Pil­ger­reise ins Plattenbaugebiet

© Ramin Mazur

Einmal im Jahr pilgern tau­sende ortho­doxe Juden in die ukrai­ni­sche Klein­stadt Uman. In einem Plat­ten­bau­ge­biet feiern sie das jüdi­sche Neu­jahrs­fest Rosch-Hasch­a­nah. Denn mitten in dem Wohn­ge­biet aus Sowjet­zei­ten liegt der reli­giöse Führer Rabbi Nachman begra­ben. Inzwi­schen pilgern über fünf­zig­tau­send Juden aus aller Welt zum Neu­jahrs­fest in die Ukraine, das in diesem Jahr vom 29. Sep­tem­ber bis 1. Oktober dauert. Von André Eichhofer

In der ver­schla­fe­nen Pro­vinz­stadt Uman scheint die Zeit ste­hen­ge­blie­ben zu sein. Vieles erin­nert noch an Sowjet­zei­ten, auf den Straßen sieht man wenige west­li­che Auto­mar­ken, Platten- und Zie­gel­stein­bau­ten prägen den Ort zwei­hun­dert Kilo­me­ter weit von der Haupt­stadt Kyjiw.

Doch einmal im Jahr ver­wan­delt sich der Wohn­be­zirk unweit des Stadt­zen­trums in ein jüdi­sches Shtetl. 

Überall hängen Plakate mit hebräi­scher Schrift und wird kosche­res Essen gegen Schekel ver­kauft. Durch die stau­bi­gen Straßen drängen sich ortho­doxe Juden mit Bärten und Schlä­fen­lo­cken, mit gold­braun gestreif­ten Mänteln oder mit flachen Pelz-Strei­meln auf den Köpfen.

Schon bei der Anreise eine Woche vor dem Fest sind die Pilger am Flug­ha­fen Kyjiw in Fei­er­laune. Über zwei­hun­dert Flieger mit vor­wie­gend männ­li­chen Juden aus aller Welt sind letztes Jahr allein in Kyjiw gelan­det. Vor der Pass­kon­trolle am Flug­ha­fen Boris­pol warten schon hun­derte ortho­do­xer Juden, es geht chao­tisch zu, die Grenz­be­am­ten sind völlig über­for­dert. Plötz­lich fangen einige an zu singen und zu tanzen. Ein Sicher­heits­be­am­ter vom Flug­ha­fen in gelber Wester mit hebräi­schen Buch­sta­ben schafft Ordnung. Der Sicher­heits­mann sei selbst rus­si­scher Jude und lebe in Israel, sagt er. Er sei vom Flug­ha­fen­be­trei­ber ange­heu­ert worden, um die Ein­reise der Juden zu koor­di­nie­ren. Vor dem Flug­ha­fen stehen schon dut­zende Shut­tle­busse bereit, um die Pilger nach Uman zu bringen.

Das Ver­mächt­nis von Rabbi Nachman

Im 17. Jahr­hun­dert war ein Drittel der Bevöl­ke­rung in Uman Juden, die meisten waren Ärzte, Rechts­an­wälte oder Händler. Zum Bei­spiel hatte die Han­dels­fa­mi­lie Fein­stein eine Syn­agoge und ein Wai­sen­haus in der Stadt gebaut. Weil die Juden für die Stadt hohe Ein­künfte erziel­ten, erhiel­ten sie die glei­chen Rechte wie Polen. Doch war Uman auch Schau­platz grau­si­ger Pogrome, wie das der „Haj­da­ma­ken-Kosaken“, die dort 1768 bis zu zwan­zig­tau­send Juden ermordeten.

Rabbi Nachman war der Gründer des hebräi­schen Chas­si­dis­mus und ist 1808 nach Uman gezogen, um ein Zeichen der Erin­ne­rung an die Mas­sa­ker zu setzen. Der Rabbi, der an Tuber­ku­lose litt, erholte sich oft im 12 Jahre zuvor ange­leg­ten Park Sofijvka vor den Toren der Stadt. Kurz vor seinem Tod 1810 gab er seinen Nach­fol­gern die Bot­schaft, sein Grab min­des­tens einmal im Leben zum Neu­jahrs­fest zu besuchen.

Eine Legende sagt: Wenn die Gefolg­schaft von Rabbi Nachman in die Hölle kommt, zieht sie der Rabbi an den Haaren wieder raus. So ver­sam­mel­ten sich seine Jünger jedes Jahr an seinem Grab. 

Nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion waren Pil­ger­rei­sen in die Sowjet­union ver­bo­ten. Die Gläu­bi­gen wichen fürs Neu­jahrs­fest nach War­schau, Jeru­sa­lem oder Meiron aus. Im Zweiten Welt­krieg ermor­de­ten die deut­schen Besat­zer schät­zungs­weise 20 bis 25 Tausend Juden in Uman und zer­stör­ten den Fried­hof mit dem Grab von Rabbi Nachman. Die Sowjets bauten später auf dem Fried­hof neun­ge­schos­sige Wohn­häu­ser und legten eine Beton­platte auf das Grab von Rabbi Nachman. Aller­dings iden­ti­fi­zier­ten über­le­bende Juden das Grab im zemen­tier­ten Hin­ter­hof eines Wohn­hau­ses. Seitdem haben Juden aus den USA und Israel immer wieder ver­sucht, durch den Eiser­nen Vorhang zu schlüp­fen, um nach Uman zu kommen. In den Sieb­zi­gern reisten einige sogar mit inter­na­tio­na­len Flücht­lings­päs­sen oder gefälsch­ten Papie­ren in die Sowjet­union ein und besta­chen in Uman Haus­be­woh­ner, um heim­lich am zube­to­nier­ten Grab des Rabbis zu beten.

Mit der Pere­stroika 1988 kamen jüdi­sche Pilger all­mäh­lich leich­ter in die Sowjet­union. Die Nach­fol­ger des Reli­gi­ons­füh­rers durften das Grab ent­rüm­peln und für Zere­mo­nien sogar eine Halle errich­ten. Haben sich 1989 nur ein paar Tausend Juden in Uman zusam­men­ge­fun­den, sind es heute knapp über fünfzigtausend.

Auf der Puschk­in­straße sieht es heute aus wie in Israel

Heute hat Uman rund 80.000 Ein­woh­ner und sogar ein pro­vi­so­ri­sches israe­li­sches Kon­su­lat. Während des Neu­jahrs­fes­tes wird das Plat­ten­bau­ge­biet durch mehrere Poli­zei­kon­trol­len abge­schirmt – nur ortho­doxe Juden haben Zutritt. Wer die Poli­zei­kon­trol­len pas­siert hat, erlebt auf der Puschk­in­straße eine fest­li­che Stim­mung und laute Musik wie auf einem gut besuch­ten Konzert. Einige Männer klet­tern auf par­kende Autos, andere laufen auf den Dächern von Wohn­häu­sern herum, um das Grab von Rabbi Nachman besser sehen zu können.

Frauen wie­derum haben nach den jüdi­schen Regeln nur in Beglei­tung ihrer Männer Zutritt und tauchen bei den Fei­er­lich­kei­ten selten auf. Das Grab von Rabbi Nachman dürfen Frauen nur nachts besuchen. 

Die ganze Puschk­in­straße ist mitt­ler­weile so jüdisch geprägt, dass nur noch wenige Ein­hei­mi­sche hier wohnen. Ein ame­ri­ka­ni­scher Jude betreibt sogar eine Kantine mit 8000 Plätzen, in der in drei Schich­ten geges­sen wird. Über 70 jüdi­sche Groß­fa­mi­lien leben inzwi­schen dau­er­haft in Uman. Juden betrei­ben Kran­ken­trans­por­ter, Super­märkte mit kosche­ren Lebens­mit­teln und Hotels. Pilger, die sich während des Neu­jahrs­fes­tes kein Hotel leisten können, schla­fen in Pri­vat­woh­nun­gen. Für diese Zeit ziehen die Ukrai­ner zu Ver­wand­ten oder Freun­den oder gar in die eigene Garage. Das Geld, dass manche Ein­hei­mi­sche durch die Woh­nungs­ver­mie­tung ver­die­nen, beläuft sich mit­un­ter auf ein Jah­res­ge­halt. Auch Spenden geben die Pilger gerne ab, so dass das Neu­jahrs­fest der Stadt gute Ein­nah­men bringt.

Beim Neu­jahrs­fest gilt der Schabbat

David, ein junger Jude mit schwar­zem Hut und Mantel, ist zum Neu­jahrs­fest aus New York nach Uman gekom­men. Er nimmt aus seiner Tasche ein Schach­tel Ziga­ret­ten und bittet, ihm eine anzu­zün­den. Er selbst darf heute kein Feu­er­zeug benut­zen, denn beim Neu­jahrs­fest gelten die selben Regeln wie am Schab­bat. Gläu­bi­ger Juden dürfen an diesem Tag keine elek­tri­schen Geräte benut­zen, kein Feuer anzün­den und auch keine Ruck­sä­cke oder Taschen tragen. Aber jeder lege diese Regeln unter­schied­lich aus, erklärt David.

Es komme bei den Chas­si­den nicht auf intel­lek­tu­el­les Studium der Thora an, sondern darauf, Gott im Leben zu spüren und das Leben zu genießen. 

Am Abend des Neu­jahrs­fes­tes ver­sam­meln sich tau­sende Juden an einem See am Rande der Stadt, krem­peln ihre Hosen­ta­schen um und schüt­ten die Krümel darin in das Wasser. Mit dieser Geste wollen sie sich rituell rei­ni­gen und ihre Sünden aus der Seele werfen. Sie schrei­ben reli­giöse Regeln auf kleine Zettel nieder und stecken diese in die Taschen. Die Wörter sollen sie an den Tagen von Rosch-Hasch­a­nah beglei­ten. Genauso wie der Klang vom Schofar, dem Wid­der­horn, der am Ende des Monats Elul am Himmel über Uman erklingt.

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Textende

Portrait von André Eichhofer

André Eich­ho­fer hat als Kor­re­spon­dent für das Wirt­schafts­ma­ga­zin Ost-West Contact in Kyjiw gear­bei­tet und für SPIEGEL-Online, Die Welt und n‑ost aus der Ukraine berichtet.

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