Über knal­lende Türen und die Istanbul-Konvention

Demons­tra­tion zum Welt­frau­en­tag 2021 in Lwiw © Mykola Tys /​ Shut­ter­stock

Häus­li­che Gewalt gegen Frauen wird in der Ukraine nicht mehr ver­schwie­gen. Aber die Ver­bes­se­run­gen kommen sehr langsam voran. Olek­san­dra Bienert plä­diert für die Rati­fi­zie­rung der Istanbul-Konvention.

„Wenigs­tens werde ich Dich nicht schla­gen“, sagt mir der junge Mann. Wir treffen uns gerade zu einem Date. Es ist Mai 2020, wir sitzen in Berlin am Ufer der Spree. Ich lächle dazu müde. Und denke mir dann: Wenn jemand aus einer Gesell­schaft kommt, wo die Kultur der Gewalt so ver­wur­zelt ist, möchte man erstmal die Person gegen­über über eigenen Stand dazu infor­mie­ren. Den Mann habe ich dann nicht wieder getrof­fen, aber noch lange über diesen Satz nach­ge­dacht. Meiner Meinung nach zeigt er die Nor­ma­li­tät der Gewalt. Für Leute, für die es nicht normal ist, ist es kein Thema. Also klar, kann man gene­rell darüber reden. Aber man würde nie sagen, „Zumin­dest werde ich Dich nicht schla­gen“. Das impli­ziert den Gedan­ken „eigent­lich schla­gen ja die Männer in der Bezie­hung (und es ist normal)“. Schla­gen ist nicht normal. Gewalt in der Bezie­hung ist nicht normal. Und das von beiden Seiten.

Das Zitat, welches für manche Ohren viel­leicht auch ein biss­chen lustig klingt, beschreibt aber eine trau­rige Rea­li­tät. Auch in der Ukraine. In meiner Familie gab es keine phy­si­sche Gewalt zwi­schen meinen Eltern, aber sie haben sich viel gestrit­ten. Geschla­gen wurde zwar nie, aber in meinen Kind­heits­er­in­ne­run­gen sind knal­lende Türen und das Geschrei sehr präsent. Es waren keine ange­neh­men Situa­tio­nen. Irgend­wann ist mein Vater aus­ge­zo­gen und es wurde ruhig. Mein Vater und ich sind heute sehr gute Freunde. Das Geschrei meiner Eltern ist zwar längst vorbei, aber ich muss bis heute inner­lich zucken, wenn irgendwo eine Tür sehr laut knallt.

Eine Freun­din von mir hatte weniger Glück im Ver­hält­nis zu ihrem Vater. Auch für ihre Mutter Larisa* – eine Leh­re­rin aus der kleinen west­ukrai­ni­schen Stadt Dubno – ist die Situa­tion zu Hause alles andere als fried­lich. Larisa ist nun seit über 40 Jahren mit einem Mann ver­hei­ra­tet – dem Vater meiner Freun­din. Irgend­wann hat er ange­fan­gen zu trinken – und hat nicht mehr damit auf­ge­hört. Wenn er alko­ho­li­siert ist, übt er psy­chi­sche Gewalt aus, und das nun schon seit vielen Jahren. Er droht seiner Frau, beschimpft, ernied­rigt und belei­digt sie.

Einmal war ich bei solch einer Situa­tion dabei. Es war ein seltsam kaltes Gefühl der Angst und Ohn­macht, das in der Luft dieser sonst so gemüt­li­chen Wohnung von Larisa hing, wenn dieser Mann betrun­ken war und laut wurde. Larisa sieht sich in dieser Situa­tion nicht als Opfer. Sie hat selbst ent­schie­den sich von ihm nicht schei­den zu lassen. Sonst würde er sich zu Tode trinken, sagt sie. Und wie kann sich eine Frau von ihrem Mann schei­den lassen, was für eine Frau ist sie dann? In der Stadt wäre sonst gemunkelt.

Gründe für die häus­li­che Gewalt gegen Frauen in der Ukraine

Nach Angaben der UNO vom April 2020 war jede dritte Frau in der Ukraine von Gewalt betrof­fen, nur jede fünfte davon wandte sich an die Polizei um Hilfe. Mehr als 90 Prozent der Poli­zei­be­kann­ten Täter waren Männer.

Alkohol oder Drogen sind dabei nicht der Grund, warum häus­li­che Gewalt in der Ukraine – ob psy­chisch oder phy­sisch – wei­ter­hin Platz hat, sondern sie sind eher ein Hand­lungs­aus­lö­ser, ein Trigger. 

Die Haupt­gründe liegen in der Ver­tei­lung von Macht­po­si­tio­nen in der Gesell­schaft, in der wei­ter­hin exis­tie­ren­den Ungleich­heit zwi­schen Mann und Frau sowie in den Vor­ur­tei­len, die über die Rollen von Männern und Frauen vor­han­den sind, so die Prä­si­den­tin des Inter­na­tio­na­len Zen­trums für Frau­en­rechte „La Strada – Ukraine“ Olga Kalash­nik.

Die Männer in der ukrai­ni­schen Gesell­schaft haben mehr Macht – ihre Gehäl­ter sind größer, sie beset­zen häu­fi­ger die höheren Ent­schei­dungs­po­si­tio­nen. Zudem ist das Kon­strukt „Wer ist eine gute Ehefrau“ noch leben­dig. Eine „gute Ehefrau“ muss laut diesem Kon­strukt, zuge­spitzt gesagt, alles machen (und aus­hal­ten) um die Familie zu erhal­ten. Dem­entspre­chend denken 41 Prozent der von der OSCE in einer Studie befrag­ten Frauen in der Ukraine, dass die Situa­tion inner­halb der Familie gelöst werden muss, wenn es zu Gewalt seitens des Mannes kommt (Analyse von OSCE von 2019). Dank der Ungleich­heit in der Gesell­schaft wird Gewalt tole­riert, sie wird „legi­ti­miert“ als Aus­übung der Macht in einer Beziehung.

Nach der Umfrage der Stif­tung „Sla­wi­sches Herz“, die von der Akti­vis­tin Natalya Kirkach in Swja­to­horsk (Donez­ker Region) für die Unter­stüt­zung von Fami­lien und Bin­nen­ge­flüch­te­ten gegrün­det wurde, bewer­ten in den öst­li­chen Regio­nen der Ukraine Frauen immer noch Schläge oder Ver­ge­wal­ti­gun­gen als „geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt gegen Frauen“. Verbale Ernied­ri­gun­gen, Schreie und andere Arten der psy­chi­schen Gewalt zählen für sie nicht dazu.

Um Gewalt in der Familie zu bekämp­fen, muss einer­seits Bewusst­sein dafür da sein, dass das, was gerade pas­siert, nicht in Ordnung ist. Dass man nicht psy­chi­sche Gewalt zulas­sen darf, um andere Person „vom Alko­ho­lis­mus-Tod zu retten“, um an Larisas Bei­spiel noch mal zu erin­nern. Ande­rer­seits ist für die Opfer von enormer Bedeu­tung, dass sie Mög­lich­kei­ten haben Hilfe zu holen, dass Gesell­schaft und Polizei ange­mes­sen reagieren.

Man kann zwar mit vielen Kam­pa­gnen und mit Auf­klä­rungs­ar­beit das Bewusst­sein der Frauen stärken, doch die gesell­schaft­li­chen Vor­stel­lun­gen ändern sich langsam. 2017 wurden noch 58 Prozent der Anzei­gen über häus­li­che Gewalt von der Polizei als unwahr bewer­tet, so die For­schung von „La Strada – Ukraine“. Die Polizei war oft davon über­zeugt, dass Gewalt in der Familie eine private Ange­le­gen­heit sei. Dies spie­gelte sich auch in den Mei­nun­gen der Richter wider: Mehr als 85 Prozent der Richter sahen es 2017 als ihre Haupt­auf­gabe bei Fällen von häus­li­cher Gewalt an, „in eine Familie Frieden wie­der­zu­brin­gen“, und nicht, den Täter zu bestrafen.

Ände­run­gen in der Gesetz­ge­bung nötig

Einiges hat sich in Hin­sicht auf häus­li­che Gewalt in den letzten Jahren in der Ukraine ver­bes­sert. 2017 wurde das „Gesetz zur Prä­ven­tion und Ver­hin­de­rung der häus­li­chen Gewalt“ ange­nom­men. Am 1. Juni 2021 wurde zudem ein wei­te­res Gesetz beschlos­sen, das die Ver­ant­wor­tung für die häus­li­che Gewalt sowie geschlechts­be­zo­gene Gewalt verstärkt.

Eine weitere wich­tige Ände­rung wäre die Rati­fi­zie­rung der Istan­bul-Kon­ven­tion – des „Über­ein­kom­mens des Euro­pa­rats zur Ver­hü­tung und Bekämp­fung von Gewalt gegen Frauen und häus­li­cher Gewalt“. Die Ukraine war unter anderen die Autorin der Kon­ven­tion, hat sie 2011 unter­schrie­ben aber noch nicht ratifiziert.

Warum wäre es wichtig die Istan­bul-Kon­ven­tion zu rati­fi­zie­ren, und was würde sich dadurch ändern? Die Istan­bul-Kon­ven­tion erlaubt eine struk­tu­rierte Lösung des Pro­blems häus­li­che Gewalt. In einem Video für den Work­shop mit Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten zur Beant­wor­tung der Frage „Wie wird die Istan­bul-Kon­ven­tion dazu bei­tra­gen, Gewalt gegen Frauen und häus­li­che Gewalt in der Ukraine zu stoppen?“ wurden fol­gende wich­tige Unter­schiede benannt:

  • Eine Person, die häus­li­che Gewalt erlit­ten hat, soll gleich vor Ort Hilfe bekom­men, sowohl psy­cho­lo­gi­sche, als auch juris­ti­sche und medi­zi­ni­sche. Die jetzige Situa­tion sieht im Falle des Auf­tre­tens der häus­li­chen Gewalt vor, dass die Betrof­fe­nen sich an ver­schie­dene Insti­tu­tio­nen wenden müssen, um Hilfe zu erhal­ten. Diese Insti­tu­tio­nen befin­den sich oft weit weg von­ein­an­der entfernt.
  • Die betrof­fene Person wird die Mög­lich­keit erhal­ten, jeder­zeit Zugang zur Zufluchts­stätte im nächst­ge­le­ge­nen Ort zu bekom­men. Derzeit gibt es zu wenige solcher Häuser, und sie werden oft von zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen finanziert.
  • Wichtig wird zudem die Ände­rung in der Ermitt­lung der Fälle sein: Zurzeit wird über einen Fall nur ermit­telt, wenn die betrof­fene Person Anzeige erstat­tet. Im Falle der Zurück­nahme dieser Anzeige endet die Ermitt­lung. Nach der Rati­fi­zie­rung der Istan­bul-Kon­ven­tion wäre dies anders: Die Ermitt­lung über die Gewalt müsste in jedem Fall statt­fin­den, unab­hän­gig davon, ob es eine Anzeige der betrof­fe­nen Person gibt oder nicht. Die betrof­fene Person wird auch, anders als jetzt, die Mög­lich­keit bekom­men eine Ent­schä­di­gung zu fordern.
  • Die jetzt in den Gerich­ten ange­wandte Praxis, „Alter­na­tive Wege für die Still­le­gung des Kon­flik­tes zu suchen“, die in der Praxis oft dazu führt, dass Gerichte Gewalt in der Familie prak­tisch ohne Strafe lassen, wäre verboten.

Die zwei bis­he­ri­gen Ver­su­che die Kon­ven­tion zu rati­fi­zie­ren, sind zuletzt an den rechts­po­pu­lis­ti­schen Poli­ti­kern und an der Stel­lung­nahme des Kir­chen­ra­tes in der Ukraine geschei­tert. Weil, so die Gegner, „die in der Kon­ven­tion ent­hal­te­nen Bezeich­nun­gen ‚Gender‘ und ‚Gender-Iden­ti­tät‘ nicht mit den Normen der ukrai­ni­schen Gesell­schaft zu ver­ein­ba­ren seien“.

Ein Blick in die Kon­ven­tion zeigt, dass mit „Gender“ die gesell­schaft­lich gepräg­ten Rollen, Ver­hal­tens­wei­sen, Tätig­kei­ten und Merk­male, die eine bestimmte Gesell­schaft als für Frauen und Männer ange­mes­sen ansieht, bezeich­net werden.

Blick in die Zukunft

Die Hotline der Stif­tung „Sla­wi­sches Herz“ hat 2020 211.000 Anrufe von Frauen bekom­men, die über häus­li­che Gewalt berich­te­ten. Im Ver­gleich dazu waren es in 2019 – 131.000 Anrufe. Einer der Gründe für die ange­stie­gene Zahl liegt in der breiten Öffent­lich­keits­ar­beit von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen in der Ukraine. Nach Angaben dieser Stif­tung wenden sich gegen­wär­tig fünf Mal mehr Frauen als früher an die Polizei und an  zivil­ge­sell­schaft­li­chen Organisationen.

Auch wenn die Gesamt­si­tua­tion sich in der Ukraine ver­bes­sert – so wird sich für Larisa in dieser Hin­sicht ver­mut­lich nichts mehr ändern. Für die nächste Gene­ra­tion der Frauen in der Ukraine sieht die Situa­tion aber anders aus. Die Rati­fi­zie­rung der Istan­bu­ler-Kon­ven­tion kann für die Ver­bes­se­rung der Situa­tion sicher­lich viel beitragen.

* Name geändert.

Textende

Portrait von Oleksandra Bienert

Olek­san­dra Bienert ist eine in der Ukraine gebo­rene und in Berlin lebende For­sche­rin und Aktivistin.

 

 

 

 

 

 

 

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