„Lebst du noch?“ – Persönliche Eindrücke von der ukrainischen Front
Zwischen Zusammenhalt und Angst – der in der Ukraine lebende, deutsche Schriftsteller Christoph Brumme schildert seinen Besuch bei Freunden an der Front.
In der Siedlung Blisnjuki im südlichen Oblast Charkiw ist der Schatten des Krieges sehr kurz, nur 30 Kilometer Luftlinie weiter ist die nächste Front, bei Barwenkowo. Vielleicht sind es auch nur 20 Kilometer, sagt mein Freund Jura, und die 30 Kilometer seien Wunschdenken. Unsere Gastgeberin Natascha stammt von dort, sie telefoniert manchmal mit Nachbarn, die dort geblieben sind, und fragt, ob ihr Haus noch steht. Seit vier Monaten hat sie keine Nachricht von ihrem Bruder mehr bekommen, der als Freiwilliger in der Territorialen Verteidigung (aus Reservisten und Freiwilligen bestehende Organisation der Ukrainischen Streitkräfte; Anmerk. der Red.) diente. Ungewiss, ob er noch lebt. Deshalb, sagt sie, muss sie so viel rauchen, auch mitten in der Nacht.
Jura hat mich hierher eingeladen. Wir hatten unser Treffen schon im Januar geplant, doch damals konnte er nicht kommen, weil sein Frontabschnitt zu heftig beschossen wurde. Das war einen Monat vor Beginn der großen Invasion, als ich mein Kriegstagebuch zu schreiben begann. Er warnte damals Freunde und Verwandte vor dem Krieg, aber kaum jemand wollte ihm glauben. Zu oft schon hatte Russland bedrohlich gehandelt. 2014 schon ließ Putin sich von seinem Oberhaus das Recht erteilen, die russische Armee in der Ukraine einzusetzen. Doch er hatte es nicht gemacht.
Wir sitzen im Park von Blisnjuki, und Jura erzählt von den dunklen Nächten an der vordersten Linie der Front, der „Nuller-Linie“, wo kein Licht und keine Autoscheinwerfer eingeschaltet werden dürfen und nicht geraucht werden darf. „Willst du leben, wirst du besser nicht rauchen.“ Das Glühen des Tabaks ist weit zu sehen und von Scharfschützen und Drohnen leicht zu erkennen.
Die Angst vor dem Erwachen
Jura gibt zu, dass er oft Angst hat. Der unangenehmste Moment sei sowieso das Aufwachen, wenn man erkennt, wo man sich befindet. Im Kampf und bei Beschuss hingegen ist der Adrenalinpegel so hoch, dass er keinen Schmerz spürt und wie im Rausch handelt. „Du weißt nie, was dich im nächsten Moment erwartet und deine körperlichen Fähigkeiten kennst du auch nicht. Wenn du später analysierst, was passiert ist, stellst du fest, dass du deine Handlungen nicht erklären kannst.“
Nach Beschuss mit Raketen und Granaten rufen sich die Soldaten gegenseitig zu „Lebend?“ Kein schöneres Wort als dieses: „Schiwoi, lebend.“ Wenn die Gefahr dann für den Moment vorbei zu sein scheint, will man ungemein viel trinken, das senkt den Adrenalinspiegel – weshalb es so wichtig ist, ständig genug Wasser bei sich zu haben.
In diesem Park wurde ich vor vielen Jahren mit Brot und Salz als Fahrradreporter aus Deutschland begrüßt. Ich fuhr beim Stadtfest eine Runde vor den Einheimischen, man ernannte mich zum Ehrenmitglied der Polizei und der Kosaken, beide Gruppierungen versprachen mir Schutz bis in alle Ewigkeit.
Freude passt nicht zu Krieg
Damals war das Zentrum des Parks noch nicht gepflastert, es gab noch keine überdachten Grillplätze, nicht so viele Papierkörbe, keine schönen Laternen. Doch mit der Dezentralisierungsreform bekam die Kommune in den letzten Jahren mehr Geld, vieles konnte in der Siedlung verbessert und verschönert werden. Das Schulgebäude wurde renoviert und bunt angestrichen, am zentralen Gehweg wurden überdachte Bänke aufgestellt. Auf dem See konnte man im letzten Jahr noch mit Katamaranen fahren, die Kinder tobten in Hüpfburgen herum, und Jura verkaufte und verschenkte zum Stadtfest Popcorn. Nun wird nur das Volleyballfeld noch zum Sporttreiben genutzt. Ausgelassene Freude passt nicht so recht zum Krieg.
Aber am Sonnabend tanzen wir doch und singen patriotische Lieder, besonders gern die Hits der Kriegssaison, „Bayraktar“ und „Kalina krasnaja“. Und keinerlei russischsprachige Lieder. Juras Freund Wowa bittet mich, unbedingt die Geschichte eines siebenjährigen Mädchens zu erzählen, dessen Mutter und Großmutter in Isjum von einer Rakete getötet wurden. Das Kind wurde von „Zigeunern“ aufgenommen, er „kaufte“ es von ihnen frei und übergab es einem Kindertransport nach Polen. Dann wurde die Tante des Mädchens hier in der Gegend gefunden, die bereit war, es aufzunehmen. Das Mädchen hatte inzwischen in Polen das erste Schuljahr erfolgreich absolviert.
Jura und Wowa kennen aber auch drei Leute von der Gegenseite. Wowa arbeitet bei der Kriminalpolizei in der Region Isjum. Unter seinen 50 Mitarbeitern gab es nur einen Verräter, der zu den Russen überlief, von denen aber gefoltert wurde. Jura kennt zwei frühere Klassenkameraden, die in den russländischen Donezker Truppen gegen die Ukrainer kämpfen. Einer rief ihn vor einiger Zeit an und drohte, ihn und die Ukrainer fertigzumachen.
Ordnungshüter Jura
Früher musste ich über Jura manchmal schmunzeln, weil er so deutsch war, so auf Ordnung bedacht, was auch sein Lieblingswort ist. Dass er Sergant bei der Polizei war, merkt man auch in der Freizeit. Getroffene Vereinbarungen wiederholt er immer mehrmals, als würde er sie protokollieren. Mich hatte er im Sommer 2009 vor der Tankstelle angesprochen, weil ich eine Fahrradpanne hatte, er bot seine Hilfe an. Überhaupt hilft er gern oder organisiert Hilfe, ob für das Abladen einer Fuhre Ziegelsteine oder indem er wie heute das Schutznetz um das Volleyballfeld herum aufrichtet und repariert.
Mit Kindern redet er so freundlich und hört ihnen so aufmerksam zu, als hätte er jahrelang als Erzieher im Kindergarten gearbeitet. An der Front schöpft er Kraft vor allem aus Kinderzeichnungen. „Ich beschütze sie wie meinen Augapfel. Sie sind immer bei mir. Wenn wir mehrere Tage an einem Ort sind, hänge ich die Bilder an die Wand und schaue sie an, diese Bilder erwärmen meine Seele.“
Für die Zukunft der Kinder kämpft er, das sei sein stärkstes Motiv, sagt er. Seine eigenen Kinder sind nun in Polen, auch das war ihm wichtig, denn in Sorge um die Familie kämpfen zu müssen, das würde ihn sehr beunruhigen. „Ein Soldat wird schwach und wehrlos, wenn in seinem Rücken seine Familie in Gefahr ist.“ Das Schlimmste wäre für ihn, Angehörige in der Besatzung oder in Gefangenschaft zu wissen. Er zeigt ein Video seiner Tochter Marina, die mit einer ukrainischen Flagge auf den Schultern vor einem polnischen Rathaus tanzt.
„Für tapferen Dienst“ an der Front wurde er nun mit dem gleichnamigen höchsten Orden der Nationalgarde ausgezeichnet. Jetzt gilt er in der Presse und bei Freunden und Bekannten offiziell als Held, obwohl er sich selbst nicht so bezeichnen möchte.
Sterben an der „Nuller-Linie“
Schon vier seiner Mitkämpfer wurden im jetzigen Krieg getötet, er weiß, wie hoch das Risiko ist, dort an der „Nuller-Linie“ zu sterben. Aber nie hat er erlebt, dass ukrainische Soldaten vom Schlachtfeld davongelaufen sind, und er wird das auch nicht tun. Übrigens spiele auch die Sprachenfrage im Krieg keine Rolle, erzählt er. „Jeder spricht so, wie er es kann. Wir verstehen uns perfekt, auch wenn wir schweigen. Die Menschen werden auf dem Schlachtfeld nicht nach Nationalität oder Religion getrennt, sondern nach Patronen.“
Ein besonderes Kapitel sind Frauen im Krieg. Sein Kommandeur ist eine junge Frau, deren Kompetenz und Tapferkeit er in den höchsten Tönen lobt. „Eine Frau muss nicht motiviert werden, denn der Wunsch, diejenigen zu schützen, die sie liebt, ist genetisch in ihr verankert. Im Zorn sind Frauen furchteinflößender als wir und sogar noch stärker. Ich sah sie kämpfen, und ich sah sie weinen und singen.“ Sogar für mich hat sie im Winter am Telefon ein Lied gesungen.
Jura hat keinen Zweifel daran, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. „Aber jetzt machen wir eine sehr schwierige Zeit durch. Wenn das Biest in die Enge getrieben wird, ist es am gefährlichsten“, warnte er im Interview mit der Lokalzeitung „Neues Leben“.
Froh sei er, weil die Menschen in der Siedlung Blisnjuki sich verändert haben. „Sie begannen, an die Ukraine und ihre Zukunft zu glauben. Vor der umfassenden Invasion habe ich bei vielen Landsleuten keine so selbstbewusste Liebe zur Heimat wie jetzt beobachtet.“ Beispielsweise denkt er da an Natascha, eine Köchin und Kellnerin im Restaurant, die ihr Bleiben in Blisnjuki, so nah an der Front, damit begründet, dass irgendwo auch ihr Sohn von einer gastfreundlichen Frau versorgt werde, der bei der Armee dient. Und so versorgt sie eben hier die Menschen. Mein Haus steht nicht mehr am Rande, sondern überall, das ist ein prägendes Motto, mit dem Ukrainerinnen und Ukrainer gemeinsam für ihr Überleben und für die Zukunft der Kinder kämpfen. Meine Heimat ist nicht nur der heimische Garten, sondern das ganze Land.
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