Emanzipation vom „Brudervolk“ als Folge der russischen Agression
In acht Jahren russischer Aggression hat sich die ukrainische Gesellschaft unablässig von der russischen emanzipiert. Nur noch 20 Prozent können sich mit der Idee einer Union mit Moskau anfreunden. Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob Russland weitere ukrainische Gebiete langfristig effektiv kontrollieren könnte, schreibt Serhii Schapowalow.
Seit nunmehr acht Jahren führt die Russische Föderation einen hybriden Krieg gegen die Ukraine. Im Jahr 2021 hat sich die Wahrscheinlichkeit einer groß angelegten russischen Invasion durch die Anhäufung russischer Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze deutlich erhöht. Daher müssen die Ukrainer und die Führung des Landes für das nächste Jahr unter Bedingungen planen, die eine existenzielle Bedrohung für sie darstellen.
Um die Reaktion der Ukraine auf eine Situation vorhersehen zu können, in der Russland sich zu einer Invasion entschließen könnte, müssen wir die Veränderungen in der ukrainischen Gesellschaft seit der Revolution der Würde und dem Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 besser verstehen.
Wie hat sich das öffentliche Bewusstsein der Ukrainer seit 2014 verändert?
Die russische Aggression im Jahr 2014 hat die Einstellung der Ukrainer gegenüber Russland dramatisch verändert. Von Anfang der 2000er Jahre bis 2013 standen die Ukrainer der Idee eines Bündnisses mit Russland und Belarus überwiegend positiv gegenüber. Im Jahr 2014 änderte sich die Situation jedoch grundlegend. Inzwischen stehen nur noch etwa 20–25 % der Bürger einem Beitritt der Ukraine zum so genannten Unionsstaat positiv gegenüber.
Darüber hinaus gab es unter der Bevölkerung des Südens und Ostens der Ukraine, die historisch gesehen stärker russifiziert und wirtschaftlich an Russland gebunden sind, aufgrund der russischen Aggression einen Meinungsumschwung. Heute stehen nur noch etwa 20 Prozent der Bewohner dieser Regionen der Idee einer politischen und wirtschaftlichen Union mit Russland positiv gegenüber.
Darüber hinaus wächst die junge Generation im Süden und Osten der Ukraine in modernen ukrainischen Schulen und Universitäten auf, nutzt moderne Kommunikationsmittel und ist sich daher der aggressiven Rolle Russlands im aktuellen Konflikt im Donbas durchaus bewusst. Außerdem werden ihre Ansichten zunehmend pro-europäisch.
Trotz aller Versuche der russischen Führung und der russischen Propaganda, die russische Beteiligung am Krieg im Donbass zu leugnen, sind die meisten Ukrainer in allen Regionen davon überzeugt, dass heute ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine herrscht.
Darüber hinaus entfremdet sich die ukrainische Gesellschaft auch mental immer mehr von der russischen Gesellschaft. Dies spiegelt sich vor allem in der Interpretation der Ereignisse der gemeinsamen Geschichte wider. Während Russland eine strafrechtliche Verfolgung für die Gleichsetzung der Handlungen der UdSSR und Nazideutschlands bei der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs einführt, kommen die Ukrainer zu der Erkenntnis, dass es der Pakt zwischen Hitler und Stalin war, der den Krieg verursachte.
Die Ukrainer unterstützen auch das neue Sprachengesetz. Die meisten Ukrainer in allen Regionen des Landes sind der Meinung, dass alle Bürger die Staatssprache beherrschen sollten, dass Beamte die öffentliche Kommunikation auf Ukrainisch führen sollten und dass der Unterricht in staatlichen Bildungseinrichtungen ebenfalls auf Ukrainisch stattfinden sollte, wie es das neue Gesetz vorsieht.
Selbst in den historisch stärker russifizierten Regionen im Süden und Osten der Ukraine betrachtet die Hälfte der Bürger, die zu Hause auf Russisch kommunizieren, das Ukrainische als ihre Muttersprache, weil ihre Muttersprache ein Faktor ihrer politischen Identität ist.
Denn trotz aller Versuche der russischen Propaganda, die Ukrainer davon zu überzeugen, dass die Ukraine ein äußerst ineffizienter oder gar gescheiterter Staat ist, ist die große Mehrheit der Ukrainer stolz darauf, Bürger der Ukraine zu sein. Und angesichts der russischen Aggression ist dieser Stolz von durchschnittlich 45–50 Prozent vor 2013 auf einen Rekordwert von 72 Prozent im Jahr 2021 gestiegen.
Inwiefern helfen diese grundlegenden Veränderungen in der öffentlichen Meinung der Ukrainer bei der Vorhersage der Entwicklungen im Zuge der drohenden militärischen Eskalation?
Mit jedem Jahr entfremdet sich die ukrainische Gesellschaft mehr und mehr von der russischen, was ihre kulturelle und politische Identität, ihr historisches Gedächtnis, ihre Vorstellung von der außenpolitischen Ausrichtung der Ukraine und von den Werten betrifft, die beim Aufbau des Staates im Vordergrund stehen sollten.
Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob Russland in der Lage ist, ukrainische Gebiete zu besetzen und langfristig effektiv zu kontrollieren. Vor allem, wenn die Bevölkerung dieser Gebiete, wie wir gezeigt haben, geistig bereits weit davon entfernt ist, Russland zu unterstützen.
Dies ist der Grund, warum die ukrainische Gesellschaft auf Russlands Versuche, die Ukrainer einzuschüchtern, nicht mit Unterwerfung und der Bereitschaft zu politischen Zugeständnissen reagierte, sondern mit einem Flashmob unter dem Motto „Ukrainer werden Widerstand leisten“. Laut einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie äußerte etwa die Hälfte der Ukrainer den Wunsch, im Falle eines russischen Angriffs Widerstand zu leisten. Im Süden und Osten waren es immerhin fast ein Drittel (30 % und 26 %) die angaben, bewaffneten Widerstand leisten zu wollen.
Die ukrainische öffentliche Meinung und der Zustand der ukrainischen Streitkräfte lassen vermuten, dass russische Truppen im Falle einer Invasion sehr hohe Verluste an Personal und Ausrüstung erleiden würden. Außerdem ist zu erwarten, dass die Russen von der örtlichen Bevölkerung nicht akzeptiert werden und daher beträchtliche Ressourcen zum Halten der besetzten Gebiete aufwenden müssen.
Darüber hinaus wird Russland im Gegensatz zum Konflikt im Donbass seine Beteiligung an dem bewaffneten Konflikt nicht verbergen können, was zu einer weiteren Verschärfung der Sanktionen gegen die russische Führung und Wirtschaft durch die Verbündeten der Ukraine führen wird.
Diese Faktoren könnten eine Rolle spielen, die russische Führung von einer militärischen Invasion in der Ukraine abzubringen, was uns hoffnungsvoll auf das nächste Jahr blicken lässt.
Welche Schlussfolgerungen sollten die ukrainischen politischen Eliten und die westlichen Partner der Ukraine aus der öffentlichen Wahrnehmung der Ukrainer im Zuge einer möglichen russischen Aggression ziehen?
Die oben genannten Faktoren könnten ein wirksames Instrument zur Abschreckung Russlands sein, vorausgesetzt, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine und die politische Stabilität in der Ukraine andauern. Innenpolitische Stabilität ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass der ukrainische Staat und die ukrainische Gesellschaft die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel wirksam und entschlossen gegen Russland einsetzen können.
Die Ergebnisse der jüngsten Gespräche zwischen US-Präsident Joe Biden und dem russischen Präsidenten Putin haben jedoch Tendenzen erkennen lassen, dass der Westen nach Kompromissen mit Russland suchen könnte. Dies würde eine harte und konsequente Haltung Kijyws erfordern, um eine innere Destabilisierung der Ukraine zu verhindern.
Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, hat erklärt, dass die Vereinigten Staaten bereit sind, die Bemühungen zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu unterstützen.
Aufgrund der oben beschriebenen negativen Haltung gegenüber Moskau empfinden die meisten Ukrainer politische Zugeständnisse an Russland als inakzeptabel. Die Gewährung eines „Sonderstatus“ für die Separatistengebiete im Osten, eine Amnestie für die Separatisten sowie Kommunalwahlen zu den Bedingungen der von Russland kontrollierten Separatisten sind ebenfalls inakzeptabel.
Jede einzelne Maßnahme der ukrainischen Regierung in dieser Richtung wird von der Zivilgesellschaft als ungerechtfertigtes Zugeständnis an Putin und als Verrat an den eigenen nationalen Interessen empfunden werden – so dass es wohl zu Protesten kommt, sollte die ukrainische Regierung solche Schritte unternehmen. Solche Proteste hat es bereits gegen die Einrichtung von Beratungsgremien mit Separatisten-Vertretern und gegen den Rückzug ukrainischer Truppen von bestimmten Abschnitten der Kontaktlinie gegeben.
Daher sollte die Ukraine in ihrer Kommunikation mit westlichen Partnern erstens darauf bestehen, dass politische Zugeständnisse unmöglich sind, wenn nicht Artikel eins der Minsker Vereinbarung – ein Waffenstillstand (der von den von Russland kontrollierten Kämpfern systematisch verletzt wird) – umgesetzt ist. Zweitens sollte sie darauf bestehen, dass Russland, das seine Rolle leugnet und versucht, die Ukraine zu zwingen, direkt mit den Separatisten zu verhandeln, seine Verpflichtungen erfüllen muss.
Diese Taktik wird es der Ukraine ermöglichen, zivile Proteste und eine interne Destabilisierung zu vermeiden. Doch selbst dann wird Russland weiter versuchen, die ukrainische Gesellschaft durch Propaganda zu destabilisieren und interne Widersprüche zu schüren (mit Hilfe des „Wagnergate“, der Korruptionsskandale und anderer sensibler Themen). Um in einer solchen Situation eine Destabilisierung zu vermeiden, ist eine effektive Kommunikation zwischen den Behörden und der Zivilgesellschaft erforderlich (obwohl die letzte Pressekonferenz des Präsidenten in dieser Hinsicht ernsthafte Probleme aufzeigte).
Insgesamt könnte die Entwicklung der ukrainischen öffentlichen Meinung in den letzten acht Jahren ein Faktor sein, der eine neuerliche russische Aggression verhindert. Ebenso wichtig sind jedoch die Fähigkeit der ukrainischen Regierung, keine politischen Zugeständnisse an Russland im Donbass zu machen sowie eine wirksame Kommunikation mit der Gesellschaft zu gewährleisten.
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