt von mehr als fünf Mil­lio­nen Kindern beein­träch­tigt und unter­bro­chen hat.

Das Ziel: die Schulen am 1. Sep­tem­ber wieder für den Prä­senz­un­ter­richt öffnen

Ein­ein­halb Jahre, nachdem sie die Pforten ihrer Schulen schlie­ßen mussten, stellen diese Som­mer­fe­rien für viele ukrai­ni­sche Schul­lei­te­rin­nen deshalb den finalen End­spurt dar. Ihr Ziel: die Schulen recht­zei­tig zum Beginn des neuen Schul­jah­res am 1. Sep­tem­ber zu reno­vie­ren und umzu­bauen, um sie endlich wieder für ihre Schü­le­rin­nen und Schüler zu öffnen.

Die Repa­ra­tur von Fens­tern, Dächern und Türen konnten einige Gemein­den aus eigenen Geldern bezah­len. Doch ins­be­son­dere die Ein­rich­tung von Luft­schutz­kel­lern ist vie­ler­orts eine große Her­aus­for­de­rung. Erst wenn diese vor­han­den sind und von staat­li­chen Behör­den geneh­migt wurden, können Lehr­kräfte, Schü­le­rin­nen und Schüler auf einen bal­di­gen Neu­start vor Ort hoffen.

Tetjana Sacha­rowa, Schul­lei­te­rin, Sele­no­dolsk (Region Dnipropetrowsk)

Foto: Albert Lores

„Als der Krieg losging, wurde ich in den Gemein­de­rat gerufen. Ich war dafür zustän­dig, die Eltern zu infor­mie­ren. Ich erin­nere mich noch, wie ich danach ganz allein durch die ver­las­se­nen Klas­sen­zim­mer und Flure streifte und dachte: Wie schaffe ich das jetzt? Aber ich bin stark geblie­ben. Und mit mir die Lehrer und die Kinder. Wir began­nen sofort, den Online-Unter­richt vor­zu­be­rei­ten. Am 23. März 2022 haben wir wieder ange­fan­gen und unter­rich­ten seitdem nur online.

„Die Schule wurde dreimal beschossen“

Im Sommer 2022 wurde es dann sehr ‚heiß‘ und ‚laut‘ hier. Die Schule wurde dreimal beschos­sen, im April, im Juni und im August. Danach haben wir uns bemüht, die Schule so zu reno­vie­ren, dass das Gebäude den Winter über­steht. Vor allem die her­aus­ge­spreng­ten Fenster mussten schnell repa­riert werden. Das konnten wir mit Geldern der Gemein­de­ver­wal­tung finanzieren.

Es ist von ent­schei­den­der Bedeu­tung, dass ich die Schule am 1. Sep­tem­ber wieder öffne und die Kinder wieder zurück­kom­men. Wir möchten gerne wieder vor Ort unter­rich­ten, oder zumin­dest hybrid: offline und online.

„Luft­schutz­kel­ler mit Inter­net für den Unter­richt bei Luftalarm“

Im Luft­schutz­kel­ler richten wir dafür Inter­net ein, damit die Kinder auch während des Luft­alarms den Unter­richt fort­set­zen können. Rund 500 Schüler besu­chen die Schule, aber im Keller ist nur Platz für 250. Deshalb wird es zwei Schich­ten geben, eine am Morgen und eine am Nachmittag.“

Acht Monate lang lag die Klein­stadt Sele­no­dolsk in der Region Dni­pro­pe­trowsk nur sechs Kilo­me­ter von der Front­li­nie ent­fernt, umgeben von besetz­tem Gebiet. Seit der erfolg­rei­chen Befrei­ung der Umge­bung liegt die Front­li­nie auf der anderen Seite des nahe­ge­le­ge­nen Dnipro. Jen­seits des mitt­ler­weile leeren Fluss­bet­tes erhebt sich in 70 Kilo­me­ter Luft­li­nie das besetzte Atom­kraft­werk Sapo­rischschja und stellt eine unkal­ku­lier­bare Gefahr für die Region dar. 

Sofija Kowtun (13), Schü­le­rin, Sele­no­dolsk (Region Dnipropetrowsk)

Foto: Albert Lores

„Ich gehe seit der ersten Klasse in diese Schule, im Sep­tem­ber komme ich in die achte Klasse. Und ich habe vor, meinen Schul­ab­schluss hier zu machen! Ich freue mich schon auf das nächste Schul­jahr und darauf, meine Klas­sen­ka­me­ra­den und besten Freunde wie­der­zu­se­hen. Endlich können wir wieder zusam­men zur Schule gehen. Vor dem großen Krieg waren wir 27 Schüler in der Klasse, jetzt sind wir 24. Ich habe auch zwei neue Klas­sen­ka­me­ra­den, die aus Cherson geflo­hen sind.

„Es gibt draußen keinen Ort zum Treffen und Spielen“

Das letzte Schul­jahr war schwie­rig wegen des Online-Unter­richts. Dafür habe ich beim Regio­nal­wett­be­werb mit­ge­macht: in meinem Lieb­lings­fach Ukrai­ni­sche Sprache und Lite­ra­tur. Ich mag auch Fremd­spra­chen. Und ich spiele gerne Gitarre und lese Bücher. Im Moment gibt es keinen Ort, an dem ich mich mit anderen treffen und draußen spielen kann. Die Som­mer­fe­rien sind dieses Jahr ganz anders.

Wovon ich träume? Erstens davon, dass der Krieg aufhört und es Frieden gibt. Und zwei­tens, dass ein Nach­bar­land zum Ozean wird.“

Sofijas Vater kämpft in der Nähe von Luhansk, ihr Onkel bei Bachmut. 

Olena Kulija (48), Schul­lei­te­rin, Charkiw (Region Charkiw)

Der alte Keller der Schule wird zum Luft­schutz­kel­ler umge­baut. Foto: Albert Lores

„Diese Schule ist mein Leben. Ich wurde selbst hier ein­ge­schult und mit 18 Jahren begann ich, während meiner Leh­rer­aus­bil­dung hier zu arbei­ten. Unsere Schule ist ein inte­gra­ti­ver Bestand­teil des Viertels.

„Die Nach­barn wärmten sich an den Holzöfen“

Mitt­ler­weile kommen auch viele ältere Nach­barn ins Schul­ge­bäude. Hier wird für sie gekocht, und im ver­gan­ge­nen Winter konnten sie sich an den Holz­öfen wärmen und die Strom­an­schlüsse nutzen.

In den ersten Monaten ver­schanz­ten sich bis zu 300 Men­schen bei uns im Keller, dicht an dicht, auf den Stühlen und auf dem Boden. Die Nacht des 13. März war die schlimmste. Die ganze Schule bebte, die kom­plette Nach­bar­schaft wurde bom­bar­diert. Als wir am nächs­ten Morgen hin­aus­gin­gen, fanden wir 12 Gra­na­ten­hül­sen auf dem Schul­ge­lände. Die Schule war voll mit Granatsplittern.

„Ich muss dafür sorgen, dass der Luft­schutz­kel­ler bis zum 1. Sep­tem­ber fertig wird“

Wir haben das Ziel, die Schule am 1. Sep­tem­ber wieder für die Schüler zu öffnen. Die Kinder haben den Online-Unter­richt satt. Und die Eltern auch. Ich muss dafür sorgen, dass das Dach und der Luft­schutz­kel­ler bis dahin fertig sind. Von den 45 Lehrern flohen anfangs etwa 30 Prozent – aber inzwi­schen sind alle wieder zurück.“

Das „Lyzeum Nr. 75“ liegt im Indus­trie­vier­tel von Charkiw im Osten der Ukraine und ist von Plat­ten­bau­ten und Fabri­ken umgeben. Die Schü­le­rin­nen und Schüler kommen haupt­säch­lich aus Arbeiterfamilien.

Lera* (7), Schü­le­rin & ihre Mutter Wika* (42), Apos­to­lowe (Region Dnipropetrowsk)

Foto: Albert Lores

Lera: „Unsere Schule war sehr schön und modern, deshalb bin ich sehr gern hin­ge­gan­gen. Ich mag Online-Unter­richt nicht. Es gibt keine Gesprä­che. Ich ver­misse meine Klas­sen­ka­me­ra­den und Lehrer. Meine beste Freun­din Camilla ist jetzt in Deutschland.“

„Das Klas­sen­zim­mer meiner Tochter wurde von einer Rakete getroffen“

Wika: „Wir wohnen ganz in der Nähe der Schule, und als wir die Explo­sion hörten, sind wir in den Flur geflüch­tet. Es war am 22. Juni 2022 um 2:22 Uhr nachts. Es war wie ein Don­ner­schlag. Vorher gab es keine Sirenen. Dann sahen wir von der Küche aus, dass ein Teil der Schule fehlte. Ich war sehr scho­ckiert. Später erfuhr ich, dass eine der Raketen das Klas­sen­zim­mer meiner Tochter getrof­fen hatte. Wir fühlten uns wie in einem Nebel. Wir haben nicht ver­stan­den, was pas­siert ist. Es hat eine Woche gedau­ert, bis wir das rea­li­siert haben. Wir hoffen, dass die Schule wieder auf­ge­baut wird.“

Das Lyzeum Nr. 1 in Apos­to­lowe galt als die modernste Schule der Region. Auf­grund der mas­si­ven Zer­stö­rung ist vorerst nicht mit ihrem Wie­der­auf­bau zu rechnen. In der­sel­ben Nacht, in der die Schule bom­bar­diert wurde, trafen rus­si­sche Raketen auch zwei weitere Schulen in Apostolowe.

Oksana Pomy­la­jko (49), Schul­lei­te­rin & Olha Kysym (56), Bil­dungs­re­fe­ren­tin, Pet­sche­nihy (Region Charkiw)

Foto: Albert Lores

Oksana: „Am 1. Sep­tem­ber 2022 schlug eine rus­si­sche Rakete in die Schule ein. Nur fünf Tage später eine zweite. Ich wohne direkt neben der Schule, und mein Haus wurde auch getrof­fen. Bis heute hören wir jede Nacht den Beschuss in der Ferne.

„Wegen der stän­di­gen Strom­aus­fälle immer wieder Pro­bleme mit dem Internet“

Ich hoffe, dass wir die Schule am 1. Sep­tem­ber wieder öffnen dürfen. Zumin­dest für Hybrid­un­ter­richt. Denn egal, wie gut es online läuft, offline ist immer besser. Wenn die Kinder nicht raus­ge­hen können, bedeu­tet das Stress für sie. Es ist sehr wichtig, mit ihnen eine leben­dige Bezie­hung auf­zu­bauen. Außer­dem hatten wir wegen der stän­di­gen Strom­aus­fälle immer wieder Pro­bleme mit der Inter­net­ver­bin­dung, und nicht alle Fami­lien können sich Laptops leisten. Von unseren 447 Schü­lern sind nur zehn im Ausland. Wir haben es geschafft, unsere Schüler zu halten.

Die Men­schen ver­las­sen sich auf uns. Ich gehe jeden Tag in die Schule, um die Reno­vie­rung des Daches, der Fenster und der Klas­sen­zim­mer zu kontrollieren.“

Auf dem Lehr­plan: Minensicherheit

Olha: „Für das nächste Schul­jahr planen wir einen neuen Kurs zum Thema ‚Minen­si­cher­heit‘. Um uns herum war besetz­tes Gebiet, deshalb gibt es viele Minen­fel­der in der Umge­bung. Wir müssen den Kindern ein­bläuen, dass sie nicht zum Fluss und in den Wald gehen dürfen.“

Am 24. Juli 2022 verlor Oksana Pomy­la­jko ihre Mutter durch rus­si­schen Beschuss.

 

Der Besuch der Schulen durch unseren Autor Chris­tian-Zsolt Varga wurde durch die tsche­chi­sche NGO „People in Need“ ermög­licht, die zer­störte Schulen in den Regio­nen Dni­pro­pe­trowsk, Charkiw und Sumy finan­zi­ell und logis­tisch aus Mitteln der Euro­päi­schen Kom­mis­sion beim Wie­der­auf­bau unter­stützt.

* Wika und Lera möchten nicht mit vollem Namen genannt werden.

Portrait von Christian-Zsolt Varga

Chris­tian-Zsolt Varga ist freier Aus­lands­kor­re­spon­dent mit Schwer­punkt Ukraine, Ungarn und Europas Osten und berich­tet für ver­schie­dene euro­päi­sche Medien aus Kyjiw.

 

 

 

 

 

 

 

Geför­dert durch:

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.