Die Ein­sam­keit der Wahr­heit in Zeiten von Terror und Gewalt. Ein Gedicht von Ostap Slyvynsky

Gedenkwand für getötete Zivilisten
Foto: IMAGO /​ Andreas Stroh

Ostap Sly­vyn­sky schrieb vor wenigen Wochen ein Gedicht, das eine ebenso nüch­terne wie erschüt­ternde Bestands­auf­nahme dar­stellt: „Was ist Krieg?“. Der pol­ni­sche Schrift­stel­ler, Über­set­zer, Ver­le­ger und Unter­stüt­zer der Ukraine Krzy­sz­tof Czyżew­ski ver­fasste einen prä­gnan­ten Kom­men­tar dazu.

Die Ein­sam­keit der Opfer. Ein neues Campo di Fiori. Ein wei­te­rer Schei­ter­hau­fen für die Ketzer, die sich gegen die dumpfe Macht eines Impe­ri­ums erheben, gegen eine Posi­tion, die sich durch Unter­drü­ckung legi­ti­miert. Die Ukrai­ner haben welt­weit einiges an Soli­da­ri­tät erfah­ren. Doch blieb es zu wenig, um das Gefühl der Ein­sam­keit zu lindern. Wer in poli­ti­scher oder mili­tä­ri­scher Hin­sicht im Stich gelas­sen wird, kann immer noch ver­su­chen, etwas zu ver­han­deln, wenigs­tens in Teilen. Doch gibt es noch eine andere Art von Ver­las­sen­wer­den – sie hat mit dem anderen Zustand zu tun, in dem das Opfer lebt, mit seiner Ein­sam­keit in der Erfah­rung der Wahr­heit über die Gewalt und den Krieg. Es schmerzt der Tod der Nächs­ten, es schmer­zen Hunger, Schi­ka­nen und Zer­stö­rung, doch ebenso schmerzt – und oft sogar am meisten – die Ver­ein­sa­mung in der Wahr­heit. Die Welt – also wir /​ ich – kann die besten Absich­ten ver­fol­gen, sie kann ihre wohl­durch­dach­ten Argu­mente vor­brin­gen, kann sagen, nichts sei schwarz oder weiß, das ewige Mantra vom Frieden wie­der­ho­len und dass Huma­nis­ten die Finger von allen Waffen lassen sollten … Und der Gedanke, dass sie eben damit die Opfer des Krieges ver­let­zen und deren Ein­sam­keit ver­stär­ken – er kommt der Welt nicht einmal in den Sinn.

Was könnte getan werden? Einiges. Jede Form der Soli­da­ri­tät und Hilfe zählt. Wichtig ist, dass wir ver­ste­hen, dass mili­tä­ri­sche Hilfe für die Ukraine keine geson­derte Form der Unter­stüt­zung ist, sondern Teil der huma­ni­tä­ren Hilfe, die in ganz exis­ten­zi­el­ler Weise über Sein oder Nicht­sein ent­schei­det. Ich bin mir im Klaren darüber, dass das im Wider­spruch zu den Über­zeu­gun­gen vieler steht, wie es auch im Wider­spruch zu meinen eigenen stand. Aber eben das ist der Moment, in dem wir den Bann der Ein­sam­keit der Opfer durch­bre­chen können, oder wenigs­tens ver­su­chen, uns ihnen so weit wie möglich anzu­nä­hern. Ja, manch­mal auch um den Preis der Selbst­über­win­dung. Ich habe es im bela­ger­ten Sara­jevo ver­stan­den. Drei Jahre schon dauerte damals das Töten, Tau­sende Ein­woh­ner der Stadt hatten ihr Leben ver­lo­ren. Dazu erklang ein Weltor­ches­ter, das daran fest­hielt, dass unser Huma­nis­mus sich darauf beschrän­ken solle, den Opfern zu essen zu geben. Wer einmal die Ein­sam­keit von Men­schen an sich her­an­ge­las­sen hat, die als Opfer von Gewalt sterben, wird sie ein Leben lang mit sich tragen und die Welt mit anderen Augen sehen. Und bevor er bei jeder wei­te­ren Eska­la­tion von Gewalt seinem Recht­ha­ben das Wort über­lässt, wird er sich alle Mühe geben, den Stimmen der Opfer zuzu­hö­ren. Viel­leicht ist dies das Bedeu­tendste, was wir tun können, um ihre Ein­sam­keit zu durch­bre­chen – dass wir die Ver­ge­wal­tig­ten und Ermor­de­ten zu Wort kommen lassen, uns öffnen für die Wahr­heit der Ketzer, die sich gegen das ver­sklavte Denken erheben.

„Und die Ster­ben­den, die Ein­sa­men, /​ von der Welt bereits ver­ges­sen, /​ ihnen wurde unsere Sprache fremd /​ wie die Sprache eines alten Pla­ne­ten.” Doch ist noch nicht alles ver­lo­ren. Wir können darum ringen, dass ihre Sprache uns ver­ständ­lich wird. Die dann auch unser eigenes Spre­chen ver­än­dern wird, das den unschul­dig Ster­ben­den so schmerz­lich fremd klingt. Im Unter­schied zu Czesław Miłosz, der sein Gedicht „Campo di Fiori” außer­halb der Mauern des War­schauer Gettos schrieb, ver­fasste Ostap Sly­vyn­skyj sein Gedicht „Was ist Krieg“ mitten in der Ukraine. Es gibt noch eine Reihe wei­te­rer Unter­schiede hin­sicht­lich der Bedin­gun­gen und Umstände, die Ein­sam­keit der Opfer aber ist die gleiche, wie sich auch an der Uner­schüt­ter­lich­keit der­je­ni­gen, die „es immer besser wissen“, nichts geän­dert hat. Sie dauert bis heute. Doch auch unsere zwi­schen­mensch­li­che Dauer, die ange­sichts der sich tür­men­den Woge der Düs­ter­nis aber­mals wie ein Wunder anmuten möchte, ist noch immer möglich. Wir sind noch immer in der Lage, uns zu über­win­den, die eigene Hilf­lo­sig­keit zu über­schrei­ten – um es auf Ukrai­nisch zu sagen: pere­mohty –, um den Lehr­bü­chern, die ohne Autor­schaft der Opfer gedruckt werden, einige Seiten hin­zu­zu­fü­gen, die von der Wahr­heit der Ver­ein­sam­ten sprechen.

Aus dem Pol­ni­schen von Lothar Quin­ken­stein

 

Ostap Sly­vyn­sky

WAS IST KRIEG

Einmal viel­leicht wird ein Lehr­buch darüber geschrieben

wir aber werden nichts bei­tra­gen dazu

weil andere immer besser wissen was Krieg ist

weil andere es immer besser wissen

nun gut

doch ein Kapitel nur

ein ein­zi­ges lasst uns schreiben

ihr findet ja eh nicht genug Sekundärliteratur

um das Kapitel über das Schwei­gen zu verfassen

die nicht im Krieg waren wissen nicht was Schwei­gen ist

oder wissen es gerade viel besser als wir

die wir keine Ahnung davon haben

so wie die Fische nicht wissen was das Wasser ist das sie ernährt und was das Erdöl das sie erstickt

wie eine Feld­maus nichts von der Dun­kel­heit weiß die sie vor dem Raub­vo­gel ver­birgt die aber auch

den Raub­vo­gel ver­birgt dieses eine Kapitel

lasst es uns schreiben

weil ihr bekannt­lich kein Blut sehen könnt schrei­ben wir es mit Wasser

Wasser um das der Ver­wun­dete flehte als er nicht mehr schlu­cken konnte

und nur mehr darauf starrte

Wasser das durch ein zer­trüm­mer­tes Dach geflos­sen ist

Wasser das gute Dienste leistet wenn es Tränen ersetzt

Ja – wir kommen mit Wasser zu euch

wir hin­ter­las­sen keine unaus­lösch­li­chen Spuren auf euren

Slogans und Werten die wir derart miss­braucht haben

dass ihr sie euren Kindern nicht mehr zu ver­mit­teln wisst

so würde die Hand­voll Seiten unseres Kapi­tels aussehen

von denen ohnehin nur Wenige begrei­fen dass sie über­haupt beschrie­ben sind

 

ЩО ТАКЕ ВІЙНА

Колись можливо вирішать написати такий підручник

тільки нас не запросять у співавтори

бо інші завжди знають краще що таке війна

бо інші завжди знають краще

гаразд

але один розділ

один розділ віддайте нам

усе одно ви не знайдете додаткової літератури

це буде розділ про мовчання

хто не був у війні не знає що таке мовчання

або навпаки знає

це ми не знаємо

як не знають риби про воду що живить їх і нафту що їх убиває

як не знає миша-полівка про темряву що ховає її від шуліки але

й шуліку ховає так само

дозвольте нам написати цей розділ

я знаю що ви боїтеся крові тож ми напишемо його водою

водою яку просив поранений що вже не міг ковтати і просто

дивився на неї

водою яка текла крізь пробитий дах

водою яку можна використовувати замість сліз

так – ми прийдемо до вас із водою

ми не залишимо по собі незмивних слідів

на ваших гаслах і цінностях які ми так не за призначенням використали

що й дітям своїм ви вже не знаєте як їх показати

це будуть наші кілька сторінок

і лише дехто знатиме що вони не порожні

 

Über­set­zung: Khry­styna Dyakiv, Lothar Quinkenstein

Die Zeilen aus dem Gedicht von Czesław Miłosz in der Über­set­zung Karol Sau­er­lands, zitiert nach: Polen und Juden zwi­schen 1939 und 1968. Jed­w­abne und die Folgen. Berlin Wien 2004, S. 179.

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