„Ich habe vor, meinen Schulabschluss hier in der Ukraine zu machen!“
Tausende ukrainische Schulen wurden seit Beginn des Angriffskrieges von russischen Raketen getroffen, der Unterricht von Millionen Kindern unterbrochen. Schulleiterinnen und Schülerinnen erzählen, was nötig ist, damit sie im nächsten Schuljahr endlich wieder gemeinsam vor Ort lernen können.
3.582 Schulen und andere Bildungseinrichtungen wurden laut ukrainischem Bildungsministerium seit Beginn des Angriffskrieges von russischen Raketen getroffen. 341 davon wurden vollständig zerstört. Allein diese beiden Zahlen offenbaren den strategischen Angriff Russlands auf das Bildungssystem der Ukraine.
Laut einer Analyse der Kyiv School of Economics vom März 2023 beläuft sich die Gesamtsumme der unmittelbaren Schäden im Bildungssektor auf rund 8,1 Milliarden Euro. UNICEF geht davon aus, dass der russische Angriffskrieg den Unterricht von mehr als fünf Millionen Kindern beeinträchtigt und unterbrochen hat.
Das Ziel: die Schulen am 1. September wieder für den Präsenzunterricht öffnen
Eineinhalb Jahre, nachdem sie die Pforten ihrer Schulen schließen mussten, stellen diese Sommerferien für viele ukrainische Schulleiterinnen deshalb den finalen Endspurt dar. Ihr Ziel: die Schulen rechtzeitig zum Beginn des neuen Schuljahres am 1. September zu renovieren und umzubauen, um sie endlich wieder für ihre Schülerinnen und Schüler zu öffnen.
Die Reparatur von Fenstern, Dächern und Türen konnten einige Gemeinden aus eigenen Geldern bezahlen. Doch insbesondere die Einrichtung von Luftschutzkellern ist vielerorts eine große Herausforderung. Erst wenn diese vorhanden sind und von staatlichen Behörden genehmigt wurden, können Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler auf einen baldigen Neustart vor Ort hoffen.
Tetjana Sacharowa, Schulleiterin, Selenodolsk (Region Dnipropetrowsk)
„Als der Krieg losging, wurde ich in den Gemeinderat gerufen. Ich war dafür zuständig, die Eltern zu informieren. Ich erinnere mich noch, wie ich danach ganz allein durch die verlassenen Klassenzimmer und Flure streifte und dachte: Wie schaffe ich das jetzt? Aber ich bin stark geblieben. Und mit mir die Lehrer und die Kinder. Wir begannen sofort, den Online-Unterricht vorzubereiten. Am 23. März 2022 haben wir wieder angefangen und unterrichten seitdem nur online.
„Die Schule wurde dreimal beschossen“
Im Sommer 2022 wurde es dann sehr ‚heiß‘ und ‚laut‘ hier. Die Schule wurde dreimal beschossen, im April, im Juni und im August. Danach haben wir uns bemüht, die Schule so zu renovieren, dass das Gebäude den Winter übersteht. Vor allem die herausgesprengten Fenster mussten schnell repariert werden. Das konnten wir mit Geldern der Gemeindeverwaltung finanzieren.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ich die Schule am 1. September wieder öffne und die Kinder wieder zurückkommen. Wir möchten gerne wieder vor Ort unterrichten, oder zumindest hybrid: offline und online.
„Luftschutzkeller mit Internet für den Unterricht bei Luftalarm“
Im Luftschutzkeller richten wir dafür Internet ein, damit die Kinder auch während des Luftalarms den Unterricht fortsetzen können. Rund 500 Schüler besuchen die Schule, aber im Keller ist nur Platz für 250. Deshalb wird es zwei Schichten geben, eine am Morgen und eine am Nachmittag.“
Acht Monate lang lag die Kleinstadt Selenodolsk in der Region Dnipropetrowsk nur sechs Kilometer von der Frontlinie entfernt, umgeben von besetztem Gebiet. Seit der erfolgreichen Befreiung der Umgebung liegt die Frontlinie auf der anderen Seite des nahegelegenen Dnipro. Jenseits des mittlerweile leeren Flussbettes erhebt sich in 70 Kilometer Luftlinie das besetzte Atomkraftwerk Saporischschja und stellt eine unkalkulierbare Gefahr für die Region dar.
Sofija Kowtun (13), Schülerin, Selenodolsk (Region Dnipropetrowsk)
„Ich gehe seit der ersten Klasse in diese Schule, im September komme ich in die achte Klasse. Und ich habe vor, meinen Schulabschluss hier zu machen! Ich freue mich schon auf das nächste Schuljahr und darauf, meine Klassenkameraden und besten Freunde wiederzusehen. Endlich können wir wieder zusammen zur Schule gehen. Vor dem großen Krieg waren wir 27 Schüler in der Klasse, jetzt sind wir 24. Ich habe auch zwei neue Klassenkameraden, die aus Cherson geflohen sind.
„Es gibt draußen keinen Ort zum Treffen und Spielen“
Das letzte Schuljahr war schwierig wegen des Online-Unterrichts. Dafür habe ich beim Regionalwettbewerb mitgemacht: in meinem Lieblingsfach Ukrainische Sprache und Literatur. Ich mag auch Fremdsprachen. Und ich spiele gerne Gitarre und lese Bücher. Im Moment gibt es keinen Ort, an dem ich mich mit anderen treffen und draußen spielen kann. Die Sommerferien sind dieses Jahr ganz anders.
Wovon ich träume? Erstens davon, dass der Krieg aufhört und es Frieden gibt. Und zweitens, dass ein Nachbarland zum Ozean wird.“
Sofijas Vater kämpft in der Nähe von Luhansk, ihr Onkel bei Bachmut.
Olena Kulija (48), Schulleiterin, Charkiw (Region Charkiw)
„Diese Schule ist mein Leben. Ich wurde selbst hier eingeschult und mit 18 Jahren begann ich, während meiner Lehrerausbildung hier zu arbeiten. Unsere Schule ist ein integrativer Bestandteil des Viertels.
„Die Nachbarn wärmten sich an den Holzöfen“
Mittlerweile kommen auch viele ältere Nachbarn ins Schulgebäude. Hier wird für sie gekocht, und im vergangenen Winter konnten sie sich an den Holzöfen wärmen und die Stromanschlüsse nutzen.
In den ersten Monaten verschanzten sich bis zu 300 Menschen bei uns im Keller, dicht an dicht, auf den Stühlen und auf dem Boden. Die Nacht des 13. März war die schlimmste. Die ganze Schule bebte, die komplette Nachbarschaft wurde bombardiert. Als wir am nächsten Morgen hinausgingen, fanden wir 12 Granatenhülsen auf dem Schulgelände. Die Schule war voll mit Granatsplittern.
„Ich muss dafür sorgen, dass der Luftschutzkeller bis zum 1. September fertig wird“
Wir haben das Ziel, die Schule am 1. September wieder für die Schüler zu öffnen. Die Kinder haben den Online-Unterricht satt. Und die Eltern auch. Ich muss dafür sorgen, dass das Dach und der Luftschutzkeller bis dahin fertig sind. Von den 45 Lehrern flohen anfangs etwa 30 Prozent – aber inzwischen sind alle wieder zurück.“
Das „Lyzeum Nr. 75“ liegt im Industrieviertel von Charkiw im Osten der Ukraine und ist von Plattenbauten und Fabriken umgeben. Die Schülerinnen und Schüler kommen hauptsächlich aus Arbeiterfamilien.
Lera* (7), Schülerin & ihre Mutter Wika* (42), Apostolowe (Region Dnipropetrowsk)
Lera: „Unsere Schule war sehr schön und modern, deshalb bin ich sehr gern hingegangen. Ich mag Online-Unterricht nicht. Es gibt keine Gespräche. Ich vermisse meine Klassenkameraden und Lehrer. Meine beste Freundin Camilla ist jetzt in Deutschland.“
„Das Klassenzimmer meiner Tochter wurde von einer Rakete getroffen“
Wika: „Wir wohnen ganz in der Nähe der Schule, und als wir die Explosion hörten, sind wir in den Flur geflüchtet. Es war am 22. Juni 2022 um 2:22 Uhr nachts. Es war wie ein Donnerschlag. Vorher gab es keine Sirenen. Dann sahen wir von der Küche aus, dass ein Teil der Schule fehlte. Ich war sehr schockiert. Später erfuhr ich, dass eine der Raketen das Klassenzimmer meiner Tochter getroffen hatte. Wir fühlten uns wie in einem Nebel. Wir haben nicht verstanden, was passiert ist. Es hat eine Woche gedauert, bis wir das realisiert haben. Wir hoffen, dass die Schule wieder aufgebaut wird.“
Das Lyzeum Nr. 1 in Apostolowe galt als die modernste Schule der Region. Aufgrund der massiven Zerstörung ist vorerst nicht mit ihrem Wiederaufbau zu rechnen. In derselben Nacht, in der die Schule bombardiert wurde, trafen russische Raketen auch zwei weitere Schulen in Apostolowe.
Oksana Pomylajko (49), Schulleiterin & Olha Kysym (56), Bildungsreferentin, Petschenihy (Region Charkiw)
Oksana: „Am 1. September 2022 schlug eine russische Rakete in die Schule ein. Nur fünf Tage später eine zweite. Ich wohne direkt neben der Schule, und mein Haus wurde auch getroffen. Bis heute hören wir jede Nacht den Beschuss in der Ferne.
„Wegen der ständigen Stromausfälle immer wieder Probleme mit dem Internet“
Ich hoffe, dass wir die Schule am 1. September wieder öffnen dürfen. Zumindest für Hybridunterricht. Denn egal, wie gut es online läuft, offline ist immer besser. Wenn die Kinder nicht rausgehen können, bedeutet das Stress für sie. Es ist sehr wichtig, mit ihnen eine lebendige Beziehung aufzubauen. Außerdem hatten wir wegen der ständigen Stromausfälle immer wieder Probleme mit der Internetverbindung, und nicht alle Familien können sich Laptops leisten. Von unseren 447 Schülern sind nur zehn im Ausland. Wir haben es geschafft, unsere Schüler zu halten.
Die Menschen verlassen sich auf uns. Ich gehe jeden Tag in die Schule, um die Renovierung des Daches, der Fenster und der Klassenzimmer zu kontrollieren.“
Auf dem Lehrplan: Minensicherheit
Olha: „Für das nächste Schuljahr planen wir einen neuen Kurs zum Thema ‚Minensicherheit‘. Um uns herum war besetztes Gebiet, deshalb gibt es viele Minenfelder in der Umgebung. Wir müssen den Kindern einbläuen, dass sie nicht zum Fluss und in den Wald gehen dürfen.“
Am 24. Juli 2022 verlor Oksana Pomylajko ihre Mutter durch russischen Beschuss.
Der Besuch der Schulen durch unseren Autor Christian-Zsolt Varga wurde durch die tschechische NGO „People in Need“ ermöglicht, die zerstörte Schulen in den Regionen Dnipropetrowsk, Charkiw und Sumy finanziell und logistisch aus Mitteln der Europäischen Kommission beim Wiederaufbau unterstützt.
* Wika und Lera möchten nicht mit vollem Namen genannt werden.
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