Charkiw im Brennpunkt: Wie übersteht die Stadt die massiven russischen Angriffe?
Am 16. Mai 2024 diskutierten Oleh Synehubow, Gouverneur der Region Charkiw, Juliia Napolska vom Medienprojekt „Nakypilo“, Maryna Worontsowa, Vorstand der NGO „Ohne Zweifel“ und Ralf Fücks im Zentrum Liberale Moderne über die aktuelle Situation in Charkiw.
Die Sicherheitslage in Charkiw und der gesamten Region ist äußerst prekär. Seit dem 10. Mai 2024 versuchen die russischen Truppen weiter vorzudringen, Teile der 30 – 70 km von Charkiw entfernten Grenzregion wieder zu besetzen und die Frontlinie zu verschieben, so Oleh Synehubow, Gouverneur der Region Charkiw.
Im Norden der Region ist Russland in Richtung Lypzi und Wowtschansk vorgerückt. Die Grenzstadt Wowtschansk ist zwar weitgehend unter ukrainischer Kontrolle, es finden jedoch weiter Straßenkämpfe statt und es gibt Berichte über Kriegsverbrechen der russischen Armee, über Erschießungen und Verhaftungen. Freiwillige Helferinnen und Helfer, die Menschen aus der Stadt evakuieren, stehen unter ständigem Beschuss.
Inzwischen hat die ukrainische Armee die Situation und die Frontlinie soweit möglich stabilisiert. Im Informationskrieg gegen die Ukraine verbreitet Russland jedoch Desinformationen über eine erfolgreiche Offensive und Einkesselung von Wowtschansk.
Die meisten russischen Raketen treffen ihr Ziel
Der Beschuss Charkiws durch russische Artillerie, Raketen und Bomben geht unvermindert weiter. Nicht alle, aber die meisten Raketen treffen ihr Ziel. Raketen wie vom Typ S‑300 oder Iskander sind sehr schwer abzufangen, da sie eine Flugzeit von nur 40 Sekunden bis zu ein paar Minuten haben. Moderne Flugabwehrsysteme wie Patriot könnten dies leisten – davon hat die Ukraine jedoch bei weitem nicht genug.
Die Nähe zur russischen Grenze und die fehlende Luftabwehr bedeuten, dass es täglich zivile Opfer gibt. Juliia Napolska berichtete von zwei Kindern, die kürzlich bei einem Raketenangriff in Charkiw schwer verletzt wurden – solche Geschichten sind keine Einzelfälle mehr.
Auch die zivile Infrastruktur ist schwer beschädigt. In den letzten Monaten gab es 22 Angriffe auf die Energieinfrastruktur, was zu einem zweitägigen Stromausfall führte, so Synehubow. Die Stromversorgung war nach dem Angriff zunächst auf nur zwei Stunden täglich beschränkt.
Massive Zerstörungen der Energieinfrastruktur
Derzeit funktioniert die Stromversorgung in Charkiw und der Region. Aufgrund der massiven Zerstörungen der Energieinfrastruktur in der gesamten Ukraine werden derzeit jedoch landesweite Notabschaltungen der Stromversorgung vorgenommen. Generatoren spielen dann eine wichtige Rolle: Bei einem Stromausfall können die Schulen und Kindergärten in Charkiw dank der Generatoren online oder in unterirdisch gebauten Schulen weiterarbeiten.
Dezentralisierung der Energieversorgung
Die wichtigsten Aufgaben vor dem Winter sind der Wiederaufbau von Kraftwerken, Wärmeversorgung und Stromnetzen. Die Dezentralisierung der Energieversorgung hat dabei Priorität. Eine sofortige und umfassende Dezentralisierung ist jedoch aus technischen und Kostengründen nicht realistisch, daher wird sie schrittweise vorangetrieben.
10.000 Menschen wurden in den letzten Wochen evakuiert
Die Verschärfung der Sicherheitslage zeigt sich auch bei der Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den betroffenen Gebieten. Seit dem 10. Mai 2024 wurden etwa 10.000 Menschen aus den gefährdeten Teilen der Region in Notunterkünfte – Schulen und Wohnheime in Charkiw – oder in sicherere Gegenden gebracht.
Der ständige Raketenbeschuss sei dabei nur eins von vielen Problemen, so Juliia Napolska und Maryna Worontsowa. Viele Menschen wollten ihre Häuser nicht verlassen und weigerten sich, evakuiert zu werden. Zudem gibt es in der Region Charkiw nicht ausreichend Notunterkünfte, sodass die Evakuierten oft in andere Regionen der Ukraine gebracht werden müssen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, eine Unterkunft zu finden, in der auch Haustiere untergebracht werden können.
Gouverneur Synehubow berichtete, dass die Regionalverwaltung an der Sanierung und Ausstattung von Notunterkünften arbeitet. Dafür und für den Wiederaufbau der beschädigten Gebäude werden Fensterscheiben und andere Baumaterialien dringend benötigt. Internationale Partner wie die Vereinten Nationen, das Rote Kreuz und zahlreiche ausländische NGOs unterstützen die Region mit Baumaterial, oder humanitärer Hilfe.
Charkiw: Aktive und solidarische Zivilgesellschaft
Derzeit leben rund 1,2 Millionen Menschen in der Stadt Charkiw, darunter auch Binnenflüchtlinge aus den östlichen und nördlichen Teilen der Region, aus Donetsk und Luhansk. Auf die Frage nach dem zivilgesellschaftlichen Engagement der Menschen in Charkiw antwortete Maryna Worontsowa: „Alle machen etwas“.
Die lokale Zivilgesellschaft ist aktiv und solidarisch: Sowohl NGOs als auch Privatpersonen sammeln Spenden für die ukrainische Armee und die Zivilbevölkerung, evakuieren Menschen aus den umkämpften Gebieten oder nehmen sie bei sich auf, helfen bei der Reparatur von Militärfahrzeugen und vieles mehr. In jedem Supermarkt oder Restaurant hängen Spendenaufrufe aus und stark nachgefragt sind jetzt auch Ausbildungen in Erster Hilfe und Militärmedizin.
Das ist die Realität, in der die Ukraine seit mehr als zwei Jahren lebt
Als Russland 2022 seine groß angelegte Invasion begann, wollten Maryna Worontsova und Juliia Napolska als Privatpersonen einfach helfen. Heute sind sie Aktivistinnen mit viel Erfahrung, die unermüdlich Spendenaktionen durchführen, humanitäre Hilfe leisten und Menschen evakuieren. Die Zivilgesellschaft engagiere sich jedoch in erster Linie für die ukrainischen Streitkräfte, so Napolska. Denn die Zukunft der Region Charkiw und der gesamten Ukraine hängt von der ukrainischen Armee und den Waffenlieferungen der westlichen Partner ab.
Ukraine Insights bringt regelmäßig Regierungsvertreter und Thinktank-Experten zusammen. Das Format dient als informelle Plattform für vertiefte Diskussionen über Entwicklungen in der Ukraine und in ihren Nachbarländern.
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