Die Türkei und der Krieg in der Ukraine
Während die Türkei die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine grundsätzlich unterstützt, pflegt sie sehr enge Beziehungen zu Russland. Daria Isachenko analysiert, welche Interessen dahinterstehen.
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat bereits im November 2021 seine Vermittlung zwischen dem russischen und ukrainischen Präsidenten angeboten, als die Spannungen zwischen Russland und dem Westen mit dem Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine zunahmen. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 setzt Ankara seinen Balanceakt zwischen Moskau und Kyjiw fort. Für die Ukraine stellt die strategische Partnerschaft mit der Türkei „den Schlüssel zur Sicherheit im Schwarzen Meer“ dar. Die territoriale Expansion Russlands in der Region bedeutet zwar einerseits auch für die Türkei ein Sicherheitsproblem. Anderseits verfolgt Ankara weiterhin die alte NATO-Strategie gegenüber dem Kreml: Abschreckung und Dialog. Dies hat Ankara ermöglicht, die Federführung bei der Frage der Getreideexporte aus der Ukraine zu übernehmen. Zugleich werden die Erwartungen der Ukraine an die Türkei angesichts der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau gedämpft.
Ankara als Vermittler
Seit dem Ausbruch des Krieges hat sich die Türkei als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine gegenüber etwa Israel und Frankreich erfolgreich durchgesetzt. Ankara hat beim Austausch der Kriegsgefangenen mitgewirkt und am 10. März kurz vor Beginn des Antalya Diplomacy Forums ein erstes hochrangiges trilaterales Treffen organisiert, bei dem die Außenminister der Ukraine und Russlands zusammenkamen. Ein bedeutendes Momentum waren die Gespräche zwischen den ukrainischen und russischen Verhandlungsdelegationen am 29. März in Istanbul. Die Verlagerung des Verhandlungsorts von Belarus nach Istanbul hat die Rolle der Türkei zweifelsfrei gestärkt. Ankara wurde dadurch mit den Positionen der Ukraine und Russlands vertraut gemacht. Außerdem wurde auch die Sichtbarkeit der Türkei auf internationaler Ebene erhöht.
Anspruch auf Mitgestaltung
Beim Engagement der Türkei im Ukraine-Krieg hängen drei Faktoren eng zusammen. Allein geographisch kommt der Türkei eine zentrale Rolle in der Schwarzmeerregion zu. Über den Vertrag von Montreux, der seit 1936 den Schiffsverkehr im Bosporus, im Marmarameer und in den Dardanellen regelt, fungiert die Türkei als Wächterin des Zugangs zum Schwarzen Meer. Darüber hinaus zeichnet sich die Außenpolitik der derzeitigen türkischen Führung unter Erdogan durch einen beharrlichen Aktivismus aus. Dabei beansprucht die Türkei, dass ihr angestrebtes Anrecht auf Mitgestaltung auf der internationalen Bühne von Großmächten wie etwa den USA und Russland anerkannt wird. Schließlich hilft der Türkei bei ihrem Engagement im Schwarzen Meer, dass sie als NATO-Mitglied in der Lage ist, sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine Beziehungen aufrechtzuerhalten. Die Kombination dieser drei Faktoren ermöglichte es der Türkei, sich als unverzichtbarer Akteur im aktuellen Konflikt zu positionieren, was insbesondere bei der zusammen mit den Vereinten Nationen etablierten Schwarzmeer-Getreide-Initiative deutlich wurde.
Strategische Partnerschaft zwischen Ankara und Kyjiw mit Bedingungen
Was die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine betrifft, so steht Ankara eindeutig auf der Seite Kyjiws. Obwohl die Türkei sich auch 2014 den westlichen Sanktionen gegenüber Russland nicht angeschlossen hat, hat sie die Annexion der Krim als rechtswidrig verurteilt. Auch aktuell sieht die türkische Führung keine Kompromisse bei der territorialen Integrität der Ukraine. Erdogan betonte jüngst in einem Interview: „Die eroberten Gebiete werden der Ukraine zurückgegeben.“ Die Unterstützung der Ukraine durch die Türkei sorgte noch vor Beginn des Angriffskrieges am 24. Februar für Warnungen aus Moskau gegenüber Ankara. Für Ankara stellt es keinen Widerspruch dar, Bayraktar TB2-Drohnen an Kyjiw zu liefern, die zum Symbol des Widerstands der Ukraine gegen Russland geworden sind –gleichzeitig aber enge Beziehungen zu Moskau zu pflegen. Dies hat mehrere Gründe.
Gründe für die engen Beziehungen zu Russland
Zum einen sieht die türkische Seite im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eine grundlegende Neugestaltung der Weltordnung. Es gehe um „eine umfassendere Konfrontation zwischen der westlichen und der nichtwestlichen Welt“, die dem Berater des türkischen Präsidenten, Ibrahim Kalin, zufolge „legitim“ sei. Zum anderen schließt die NATO-Mitgliedschaft der Türkei bilaterale Beziehungen mit Russland nicht aus. Das war bereits zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes der Fall. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist das Verhältnis zwischen Ankara und Moskau wesentlich komplexer geworden. Abgesehen von ökonomischen Fragen sind Ankara und Moskau in einem regional verflochtenen Konfliktmanagement im Nahen Osten und im Südkaukasus aufeinander angewiesen. Und obwohl die Schwarzmeerregion historisch ein Rivalitätsfeld zwischen den osmanischen und russischen Reichen war, hat heute für die Türkei Sicherheit in Bezug auf Syrien die höchste Priorität, wo es aus Ankaras Sicht um die territoriale Integrität der Türkei geht und Ankara auf Moskau angewiesen ist.
Im September 2020 wurde die Türkei in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der Ukraine als strategischer Partner benannt. Entsprechend hoch waren die Erwartungen der Ukraine an die Türkei nach Beginn des Krieges am 24. Februar. Die ukrainische Führung musste jedoch die Interessen der Türkei, die Ankara nicht zuletzt mithilfe Moskaus verfolgt, zur Kenntnis nehmen. Kyjiw schätzt die Kooperation mit Ankara in Bezug auf die technisch-militärische Zusammenarbeit, die Unterstützung der Souveränität der Ukraine, den Getreidehandel und die Sicherheit der Schifffahrt im Schwarzen Meer. Die Entwicklung der strategischen Partnerschaft zwischen der Ukraine und der Türkei wird aber wohl weiter im Schatten der Zusammenarbeit der Türkei mit Russland verlaufen.