Die Einsamkeit der Wahrheit in Zeiten von Terror und Gewalt. Ein Gedicht von Ostap Slyvynsky

Ostap Slyvynsky schrieb vor wenigen Wochen ein Gedicht, das eine ebenso nüchterne wie erschütternde Bestandsaufnahme darstellt: „Was ist Krieg?“. Der polnische Schriftsteller, Übersetzer, Verleger und Unterstützer der Ukraine Krzysztof Czyżewski verfasste einen prägnanten Kommentar dazu.
Die Einsamkeit der Opfer. Ein neues Campo di Fiori. Ein weiterer Scheiterhaufen für die Ketzer, die sich gegen die dumpfe Macht eines Imperiums erheben, gegen eine Position, die sich durch Unterdrückung legitimiert. Die Ukrainer haben weltweit einiges an Solidarität erfahren. Doch blieb es zu wenig, um das Gefühl der Einsamkeit zu lindern. Wer in politischer oder militärischer Hinsicht im Stich gelassen wird, kann immer noch versuchen, etwas zu verhandeln, wenigstens in Teilen. Doch gibt es noch eine andere Art von Verlassenwerden – sie hat mit dem anderen Zustand zu tun, in dem das Opfer lebt, mit seiner Einsamkeit in der Erfahrung der Wahrheit über die Gewalt und den Krieg. Es schmerzt der Tod der Nächsten, es schmerzen Hunger, Schikanen und Zerstörung, doch ebenso schmerzt – und oft sogar am meisten – die Vereinsamung in der Wahrheit. Die Welt – also wir / ich – kann die besten Absichten verfolgen, sie kann ihre wohldurchdachten Argumente vorbringen, kann sagen, nichts sei schwarz oder weiß, das ewige Mantra vom Frieden wiederholen und dass Humanisten die Finger von allen Waffen lassen sollten … Und der Gedanke, dass sie eben damit die Opfer des Krieges verletzen und deren Einsamkeit verstärken – er kommt der Welt nicht einmal in den Sinn.
Was könnte getan werden? Einiges. Jede Form der Solidarität und Hilfe zählt. Wichtig ist, dass wir verstehen, dass militärische Hilfe für die Ukraine keine gesonderte Form der Unterstützung ist, sondern Teil der humanitären Hilfe, die in ganz existenzieller Weise über Sein oder Nichtsein entscheidet. Ich bin mir im Klaren darüber, dass das im Widerspruch zu den Überzeugungen vieler steht, wie es auch im Widerspruch zu meinen eigenen stand. Aber eben das ist der Moment, in dem wir den Bann der Einsamkeit der Opfer durchbrechen können, oder wenigstens versuchen, uns ihnen so weit wie möglich anzunähern. Ja, manchmal auch um den Preis der Selbstüberwindung. Ich habe es im belagerten Sarajevo verstanden. Drei Jahre schon dauerte damals das Töten, Tausende Einwohner der Stadt hatten ihr Leben verloren. Dazu erklang ein Weltorchester, das daran festhielt, dass unser Humanismus sich darauf beschränken solle, den Opfern zu essen zu geben. Wer einmal die Einsamkeit von Menschen an sich herangelassen hat, die als Opfer von Gewalt sterben, wird sie ein Leben lang mit sich tragen und die Welt mit anderen Augen sehen. Und bevor er bei jeder weiteren Eskalation von Gewalt seinem Rechthaben das Wort überlässt, wird er sich alle Mühe geben, den Stimmen der Opfer zuzuhören. Vielleicht ist dies das Bedeutendste, was wir tun können, um ihre Einsamkeit zu durchbrechen – dass wir die Vergewaltigten und Ermordeten zu Wort kommen lassen, uns öffnen für die Wahrheit der Ketzer, die sich gegen das versklavte Denken erheben.
„Und die Sterbenden, die Einsamen, / von der Welt bereits vergessen, / ihnen wurde unsere Sprache fremd / wie die Sprache eines alten Planeten.” Doch ist noch nicht alles verloren. Wir können darum ringen, dass ihre Sprache uns verständlich wird. Die dann auch unser eigenes Sprechen verändern wird, das den unschuldig Sterbenden so schmerzlich fremd klingt. Im Unterschied zu Czesław Miłosz, der sein Gedicht „Campo di Fiori” außerhalb der Mauern des Warschauer Gettos schrieb, verfasste Ostap Slyvynskyj sein Gedicht „Was ist Krieg“ mitten in der Ukraine. Es gibt noch eine Reihe weiterer Unterschiede hinsichtlich der Bedingungen und Umstände, die Einsamkeit der Opfer aber ist die gleiche, wie sich auch an der Unerschütterlichkeit derjenigen, die „es immer besser wissen“, nichts geändert hat. Sie dauert bis heute. Doch auch unsere zwischenmenschliche Dauer, die angesichts der sich türmenden Woge der Düsternis abermals wie ein Wunder anmuten möchte, ist noch immer möglich. Wir sind noch immer in der Lage, uns zu überwinden, die eigene Hilflosigkeit zu überschreiten – um es auf Ukrainisch zu sagen: peremohty –, um den Lehrbüchern, die ohne Autorschaft der Opfer gedruckt werden, einige Seiten hinzuzufügen, die von der Wahrheit der Vereinsamten sprechen.
Aus dem Polnischen von Lothar Quinkenstein
Ostap Slyvynsky
WAS IST KRIEG
Einmal vielleicht wird ein Lehrbuch darüber geschrieben
wir aber werden nichts beitragen dazu
weil andere immer besser wissen was Krieg ist
weil andere es immer besser wissen
nun gut
doch ein Kapitel nur
ein einziges lasst uns schreiben
ihr findet ja eh nicht genug Sekundärliteratur
um das Kapitel über das Schweigen zu verfassen
die nicht im Krieg waren wissen nicht was Schweigen ist
oder wissen es gerade viel besser als wir
die wir keine Ahnung davon haben
so wie die Fische nicht wissen was das Wasser ist das sie ernährt und was das Erdöl das sie erstickt
wie eine Feldmaus nichts von der Dunkelheit weiß die sie vor dem Raubvogel verbirgt die aber auch
den Raubvogel verbirgt dieses eine Kapitel
lasst es uns schreiben
weil ihr bekanntlich kein Blut sehen könnt schreiben wir es mit Wasser
Wasser um das der Verwundete flehte als er nicht mehr schlucken konnte
und nur mehr darauf starrte
Wasser das durch ein zertrümmertes Dach geflossen ist
Wasser das gute Dienste leistet wenn es Tränen ersetzt
Ja – wir kommen mit Wasser zu euch
wir hinterlassen keine unauslöschlichen Spuren auf euren
Slogans und Werten die wir derart missbraucht haben
dass ihr sie euren Kindern nicht mehr zu vermitteln wisst
so würde die Handvoll Seiten unseres Kapitels aussehen
von denen ohnehin nur Wenige begreifen dass sie überhaupt beschrieben sind
ЩО ТАКЕ ВІЙНА
Колись можливо вирішать написати такий підручник
тільки нас не запросять у співавтори
бо інші завжди знають краще що таке війна
бо інші завжди знають краще
гаразд
але один розділ
один розділ віддайте нам
усе одно ви не знайдете додаткової літератури
це буде розділ про мовчання
хто не був у війні не знає що таке мовчання
або навпаки знає
це ми не знаємо
як не знають риби про воду що живить їх і нафту що їх убиває
як не знає миша-полівка про темряву що ховає її від шуліки але
й шуліку ховає так само
дозвольте нам написати цей розділ
я знаю що ви боїтеся крові тож ми напишемо його водою
водою яку просив поранений що вже не міг ковтати і просто
дивився на неї
водою яка текла крізь пробитий дах
водою яку можна використовувати замість сліз
так – ми прийдемо до вас із водою
ми не залишимо по собі незмивних слідів
на ваших гаслах і цінностях які ми так не за призначенням використали
що й дітям своїм ви вже не знаєте як їх показати
це будуть наші кілька сторінок
і лише дехто знатиме що вони не порожні
Übersetzung: Khrystyna Dyakiv, Lothar Quinkenstein
Die Zeilen aus dem Gedicht von Czesław Miłosz in der Übersetzung Karol Sauerlands, zitiert nach: Polen und Juden zwischen 1939 und 1968. Jedwabne und die Folgen. Berlin Wien 2004, S. 179.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.
