Auch nach Selenskyjs Biden-Besuch gibt es noch viel zu tun
Die Reaktionen in der Ukraine auf Wolodymyr Selenskyjs ersten Besuch in den Vereinigten Staaten waren äußerst unterschiedlich und oft politisiert. Tatsächlich gibt es jedoch weder Grund für Euphorie noch für Untergangsstimmung. Das Wichtigste ist vielleicht, dass der Besuch überhaupt stattgefunden hat. Denn die Vorgeschichte war alles andere als vielversprechend.
Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch erschienen. Deutsche Fassung von Johann Zajaczkowski.
In der Ukraine äußerte Selenskyj bereits zu Beginn seiner Amtszeit 2019 den drängenden Wunsch nach einem Besuch in den USA, der jedoch vom damaligen Präsidenten Donald Trump nur sehr verhalten aufgenommen wurde. Noch schlimmer wurde es, als Trump einen Erpressungsversuch inszenierte, um Kyjiw dazu zu drängen, Maßnahmen zu ergreifen, die seinem politischen Gegner Joe Biden schaden würden. Die Aktion gipfelte in dem mittlerweile berüchtigten Telefongespräch zwischen den beiden Präsidenten am 25. Juli 2019 und der Blockade der US-Militärhilfe an die Ukraine bis Herbst desselben Jahres. Im weiteren Verlauf kam es zu einer akuten politischen Krise in den USA die im Amtsenthebungsverfahren gegen Trump durch das US-Repräsentantenhaus gipfelte.
Für den Rest von Trumps Präsidentschaft wurde die Ukrainepolitik gewissermaßen zu einem roten Tuch und blieb in der Schwebe. Trumps Handlungen hinterließen einen anhaltenden traumatischen Effekt auf Selenskyj, sein Team und das Vertrauen in die bilateralen Beziehungen. Kein Wunder also, dass Selenskyj große Hoffnungen auf den neuen amerikanischen Präsidenten und einen US-Besuch setzte.
Rivalität mit Poroschenko
Eine weitere wichtige (persönliche) Motivation für Selenskyj war seine tiefe Abneigung gegen und Rivalität mit seinem Vorgänger Petro Poroschenko – der mehrmals die USA besuchte und 2014 sogar eine Rede vor dem Kongress halten durfte.
Präsident Joe Biden hatte aber mit einer Reihe ernsthafter innenpolitischer Herausforderungen zu kämpfen, was dazu führte, dass mehrere außenpolitische Baustellen auf die lange Bank geschoben wurden. Darüber hinaus hielt man es in Washington nicht für dringlich, sich speziell mit der Ukraine zu befassen. Eine Ausnahme war der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze im Frühling 2021. Hier entfaltete Biden persönlich eine rege Diplomatie zur Unterstützung Kyjiws. Aber davon abgesehen war die neue US-Regierung der Ansicht, dass die von beiden Vorgängerregierungen eingeführte Ukraine-Politik und die etablierten Kooperationsformate gut funktionierten und keiner dringenden Revision bedürfen.
Diese Einschätzung war mit einer gewissen Sorge in Washington verbunden, dass Selenskyj innenpolitisch nicht genug unternimmt, um dringend notwendige Reformen durchzusetzen. Im Weißen Haus glaubte man offenbar, dass Kyjiw vor einem Besuch mehr Zeit braucht, um seine Hausaufgaben zu erledigen.
Dazu kommt, dass die Corona-Pandemie alle Pläne auf den Kopf stellte. Die Häufigkeit der Besuche ausländischer Staatsoberhäupter im Weißen Haus ließ stark nach. Selenskyj war erst das achte Staatsoberhaupt, welches seit Bidens Amtsantritt dort empfangen wurde – und erst der zweite europäische Staatschef, nach Bundeskanzlerin Angela Merkel. So gesehen ging Selenskyjs Besuch faktisch recht schnell über die Bühne – trotz der langen Wartezeit.
Der Besuch muss durch dieses Prisma aus Begleitumständen, Hintergrund und Kontext betrachtet und seine Ergebnisse entsprechend bewertet werden. Die Schlussfolgerung ist, dass alleine die Tatsache, dass der Besuch stattgefunden hat, als Erfolg zu verbuchen ist. Selbst die plötzliche Krise in Afghanistan, die zu einer Verschiebung des Besuchs um einen Tag geführt hat, ändert nichts an seinem Gehalt.
Gemeinsame Erklärung ist ein bedeutender Schritt
Unter den unterzeichneten Vereinbarungen ragt insbesondere die Gemeinsame Erklärung zur Strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine hervor. Darin werden der Status Quo der Beziehungen dargelegt, wichtige Aspekte angesprochen und sogar ein sehr konkreter Fahrplan für das weitere Vorgehen vorgelegt. Die Erklärung ist somit sowohl als Leitfaden wie auch als Checkliste der anstehenden Aufgaben zu begreifen.
Angesichts der anhaltenden Aggression gegen die Ukraine beginnt die gemeinsame Erklärung natürlich mit den Themen Sicherheit und Verteidigung. Hier manifestiert sich die US-Unterstützung für die Ukraine vielleicht am deutlichsten. Seit 2014 haben die USA die Ukraine mit Militärhilfen im Wert von 2,5 Milliarden US-Dollar unterstützt. Alleine in diesem Jahr sollten 400 Millionen US-Dollar bereitgestellt werden – bis Washington den Betrag noch wenige Tage vor dem Besuch um 60 Millionen aufstockte.
Das Rahmenabkommen über Strategische Verteidigung wurde ebenfalls unterzeichnet. Auch wenn es den bilateralen Beziehungen in diesem Politikfeld nur schwerlich eine neue Qualität verleiht, kann es doch als nützlicher Mechanismus dienen, um die Zusammenarbeit in diesem Bereich zu erleichtern.
Es ist erfreulich für die Ukraine, dass die Krim in der gemeinsamen Erklärung häufig erwähnt wird. Dazu gehört auch Washingtons Zusage, die Krim-Plattform zu unterstützen – Kyjiws jüngste Initiative, um das Bewusstsein für die Besetzung der Halbinsel unter seinen Partnern zu schärfen. Generell wird die Schwarzmeerregion als ein Gebiet anerkannt, wo viele Gefahren für die Sicherheit der Ukraine fortbestehen, und wo die USA entschlossen sind, Unterstützung zu leisten.
Was den Donbas betrifft, wo täglich Kampfhandlungen stattfinden, gab es während des Besuchs keinerlei Durchbruch. Dies bedeutet aber nicht, dass in den kommenden Monaten nicht mit Neuigkeiten an dieser Front zu rechnen wäre. Offenbar rief Selenskyj Biden dazu auf, eine gewichtigere Rolle der USA bei den Verhandlungen über eine potenzielle Lösung in Betracht zu ziehen. Dies könnte so aussehen, dass Washington dem sogenannten Normandie-Format beitritt (auch wenn dies eher unwahrscheinlich ist), ein neues Format ins Leben gerufen wird, oder die USA ihre Bemühungen in dieser Hinsicht schlicht verdoppeln. Abzuwarten bleibt, ob Biden den Posten des Sonderbeauftragen für den Konflikt in der Ukraine, der seit dem Rücktritt von Kurt Volker im September 2019 vakant ist, neu besetzen wird.
In der gemeinsamen Erklärung wird auch die amerikanische Unterstützung für die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine bekräftigt. Das bedeutet, dass Washington die Ansicht vertritt, dass die Ukraine eines Tages – jedoch nicht in nächster Zeit – in die NATO aufgenommen werden sollte. Indem sie lediglich die Beitrittsperspektive unterstützt, verzichtet die aktuelle Regierung (wie die beiden vor ihr) darauf, der Ukraine ab sofort einen Aktionsplan zur Mitgliedschaft (Membership Action Plan; MAP) in Aussicht zu stellen. Diese Erwägung beruht auf der Erkenntnis, dass mehrere NATO-Staaten einem solchen Schritt nach wie vor ablehnend gegenüberstehen. Hier wirkt das Erbe des NATO-Gipfels von 2008 in Bukarest nach, als die Regierung von George W. Bush darauf drängte, der Ukraine einen MAP in Aussicht zu stellen – nur um festzustellen, dass von den anderen Bündnismitgliedern keine substanzielle Unterstützung kam.
Hausaufgaben mit Arbeitspensum
Die gemeinsame Erklärung wird dort konkret, wo von der Zukunft der ukrainischen Reformbemühungen, insbesondere im Justizbereich, die Rede ist. Hier ähnelt sie tatsächlich einer Hausaufgabe mit klar formuliertem Arbeitspensum. Dies macht das Dokument zu einem Novum in der Geschichte der amerikanisch-ukrainischen Beziehungen und setzt Kyjiw faktisch unter Zugzwang. Die ukrainische Führung kann es sich nicht länger erlauben, zu behaupten oder so zu tun, als wüsste sie nicht, was von ihr erwartet wird.
Schließlich wird auch das kritische Energiethema angesprochen. Die Nord Stream 2 Pipeline ist in den vergangenen Monaten zu einem elementaren Streitpunkt zwischen Kyjiw und Washington geworden. Die Entscheidung der Biden-Regierung, auf Sanktionen gegen den Bau der Pipeline zu verzichten, was einen schweren Schlag für die Position der Ukraine als Transitland für russisches Gas bedeuten würde, hat einen ziemlichen Aufruhr in der Ukraine ausgelöst, dem sich auch Selenskyj angeschlossen hat. In diesem Moment wurden die Ukrainer unverhohlen daran erinnert, dass die USA andere essenzielle Interessen und Prioritäten haben, von denen einige nicht mit den Interessen der Ukraine übereinstimmen müssen. Es sollte alles dafür getan werden, um zu verhindern, dass North Stream 2 zu einem dauerhaften Zankapfel zwischen beiden Partnern wird, der die Zusammenarbeit in vielen anderen wichtigen Bereichen verhindert.
Alles in allem war dies ein arbeitsreiches Treffen, welches die Beziehungen zwischen der Ukraine und den USA auf positive Weise aufgerüttelt, die strategische Partnerschaft bekräftigt (zusammen mit einer Wiederbelebung der Kommission für Strategische Partnerschaft) und gezeigt hat, dass es viele gemeinsame Interessen gibt. Dies stimmt mit Blick auf die Zukunft der bilateralen Beziehungen verhalten optimistisch.
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