Die letzten Romantiker Europas
In der Ukraine möchte man dazugehören – zu Europa. Als letzte Romantiker Europas glauben sie daran, dass die Europäische Union für ein Leben Wohlstand und Würde steht. Jedoch gibt es auch kritische Stimmen, die nicht blind Anweisungen aus Brüssel folgen wollen.
Ich habe mich immer über die Metamorphose der ukrainischen Fahrer gewundert, die die ukrainische Grenze zu einem beliebigen EU-Land – etwa zu Polen – überquerten. Aus unverhohlenen Gesetzesbrechern, die eben noch überhöhter Geschwindigkeit den Staub in den Grenzdörfern aufwirbelten, und Fußgänger, die sich anschickten, den Zebrastreifen zu betreten, mit Schimpfwörtern überzogen, wurden mit einem Mal tadellose Musterchauffeure, die sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten, die Scheinwerfer einschalten, den Sicherheitsgurt anlegen und die Ampelphasen achten. Die magische Vorstellung von einem ordentlichen, gesetzestreuen und kultivierten Europa brachte die Ukrainer dazu, zumindest ein klein wenig zu Europäern zu werden, sobald sie ihren Bleifuß in die Europäische Union gesetzt hatten. „In Europa wird ein solches Verhalten nicht akzeptiert“, „das hier ist nicht die Ukraine“, so erklärten einige der Betroffenen die wundersame Verwandlung – nur um sich von diesem Bild von Europa abzuwenden, kaum dass sie wieder in die Ukraine zurückgekehrt waren.
„Euro“ = gut. Oder?
Darüber hinaus ist dieser Tage in der Ukraine ein neues, gegenläufiges Phänomen zu beobachten: Dass sich nämlich Besitzer von Fahrzeugen mit europäischen – polnischen, litauischen und so fort – Kennzeichen wie die Herren über die ukrainische Straße aufführen und Regeln derart brechen, als hätte ihre letzte Stunde hinter dem Steuer geschlagen. Die Bezeichnung „Euroblechwichser“[ukrainisches Schimpfwort von „Євробляхи“], wie solche Fahrer in der Bevölkerung genannt werden, ist wahrscheinlich das erste ukrainische Wort, in dem das Präfix „Euro“ stärker negativ als positiv konnotiert ist. Bis dato hatten sämtliche mit „Euro“ versehenen Begriffe eine ausschließlich positive und makellose Färbung – von Eurostandards bis hin zu Eurofenstern.
Wer weiß, vielleicht stehen die „Euroblechwichser“ ja in Wirklichkeit für eine komplexere und differenziertere Lesart des Wandels der in der Ukraine vorherrschenden Stimmung gegenüber dem europäischen Kurs: nicht alles, was die vier Buchstaben „Euro“ enthält, ist automatisch ein Segen. Und bisweilen dient das „Euro“-Labelling lediglich der Schönfärberei postsowjetischer Praktiken. Fairerweise sollte man darauf hinweisen, dass die Desavouierung von allem, was mit dem Label „Euro“ veredelt wird, nicht erst durch die „Euroblechwichser“ ins Rollen gebracht wurde. Dies begannen jene, die, vor EU-Flaggen posierend und das Mantra von europäischen Reformen herunterbetend, alte Schemata und Praktiken fortsetzten und damit vor Augen führten, dass selbst mit einer europäischen „Nummer“ alles beim Alten bleiben kann. Die ukrainischen Fahrer, die auf europäischen Straßen unterwegs sind, fahren schließlich auch bloß nach Vorschrift und nennen das Ganze dann nicht etwa „Eurofahrweise“ oder „Eurofahrt“.
Im Grunde genommen ist die Fahrweise in der Ukraine nicht einfach nur Ausdruck der Einhaltung (oder besser gesagt: der Nichteinhaltung) von Vorschriften und Regeln und ihrer Wertschätzung. Vielmehr steht dieser Umstand in krassem Widerspruch zur Befolgung der Regeln innerhalb der europäischen Union nach der Grenzüberfahrt der Ukrainer, und zeugt zugleich von unserem Grad an Europäisierung mit Blick auf das Maß an Verantwortung und die Haltung zum menschlichen Leben – jenen Dingen also, die die Ukrainer traditionell von den Europäern unterscheiden. Leider macht das leichtsinnige Verhalten auf den Straßen deutlich, dass sehr viele Ukrainer nach wie vor unverantwortlich nicht nur mit dem Leben anderer, sondern auch mit eigenen Leben umgehen. Fast so, als wäre das menschliche Leben nicht der höchste Wert. Hier nun – aufgepasst! – eine Frage: Ist eine Person mit einer verantwortungslosen Haltung zu seinem eigenen Leben in der Lage, verantwortungsvoll seinen Pflichten als Bürger und gegenüber seinem Staat nachkommen? […]
Offensichtlich geht es uns um mehr als die bloße Anerkennung geographischer Tatsachen, wenn wir „Ukraine = Europa“ ausrufen. Doch gleichwohl wie oft wir den Slogan auch voller Inbrunst wiederholt haben, so begreifen wir doch, dass das „wahre“ Europa dort, in der EU, liegt – von der Schweiz und Norwegen einmal abgesehen.
Der Traum von der Europäischen Union
Und die Sache mit der EU wird bei uns immer komplizierter. Paradox, aber wahr: wir nähern uns einander an, und doch entfernen wir uns immer weiter von der Mitgliedschaft. Haben wir früher versucht, uns an den letzten Waggon des Zuges zu hängen, der sich in Richtung des leuchtenden europäischen Traumes bewegte, so werden wir jetzt immer häufiger das Gefühl nicht los, dass wir versuchen, uns mit Müh und Not am Euroexpress festzukrallen, und sei es nur am Trittbrett, der mit irrwitziger Geschwindigkeit in eine Richtung rast, die niemand kennt.
Je näher die Ukraine an die EU rückt, desto vielschichtiger wird zugleich das Bild von ihr. Während die Europäische Union für die einen (die Mehrheit) für ein Leben in Wohlstand und Würde steht, sehen die anderen (die Minderheit, aber in mächtigeren Positionen) in ihr Verarmung. Bei einem informellen Treffen gab ein prominenter europäischer Politiker zu: „Es gelingt mir nicht, den ukrainischen Kollegen klar zumachen, dass man gleichzeitig die Regeln einhalten und in Wohlstand leben kann“. Den Litauern fiel die EU-Integration leicht – sie hatten wenig zu verlieren. In der Ukraine steht bedauerlicherweise für eine große Anzahl an Akteuren zu viel auf dem Spiel.
Für die einen ist die Europäische Union der Weisheit letzter Schluss. Was auch immer sie rät – es wird schon seine Richtigkeit haben. Die Menschen glauben in dem Maße an die Zauberkräfte Brüssels, in dem sie von der Gestaltungsmacht des ukrainischen Staates desillusioniert werden. Es heißt, einst seien die Italiener innerhalb der EU auch die nahezu größten Euro-Enthusiasten gewesen, weil sie Brüssel als handlungsfähiger erachteten als ihre eigenen, bisweilen dysfunktionalen Regierungen. Und dann erschien das „Euro-Diktat“ in Gestalt der berühmt-berüchtigten europäischen Bürokratie auf der Bildfläche. Heute zählen die Italiener unter den EU-Mitgliedstaaten zu den großen – wenn nicht den größten – Euroskeptikern.
Für die anderen ist die EU nicht mehr als ein situativer politischer Unterschlupf. Bisweilen auch ein Reserve-Geldautomat, gleich nach dem IWF. Sie wollen keinen neuen Kreml, der lediglich die Gestalt eines modernen Glasbaus angenommen hat und in der belgischen Hauptstadt situiert ist. In diesem Zusammenhang stellt sich übrigens die Frage, ob die Ukrainer nicht vielleicht zu wenig Gelegenheit hatten, sich an ihrer Souveränität zu erfreuen, um stante pede einen Teil davon freiwillig wieder auf-zugeben? […]
Viele Ukrainer verlieren nicht nur die Geduld und den Willen, sich ein Leben in der Zukunft auszumalen („nun, noch eine Wahl, dann kommen die Dinge wirklich ins Rollen“, „wenn schon nicht wir, dann sollen unsere Kinder und Enkel ordentlich leben“). Sie verlieren ihre Phantasie. Sie können sich nicht vorstellen, dass ihr kleines Städtchen irgendwo in der Region Chmelnyzkyj nicht schlechter aussehen muss als das Städtchen bei Breslau, zu dem sie regelmäßig zurückkehren, um Geld für ein würdevolles Leben in der Ukraine zu verdienen. Vielleicht würde es sich lohnen, auf die Erfahrung eines Architektur- oder Designerbüros zurückzugreifen und eine 3D-Visualisierung davon zu erstellen, wie eine „europäische Ukraine“ aussehen könnte, nachdem Reformen analog zu jenen in Polen umgesetzt würden? […]
Die Ukrainer, ohne Vertrauen in ihre eigene Zukunft, glauben stärker an die EU als diese an sich selbst. Für uns ist sie nicht einfach nur ein „global payer“, sondern eindeutig ein „global player“. Wir können wohl in der Tat den Titel „die letzten Romantiker Europas“ für uns beanspruchen. […]
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die gekürzte Übersetzung des von Alyona Hetmanchuk verfassten Vorwortes zum Essay-Sammelband „Nova Yevropa“, der von Kateryna Zarembo im L’viver Verlag „Stariy Lev“ herausgegeben wurde. Die Arbeit des Übersetzers Johann Zajaczkowski wurde durch ein Initiativstipendium des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
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