Volkszählung in der Ukraine: demografischer Niedergang unvermeidlich?
In der Ukraine wurde die erste offizielle Volkszählung seit 2001 durchgeführt. Demnach hat das Land deutlich weniger Einwohner als bisher angenommen. Doch die statistische Methodik ruft Kritiker auf den Plan. Sébastian Gobert über die demografischen Veränderungen.
Volkswirtschaften profitieren von genauen Statistiken, vor allem die Ukraine. Doch als am 23. Januar 2020 die Ergebnisse der ersten elektronischen Volkszählung präsentiert wurden, sorgten die lang ersehnten Zahlen für einen regelrechten Schock: Rund 37,3 Millionen Menschen lebten am Stichtag, dem 1. Dezember 2019, im Land, wie der Kabinettminister und Leiter des staatlichen Statistikdienstes Dmytro Dubilet bekannt gab. Die Zahlen bedeuten einen rapiden Rückgang der ukrainischen Bevölkerung. Ein sattes Minus von 28,3 Prozent.
Dubilet spricht von einem neuen Rekordtief innerhalb des Abwärtstrends, der sich seit der letzten gesamtsowjetischen Bevölkerungserhebung im Jahr 1989 eingestellt hat. Damals lebten in der Ukraine noch 52 Millionen Menschen. Bereits zehn Jahre später verringerte sich die Anzahl auf 48,2 Millionen. In den Jahren von 2014 bis 2019 sprach Petro Poroschenko während seiner Präsidentschaft von 46 Millionen Einwohnern.
Mit ihrem kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang steht die Ukraine nicht alleine da. Es handelt sich dabei um eine regionale Entwicklung, die von internationalen Experten schon lange beobachtet wird. Laut den Vereinten Nationen befinden sich die zehn Länder mit den am schnellsten abnehmenden Bevölkerungsgruppen allesamt im postkommunistischen Mittel- und Osteuropa.
Trotzdem sind die aktuellen ukrainischen Ergebnisse nicht nur Teil eines regionalen Trends. Sie stehen für die mangelhaften Rahmenbedingungen, die der Staat für seine Bevölkerung geschaffen hat.
Eine einzigartige Volkszählung
Doch seit der Bekanntmachung der Zahlen rufen Dubilet und seine Bevölkerungsstatistik auch Kritiker auf den Plan. Sie stellen die Methode der Zählung infrage. Ich möchte die Ergebnisse hier ebenso analysieren wie die „Dubilet-Formel“ selbst, die sich hinter dem Zensus verbirgt.
Es scheint außerdem wichtig, sich den Optimismus in Erinnerung zu rufen, den Präsident Wolodomyr Selenskyj in seiner Amtsantrittsrede anklingen ließ. „Wir sind 65 Millionen Ukrainer!“, rief er damals. Es war der Versuch, die ukrainische Diaspora und Expats dazu zu verleiten, die Beziehung zu ihrem Heimatland wieder aufzufrischen. Dass er diesen Aufruf noch nicht in eine wirksame Strategie umgewandelt hat, zeigt wie schwierig es ist, die Ukraine attraktiv zu machen und den demografischen Rückgang aufzuhalten.
Laut Minister Dubilet gibt es für die Bevölkerungsabnahme drei Hauptgründe. Zum einen war es unmöglich, die Erhebung in jenen Gebieten durchzuführen, die nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung stehen. Rund zwei Millionen Menschen lebten im März 2014 auf der Halbinsel Krim, bevor sie von Russland annektiert wurde. Es wird davon ausgegangen, dass rund drei Millionen Menschen in den selbst ausgerufenen Republiken von Donezk und Luhansk leben. Bis auf die Rentner, die ihren Wohnsitz noch immer auf ukrainischem Boden haben, eigentlich aber in den unkontrollierten Gebieten leben, wurde damit ein beachtlicher Teil der Bevölkerung bei der Zählung nicht berücksichtigt.
Zum anderen schätzt Dubilet, dass „rund vier Millionen Menschen die Ukraine im Laufe der letzten zehn Jahre verlassen haben, um im Ausland zu leben und zu arbeiten.“
Außerdem ist die Geburtenrate laut dem staatlichen Statistikdienst zurückgegangen. Im Jahr 2018 kamen auf tausend Einwohner 58 Geburten – und 100 Todesfälle. Im Unterschied zu westeuropäischen Ländern gibt es in der Ukraine praktisch keine Einwanderung, die der aus dem Gleichgewicht geratenen demografischen Entwicklung entgegenwirken könnte.
Das Mindeste, was man über die Volkszählung sagen kann ist, dass Dubilet und sein Team innovativ waren. Sie forderten Daten von Mobilfunkanbietern an und kombinierten diese mit soziologischen Umfragen, öffentlichen Registern und Listen, auf denen die Empfänger staatlicher Unterstützung, Steuerzahler und Antragsteller für Reisepässe genannt werden. Um Informationen über die Geschlechterverteilung zu erhalten, griff das Team auf die Register der staatlichen Rentenkasse zurück. Demnach sollen 20,01 Millionen Frauen und 17,3 Millionen Männer im Land leben.
Auf all diesen Daten fußt die aktuelle Bevölkerungsstatistik. Laut dem Minister waren die Kosten für ihre Durchführung minimal.
„Köpfe zählen“
Laut der Soziologin Iryna Bekeschkina steckt der Teufel im Detail. Sie erinnert daran, dass viele Ukrainer zwei Telefone besitzen und dass die Mobilkunden ihre SIM-Karten oft nicht selbst kaufen. Dass zehntausende Binnenflüchtlinge ihren offiziellen Wohnsitz noch nicht umgemeldet haben. Und es tausende sogenannter „Zarobitschany“, also Arbeitsmigranten gibt, die nicht final aus der Ukraine abgewandert sind, sondern zwischen den Ländern pendeln.
Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass es schwierig ist, valide Zahlen aus den vom Statistikdienst herangezogenen Daten zu ziehen. Das größte Problem an der „Dubilet-Formel“ sei, dass es sich dabei um ein „Köpfe zählen“ handle, meint Iryna Bekeschkina.
Ella Libanowa, die Direktorin des Instituts für Demografie und Soziale Studien, fügt hinzu: „Ein Land ist weder ein Gebiet noch eine Bank oder ein Unternehmen. Es ist wichtig, etwas über die Bildung der Menschen zu erfahren, ihre Lebensweise, ihre Lebenserwartung, ihren Status auf dem Arbeitsmarkt, ihre Religion, Muttersprache, etc.“ Nur wenn diese Zahlen stimmen, kann Politik sinnvoll geplant werden.
Ein Beispiel dafür, wie wichtig ein detaillierter Zensus wäre, ist Kyjiw. Rund 3,7 Millionen Menschen sollen in der Hauptstadt leben und damit rund ein Zehntel der ukrainischen Gesamtbevölkerung. Kyjiw zählt somit zu den bevölkerungsreichsten Städten Europas. Aber wie lassen sich U‑Bahn-Linien, Schulen und Krankenhäuser planen und bauen, wenn es keine genauen Zahlen zu den Einwohnern gibt?
Ukrainer im Ausland ansprechen
Ungeachtet der möglichen Fehlerquote in der veröffentlichten Statistik steht der rapide demografische Rückgang in den von der Regierung kontrollierten Gebieten im Kontrast zu jenem dynamischen und vielversprechenden Land, das Wolodomyr Selenskyj in seinen Reden stets anpreist. Denn während der Präsident regelmäßig Investoren, die Diaspora und erst kürzlich wieder die Ausgewanderten dazu drängt, „zurückzukommen und zu bleiben“, entscheiden sich immer mehr Ukrainer dazu, dem Land den Rücken zu kehren.
Im Dezember 2019 kündigte Selenskyj die Einführung eines neuen staatlichen Programms für die im Ausland lebenden Ukrainer an. Damit sollen Anreize für potentielle Heimkehrer geschaffen werden. Doch bisher wurden nur wenige Details dazu bekanntgegeben. Etwa, dass es günstige Darlehen für Unternehmensgründungen im Land geben soll.
Auch hat sich bisher keine Regierung der unabhängigen Ukraine ernsthaft damit befasst, Geldüberweisungen von Privatpersonen aus dem Ausland zu kontrollieren. Im Jahr 2018 flossen dabei rund 12,7 Milliarden Euro ins Land.
Damit dieser finanzielle Mehrwert und die positiven Erfahrungen und Fähigkeiten der im Ausland lebenden Ukrainer wieder zurückgeholt werden können, müsste die Wertschätzung für die Ukraine wieder wachsen. Die nationale Gemeinschaft müsste über die Grenzen hinweg gestärkt werden und im Interesse der eigenen Heimat handeln, so wie das in Irland, Italien oder Ungarn der Fall war.
Im Falle der Ukraine bedürfte das einer Reform staatlicher Institutionen und bessere Perspektiven für die ukrainische Bevölkerung. Und damit viel mehr, als nur das Bild eines Landes zu vermitteln, das seine Bevölkerung verliert. Der Zensus, der nach der „Dubilet-Formel“ durchgeführt wurde, stellt einen weiteren Test für Selenskyjs Ambitionen dar, die Ukraine zu verändern; egal, ob er ein Land mit 37,3 Millionen Menschen regiert oder sich an eine nationale Gemeinschaft von 65 Millionen wendet.
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