Deutsch-ukrainische Geschichten. Bruchstücke aus einer gemeinsamen Vergangenheit
Im Herbst 2024, fast elf Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und mehr als dreieinhalb Jahre genozidaler Kriegsführung durch die russische Vollinvasion, erscheint der neue Band des Zentrums Liberale Moderne: „Deutsch-ukrainische Geschichten. Bruchstücke aus einer gemeinsamen Vergangenheit“.
Ein trauriger Anlass, der russische Angriffskrieg – und doch steht in diesem Buch nicht Russlands Krieg im Mittelpunkt, sondern die Ukraine, das Land in der Mitte Europas, seine Geschichte, seine Verbindungen zu Deutschland und zu anderen europäischen Ländern, wie der Herausgeber Jan Claas Behrends und die Herausgeberinnen Gelinada Grinchenko und Oksana Mikheieva schreiben.
Wir veröffentlichen hier das Vorwort von Marieluise Beck und Ralf Fücks und laden Sie herzlich ein, dieses Buch zu entdecken.
Die Ukraine und Deutschland – Geschichte, die nicht vergeht
Marieluise Beck und Ralf Fücks
Das vorliegende Buch entstand, während Putins Russland die Ukraine mit einem brutalen Vernichtungskrieg zu zerstören versucht. Kann ein Buch zur Ukraine und den Verflechtungen zwischen ihr und Deutschland Bestand haben, während noch unklar ist, wie dieser Feldzug enden wird? Sein Ausgang ist auch deshalb ungewiss, weil der Westen mit seinem chronischen »too little – too late« die Ukraine in einen verlustreichen Abnutzungskrieg zwingt. Weil er nicht sehen will, dass die Ukraine auch für unsere Freiheit kämpft, gegen die autoritäre Allianz aus Russland, dem Iran und Nordkorea mit China im Hintergrund.
Dieses Buch hat Bestand. Deutsche und ukrainische Historikerinnen und Historiker begeben sich auf Zeitreise und lassen uns entdecken, dass wir mehr gemeinsam haben, als weitgehend bekannt ist. Die gegenseitige Wahrnehmung zu spiegeln, eröffnet neue Perspektiven.
Der Band zeigt auf, dass die Ukraine kein »künstlicher Staat« ist, wie die russische Propaganda uns glauben machen möchte. Er belegt, wie vielfältig die deutsch-ukrainischen Beziehungen waren, auch über den Ersten und Zweiten Weltkrieg hinaus. Und er erinnert daran, dass bereits Hitler und Stalin – jeder auf seine Weise – einen Vernichtungsfeldzug gegen das Land führten.
Die Ukraine durchlief viele Metamorphosen, wie zahlreiche Nationen, deren heutiger Name nicht immer auf der europäischen Landkarte zu finden war. Mitnichten war sie immer Teil des Russischen Reichs. Kyjiw ist älter als Moskau. Ein ukrainisches Selbstbewusstsein bildete sich seit dem 17. Jahrhundert heraus; die erste ukrainische Republik wurde 1918 ausgerufen. Mit den wiederholten Kampagnen zur Russifizierung der Ukraine wurde die ukrainische Sprache in eine Nische gedrängt, mit der Schoah das Jiddische ausgelöscht. Unter Stalin wurden etwa 50.000 Angehörige der ukrainischen Intelligenz nach Sibirien deportiert; eine große Zahl kam in mehreren Säuberungswellen ums Leben. Der Holodomor, die auf Stalins Befehl herbeigeführte große Hungersnot der Jahre 1932/33, in der viele Millionen elend zugrunde gingen, zielte auch darauf, das ukrainische Nationalbewusstsein zu brechen. Parallel wurde die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche liquidiert.
Historiker sprechen von Deutschlands langem Weg nach Westen. Eine entscheidende Wendung war die Befreiung Westdeutschlands von außen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Erst mit der Entlassung aus dem sowjetischen Klammergriff im Jahre 1991 stand dieser Weg für die Ukraine offen. Auf nach Europa! Das war die Botschaft des Maidan. Auch diese hartnäckige Orientierung nach Westen unterscheidet die Ukraine von Russland.
Umso befremdlicher ist die in Deutschland nach wie vor gepflegte Exkulpation des neokolonialen Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt – als wäre sie auf ewig dazu verdammt, eine Domäne des russischen Imperiums zu sein.
Deutschland ist stolz auf die Bewältigung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen durch immerwährende Aufrechterhaltung der Erinnerung. Allerdings blendete der Blick auf die Verbrechen unserer Väter und Großväter die Ukraine weitgehend aus. Wehrmacht und SS hinterließen eine breite Blutspur in der Ukraine. Hitlers Ziel waren die Versklavung der zu »Untermenschen« herabgewürdigten Ukrainer und die Verwandlung des fruchtbaren Landes in eine deutsche Siedlungskolonie. Rund 1,5 Millionen Zwangsarbeiter (Männer wie Frauen) wurden aus der Ukraine ins »Reich« deportiert. Die Ukraine war ein zentraler Schauplatz der »Endlösung der Judenfrage«. Etwa zwei Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden von Erschießungskommandos der SS und Wehrmacht ermordet.
Das Ausmaß von Tod und Zerstörung war höher als auf russischem Boden. Vielleicht wollte Nachkriegsdeutschland auch deshalb nicht so genau wissen, wer und was die Ukraine ist. Umso wichtiger ist dieser Band. Wer sich der Geschichte stellt, wird sich der heutigen deutschen Verantwortung gegenüber der Ukraine nicht entziehen können.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren sowie dem Übersetzer Christian Weise, der die ukrainischsprachigen Beiträge ins Deutsche übertragen hat. Das Buch entstand im Ukraine-Programm des Zentrums Liberale Moderne, das bis zu ihrem viel zu frühen Tod von Iryna Solonenko geleitet wurde. Ihrem Andenken ist dieser Band gewidmet. Wir danken allen Beteiligten – insbesondere Katharina Hinz für die gute Betreuung und sorgfältige Redaktion.
Sie können gerne das Buch bei ibidem Verlag bestellen: Deutsch-ukrainische Geschichten. Bruchstücke aus einer gemeinsamen Vergangenheit
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