Zur (weiblichen) ukrainischen Fotografiegeschichte: Paraska Plytka-Horytsvit
Im Sommer 2015 hat ein ukrainisches Künstlerteam das Fotoarchiv von Paraska Plytka-Horytsvit in ihrem Haus im Karpatendorf Kryvorivnya ‚entdeckt‘. Nach der Durchsicht und Restaurierung wurde klar, dass es sich um mehr als 6.000 wertvolle Fotos handelt. Plytka-Horytsvit hat nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang die Dorfbewohner*innen und das Dorfleben von Kryvorivnya fotografiert. Ihr Blick war eine ganz besonderer, und ihre Arbeiten sind ein wichtiger Teil der ukrainischen wie auch der weltweiten Fotografiegeschichte. Von Oleksandra Bienert
Ein Winter in den Karpaten und eine zierliche Frau namens Paraska, die ihre Fotos entwickelt. Kalt muss es gewesen sein. Kalt, aber nicht ungemütlich. In ihrem Haus ist es gemütlich. Von den zahlreichen Briefen und Besuchen, die sie bekommt. Von den Ideen, über die sie nachdenkt.
Eine Schriftstellerin, Philosophin, Künstlerin, Fotografin, Dichterin – Paraska Plytka-Horytsvit liebte die Welt und die Menschen, so viel steht fest, wenn man sich aufmerksam ihre Bilder anschaut.
Und sie ist jemand, die uns Ukrainer*innen unsere Geschichte mit Bildern wiedergibt, im wahrsten Sinne des Wortes: die uns uns selbst zurückgibt.
Geboren 1927 in Bystrets (Karpaten, damals Polen, heute Ukraine), zog Paraska Plytka-Horytsvit mit ihren Eltern in das benachbarte Dorf Kryvorivnya um, wo sie aufwuchs. Sie besuchte zwar nur die Grundschule, aber ihr Vater sorgte sich um ihre weitere Bildung und brachte ihr mehrere Sprachen bei. 1943, im Alter von 16 Jahren, wurde Plytka-Horytsvit zur NS-Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Diese Zwangsarbeit verarbeitete sie später in einem Gedicht aus der Sammlung Hörst Du, mein Bruder... Schmerzhafte Poesie.. 1944–1954, die sie 1969–1972 verfasste.
Nach ihrer Rückkehr wurde sie 1945 wegen ihrer Kontakte zur Ukrainischen Aufständischen Armee für zehn Jahre nach Sibirien und von dort nach Kasachstan verbannt. 1954 kam sie zurück, arbeitete in einer Försterei. Durch Bücher und technische Zeitschriften sowie über den regen Briefwechsel, den sie unterhielt, lernte sie fotografieren. Von ihrem ersten Gehalt in der Försterei kaufte sie sich eine sogenannte Smena, später ein Objektiv. Sie interessierte sich für Philosophie, Theologie, Politik und das Weltall sowie für die indische Kultur und stand mit vielen Intellektuellen in Briefkontakt, darunter Indira Gandhi. Neben rund 6.000 Fotografien umfasst ihr Werk 105 Bilder, Ikonen und mehrere hundert Bücher. Plytka-Horytsvit blieb unverheiratet und kinderlos und starb 1998.
Besonderer Blick auf Menschen
Sieht man sich diese Frau und ihre runde Brille länger an, so stellt man vor allem fest: Ihre Augen sahen alles. Sie durchdrangen die Welt. Aufmerksam schaut sie sich ihre Umgebung an, mit ihrer Smena um die Schulter gehängt. Genau so, denkt man, hat sie auch hinter der Kamera geschaut.
Das Auge ihrer Kamera ist ruhig, ihre Fotos sprechen eine klare Sprache.
Mit ihren Bildern hat Plytka-Horytsvit die Lebenschronik eines ganzen Dorfes über Jahrzehnte hinweg geschrieben. Sie hat ganze Generationen von Dorfbewohner*innen fotografiert – Portraits, Feste (insbesondere Ostern), Begräbnisse.
Durch ihre Kamera hat sie eine gemeinsame Sprache mit den Dorfbewohner*innen gefunden, die ihr nach ihrer Rückkehr aus der Verbannung, als ehemalige politische Gefangene, zunächst mit Misstrauen begegnet waren.
Plytka-Horytsvits Bilder regen zum Nachdenken über die großen, ewigen Fragen an: Wozu sind wir hier? Wohin gehen wir? Ihre Fotos ermutigen auch zum An- und Innehalten. Inga Levi, die Kyjiwer Künstlerin und Biografin von Paraska Plytka Horytsvit, die das Fotoarchiv zusammen mit anderen 2015 entdeckte, bestätigt diesen Eindruck in ihrem Kommentar für Ukraine verstehen: „Paraska Plytka-Horytsvit hat ihren eigenen Blick, der auf natürliche Art und Weise ihr theozentrisches Weltbild widerspiegelt. [...] Die Menschen vor ihrer Kamera stehen so, als würden sie für die Ewigkeit posieren und ähneln sich den Bildnissen von Heiligen an. Die Fotografin möchte offenbar das Beste in einem Menschen zeigen, wie für Gott. Solche Bilder aus den 1970ern zu sehen ist ziemlich einzigartig und unerwartet. Wobei Paraskas Fotografie – so berichten es diejenigen, die sie kannten – vor allem als eine Lebenschronik des huzulischen ukrainischen Dorfes wahrgenommen hat.“
Das Fortleben des Fotoarchivs
Das entdeckte Archiv wurde inzwischen komplett restauriert und befindet sich in dem Dorf Kryvorivnya, an einem Ort, wo es entsprechend aufbewahrt werden kann. Paraskas Haus ist für die Sammlung nicht geeignet, dort befindet sich jedoch zur Zeit ein inoffizielles Museum mit einer minimalen Anzahl von Ausstellungsgegenständen. Es steht gerade die große Frage im Raum, so Inga Levi, wie die Dorfgemeinde ein richtiges Museum für die Präsentation der Sammlung errichten kann.
Die Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin Halyna Hleba ist überzeugt, dass Plytka-Horytsvit eine wichtige Stimme in der ukrainischen Fotografie ist und ukrainische Fotografie gemeinsam mit Fotografinnen wie Iryna Pap und Sofiya Yablonska auch weltweit vertreten kann.
Einige wichtige Schritte für das Bekanntmachen des Archivs wurden bereits unternommen: 2018 fand eine Ausstellung von Plytka-Horytsvits Werk beim Festival Odesa Photo Days statt. Vom 17. Oktober 2019 bis zum 19. Januar 2020 wurde darüber hinaus eine große Ausstellung von Plytka-Horytsvit mit dem Titel „Overcoming Gravity“ in Kyjiwer Mystetsky Arsenal realisiert, welches zu den führenden Kunst- und Kulturinstitutionen des Landes zählt. Die Ausstellung wurde vom Archivteam gemeinsam mit Mystetsky Arsenal vorbereitet und erregte viel Aufmerksamkeit.
Darüber hinaus wurde in mehreren ukrainischen Städten der Dokumentarfilm A Portrait on the Background of Mountains ausgestrahlt, welcher von der Entdeckung des Archivs handelt. Der Regisseur des Films, Maksym Rudenko, gehört ebenfalls dem Team an, welches das Archiv fand.
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Das Team bereitet derzeit weitere Ausstellungsprojekte vor und sucht nach Möglichkeiten, das Fotoarchiv auch international zu präsentieren. Paraska Plytka-Horytsvit wird außerdem in das Buch World History of Women Photographers aufgenommen, welches in Kürze erscheint.
Mit ihren Fotografien des Dorflebens hat Plytka-Horytsvit die ukrainische Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur festgehalten, sondern sie auch selbst mitgeschrieben.
In der gegenwärtigen Ukraine, die ihre Geschichte (wieder-)entdeckt, sind ihre Arbeiten äußerst wertvoll: Wir haben die weibliche fotografische Binnenperspektive auf unsere Geschichte dringend nötig.
Es ist, als würden wir uns in einem halbdunklen Raum vorantasten, während Plytkas Bilder Licht in diese Dunkelheit werfen. Durch dieses Licht erkennen wir mehr Gesichter, Leben, Vergangenheit und vor allem: uns selbst. So können wir unser gegenwärtiges Selbst – und mit etwas Glück sogar unser zukünftiges – ein bisschen besser verstehen.
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