Über knallende Türen und die Istanbul-Konvention
Häusliche Gewalt gegen Frauen wird in der Ukraine nicht mehr verschwiegen. Aber die Verbesserungen kommen sehr langsam voran. Oleksandra Bienert plädiert für die Ratifizierung der Istanbul-Konvention.
„Wenigstens werde ich Dich nicht schlagen“, sagt mir der junge Mann. Wir treffen uns gerade zu einem Date. Es ist Mai 2020, wir sitzen in Berlin am Ufer der Spree. Ich lächle dazu müde. Und denke mir dann: Wenn jemand aus einer Gesellschaft kommt, wo die Kultur der Gewalt so verwurzelt ist, möchte man erstmal die Person gegenüber über eigenen Stand dazu informieren. Den Mann habe ich dann nicht wieder getroffen, aber noch lange über diesen Satz nachgedacht. Meiner Meinung nach zeigt er die Normalität der Gewalt. Für Leute, für die es nicht normal ist, ist es kein Thema. Also klar, kann man generell darüber reden. Aber man würde nie sagen, „Zumindest werde ich Dich nicht schlagen“. Das impliziert den Gedanken „eigentlich schlagen ja die Männer in der Beziehung (und es ist normal)“. Schlagen ist nicht normal. Gewalt in der Beziehung ist nicht normal. Und das von beiden Seiten.
Das Zitat, welches für manche Ohren vielleicht auch ein bisschen lustig klingt, beschreibt aber eine traurige Realität. Auch in der Ukraine. In meiner Familie gab es keine physische Gewalt zwischen meinen Eltern, aber sie haben sich viel gestritten. Geschlagen wurde zwar nie, aber in meinen Kindheitserinnerungen sind knallende Türen und das Geschrei sehr präsent. Es waren keine angenehmen Situationen. Irgendwann ist mein Vater ausgezogen und es wurde ruhig. Mein Vater und ich sind heute sehr gute Freunde. Das Geschrei meiner Eltern ist zwar längst vorbei, aber ich muss bis heute innerlich zucken, wenn irgendwo eine Tür sehr laut knallt.
Eine Freundin von mir hatte weniger Glück im Verhältnis zu ihrem Vater. Auch für ihre Mutter Larisa* – eine Lehrerin aus der kleinen westukrainischen Stadt Dubno – ist die Situation zu Hause alles andere als friedlich. Larisa ist nun seit über 40 Jahren mit einem Mann verheiratet – dem Vater meiner Freundin. Irgendwann hat er angefangen zu trinken – und hat nicht mehr damit aufgehört. Wenn er alkoholisiert ist, übt er psychische Gewalt aus, und das nun schon seit vielen Jahren. Er droht seiner Frau, beschimpft, erniedrigt und beleidigt sie.
Einmal war ich bei solch einer Situation dabei. Es war ein seltsam kaltes Gefühl der Angst und Ohnmacht, das in der Luft dieser sonst so gemütlichen Wohnung von Larisa hing, wenn dieser Mann betrunken war und laut wurde. Larisa sieht sich in dieser Situation nicht als Opfer. Sie hat selbst entschieden sich von ihm nicht scheiden zu lassen. Sonst würde er sich zu Tode trinken, sagt sie. Und wie kann sich eine Frau von ihrem Mann scheiden lassen, was für eine Frau ist sie dann? In der Stadt wäre sonst gemunkelt.
Gründe für die häusliche Gewalt gegen Frauen in der Ukraine
Nach Angaben der UNO vom April 2020 war jede dritte Frau in der Ukraine von Gewalt betroffen, nur jede fünfte davon wandte sich an die Polizei um Hilfe. Mehr als 90 Prozent der Polizeibekannten Täter waren Männer.
Alkohol oder Drogen sind dabei nicht der Grund, warum häusliche Gewalt in der Ukraine – ob psychisch oder physisch – weiterhin Platz hat, sondern sie sind eher ein Handlungsauslöser, ein Trigger.
Die Hauptgründe liegen in der Verteilung von Machtpositionen in der Gesellschaft, in der weiterhin existierenden Ungleichheit zwischen Mann und Frau sowie in den Vorurteilen, die über die Rollen von Männern und Frauen vorhanden sind, so die Präsidentin des Internationalen Zentrums für Frauenrechte „La Strada – Ukraine“ Olga Kalashnik.
Die Männer in der ukrainischen Gesellschaft haben mehr Macht – ihre Gehälter sind größer, sie besetzen häufiger die höheren Entscheidungspositionen. Zudem ist das Konstrukt „Wer ist eine gute Ehefrau“ noch lebendig. Eine „gute Ehefrau“ muss laut diesem Konstrukt, zugespitzt gesagt, alles machen (und aushalten) um die Familie zu erhalten. Dementsprechend denken 41 Prozent der von der OSCE in einer Studie befragten Frauen in der Ukraine, dass die Situation innerhalb der Familie gelöst werden muss, wenn es zu Gewalt seitens des Mannes kommt (Analyse von OSCE von 2019). Dank der Ungleichheit in der Gesellschaft wird Gewalt toleriert, sie wird „legitimiert“ als Ausübung der Macht in einer Beziehung.
Nach der Umfrage der Stiftung „Slawisches Herz“, die von der Aktivistin Natalya Kirkach in Swjatohorsk (Donezker Region) für die Unterstützung von Familien und Binnengeflüchteten gegründet wurde, bewerten in den östlichen Regionen der Ukraine Frauen immer noch Schläge oder Vergewaltigungen als „geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“. Verbale Erniedrigungen, Schreie und andere Arten der psychischen Gewalt zählen für sie nicht dazu.
Um Gewalt in der Familie zu bekämpfen, muss einerseits Bewusstsein dafür da sein, dass das, was gerade passiert, nicht in Ordnung ist. Dass man nicht psychische Gewalt zulassen darf, um andere Person „vom Alkoholismus-Tod zu retten“, um an Larisas Beispiel noch mal zu erinnern. Andererseits ist für die Opfer von enormer Bedeutung, dass sie Möglichkeiten haben Hilfe zu holen, dass Gesellschaft und Polizei angemessen reagieren.
Man kann zwar mit vielen Kampagnen und mit Aufklärungsarbeit das Bewusstsein der Frauen stärken, doch die gesellschaftlichen Vorstellungen ändern sich langsam. 2017 wurden noch 58 Prozent der Anzeigen über häusliche Gewalt von der Polizei als unwahr bewertet, so die Forschung von „La Strada – Ukraine“. Die Polizei war oft davon überzeugt, dass Gewalt in der Familie eine private Angelegenheit sei. Dies spiegelte sich auch in den Meinungen der Richter wider: Mehr als 85 Prozent der Richter sahen es 2017 als ihre Hauptaufgabe bei Fällen von häuslicher Gewalt an, „in eine Familie Frieden wiederzubringen“, und nicht, den Täter zu bestrafen.
Änderungen in der Gesetzgebung nötig
Einiges hat sich in Hinsicht auf häusliche Gewalt in den letzten Jahren in der Ukraine verbessert. 2017 wurde das „Gesetz zur Prävention und Verhinderung der häuslichen Gewalt“ angenommen. Am 1. Juni 2021 wurde zudem ein weiteres Gesetz beschlossen, das die Verantwortung für die häusliche Gewalt sowie geschlechtsbezogene Gewalt verstärkt.
Eine weitere wichtige Änderung wäre die Ratifizierung der Istanbul-Konvention – des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. Die Ukraine war unter anderen die Autorin der Konvention, hat sie 2011 unterschrieben aber noch nicht ratifiziert.
Warum wäre es wichtig die Istanbul-Konvention zu ratifizieren, und was würde sich dadurch ändern? Die Istanbul-Konvention erlaubt eine strukturierte Lösung des Problems häusliche Gewalt. In einem Video für den Workshop mit Parlamentsabgeordneten zur Beantwortung der Frage „Wie wird die Istanbul-Konvention dazu beitragen, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt in der Ukraine zu stoppen?“ wurden folgende wichtige Unterschiede benannt:
- Eine Person, die häusliche Gewalt erlitten hat, soll gleich vor Ort Hilfe bekommen, sowohl psychologische, als auch juristische und medizinische. Die jetzige Situation sieht im Falle des Auftretens der häuslichen Gewalt vor, dass die Betroffenen sich an verschiedene Institutionen wenden müssen, um Hilfe zu erhalten. Diese Institutionen befinden sich oft weit weg voneinander entfernt.
- Die betroffene Person wird die Möglichkeit erhalten, jederzeit Zugang zur Zufluchtsstätte im nächstgelegenen Ort zu bekommen. Derzeit gibt es zu wenige solcher Häuser, und sie werden oft von zivilgesellschaftlichen Organisationen finanziert.
- Wichtig wird zudem die Änderung in der Ermittlung der Fälle sein: Zurzeit wird über einen Fall nur ermittelt, wenn die betroffene Person Anzeige erstattet. Im Falle der Zurücknahme dieser Anzeige endet die Ermittlung. Nach der Ratifizierung der Istanbul-Konvention wäre dies anders: Die Ermittlung über die Gewalt müsste in jedem Fall stattfinden, unabhängig davon, ob es eine Anzeige der betroffenen Person gibt oder nicht. Die betroffene Person wird auch, anders als jetzt, die Möglichkeit bekommen eine Entschädigung zu fordern.
- Die jetzt in den Gerichten angewandte Praxis, „Alternative Wege für die Stilllegung des Konfliktes zu suchen“, die in der Praxis oft dazu führt, dass Gerichte Gewalt in der Familie praktisch ohne Strafe lassen, wäre verboten.
Die zwei bisherigen Versuche die Konvention zu ratifizieren, sind zuletzt an den rechtspopulistischen Politikern und an der Stellungnahme des Kirchenrates in der Ukraine gescheitert. Weil, so die Gegner, „die in der Konvention enthaltenen Bezeichnungen ‚Gender‘ und ‚Gender-Identität‘ nicht mit den Normen der ukrainischen Gesellschaft zu vereinbaren seien“.
Ein Blick in die Konvention zeigt, dass mit „Gender“ die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht, bezeichnet werden.
Blick in die Zukunft
Die Hotline der Stiftung „Slawisches Herz“ hat 2020 211.000 Anrufe von Frauen bekommen, die über häusliche Gewalt berichteten. Im Vergleich dazu waren es in 2019 – 131.000 Anrufe. Einer der Gründe für die angestiegene Zahl liegt in der breiten Öffentlichkeitsarbeit von Menschenrechtsorganisationen in der Ukraine. Nach Angaben dieser Stiftung wenden sich gegenwärtig fünf Mal mehr Frauen als früher an die Polizei und an zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Auch wenn die Gesamtsituation sich in der Ukraine verbessert – so wird sich für Larisa in dieser Hinsicht vermutlich nichts mehr ändern. Für die nächste Generation der Frauen in der Ukraine sieht die Situation aber anders aus. Die Ratifizierung der Istanbuler-Konvention kann für die Verbesserung der Situation sicherlich viel beitragen.
* Name geändert.
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