Kunst und Zensur gestern und heute
In der Sowjetunion wurde Kunst zensiert – ein Thema, das aktuell die ukrainische Kunstszene beschäftigt. Zwei Vorfälle in jüngerer Zeit haben die Diskussion neu entfacht. Von Yevgenija Belorusets
An einem einzigen Tag im April ereigneten sich in der zeitgenössischen ukrainischen Kunst und der seit vielen Jahren geführten Diskussion um Zensur gleich zwei bemerkenswerte Vorfälle. Am Morgen des 18. April gewann der Künstler Wladimir Kusnezow einen mehrjährigen Gerichtsprozess um die Zensur seiner Werke.
Der Künstler Wladimir Kusnezow und seine Arbeit auf der geschlossenen Ausstellung „Wospitatelnyje akty“, 18. April 2018. © Yevgenija Belorusets
Und ganz so, als bemühe man sich, diesen im Kontext der ukrainischen Kunst so bedeutenden Sieg gleich wieder für ungültig zu erklären, wurde am selben Tag, dem dritten nach ihrer Eröffnung, die Kiewer Ausstellung „Wospitatelnyje akty“ [Erziehungsmaßnahmen, Anm. d. Übers.] zwangsweise geschlossen. Die Ausstellung thematisierte das Phänomen der Zensur durch Gewalt [von Seiten radikal eingestellter Gruppierungen, Anm. d. Übers.]. An ihr waren 18 Künstlerinnen und Künstler beteiligt, darunter auch Wladimir Kusnezow und die Autorin dieses Artikels. Der Protest gegen die Schließung wird bis zum heutigen Tag fortgeführt.
Die Ausstellung in der Galerie SKLO nach dem Akt der Zensur: die Arbeiten sind umgedreht, zugedeckt oder von den Wänden genommen, 18.04.2018, © Yevgenija Belorusets
Zeitlich fielen beide Ereignisse zwar nur zufällig zusammen, nichtsdestotrotz sind sie eng miteinander verflochten. Die Zensur einer Arbeit Wladimir Kusnezows Mitte 2013 bildete für einen Teil der ukrainischen Kunstszene einen Wendepunkt und führte zu ihrer Spaltung.
Die erzwungene Schließung der Ausstellung in der Galerie SKLO Mitte April wiederum zeugt nicht nur davon, dass die Diskussion um Zensur in der Kunst nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Sie führte außerdem vor Augen, dass sich seit 2013 in ukrainischen Künstlerkreisen eine Gemeinschaft gebildet hat, die auf ein solches Geschehen vorbereitet ist und sich dafür einsetzt, die Politik jener Einrichtungen, die die freie Meinungsäußerung antasten, unumkehrbar zu verändern.
Kunstwissenschaftler protestieren gegen die Schließung der Ausstellung „Wospitatelnyje akty“ in der Galerie SKLO [Auf dem Plakat in der Mitte die Worte: „Schande! Scham!“, Anm. d. Übers.]
Beide Vorkommnisse verweisen auf Ereignisse aus der jüngsten ukrainischen Geschichte. Zunächst ist es notwendig, an die Zensurmaßnahme von 2013 zu erinnern.
Loyale Bürokraten und vorauseilender Gehorsam
Wenige Monate vor den Massenprotesten auf dem Majdan, im Juli 2013, bereitete eine bedeutende Institution der ukrainischen Kunstszene – der Museumskomplex „Mistezki Arsenal“ – die Ausstellung „Welikoje i welitschestwennoje“ vor [in englischer Übersetzung lautete der Titel der Ausstellung „Grand and Great“, Anm. d. Übers.]. Die Ausstellung war dem 1025-jährigem Jubiläum der Taufe der Rus gewidmet. Das Thema war keineswegs zufällig gewählt. Das Mistezki Arsenal, das sich direkt neben dem Kiewer Höhlenkloster befindet, dem Zentrum des Moskauer Patriarchats in der Ukraine, schuf damit weniger ein kulturhistorisches, als vielmehr ein politisches Ereignis. Faktisch wurde die Ausstellung konzipiert als Symbol der Freundschaft mit Russland sowie – mit Blick auf die Einheit von Kirche und Staatsmacht – als ein Schritt in Richtung Archaisierung und Entsäkularisierung der ukrainischen Gesellschaft.
Die ukrainischen Medien berichteten damals, dass zur Eröffnung eine Reihe „hoher“ Gäste erwartet würden: der damalige Präsident der Ukraine Wiktor Janukowytsch sollte ihr in Begleitung von Hierarchen der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats beiwohnen. Ebenso wurde der russische Präsident Wladimir Putin erwartet. Dieser hielt sich zu einem offiziellen Besuch in der Ukraine auf, um Wiktor Janukowytsch die Unterschreibung des Assozierungsabkommens mit der EU auszureden.
Wladimir Putin erschien letztendlich nicht zu der Eröffnung. Dennoch hielt es die Direktorin des Museums Natalia Sabolotnaja für nötig, die Ausstellung vor dem Besuch von Wiktor Janukowytsch zu inspizieren und sie von kritischen Arbeiten zu säubern.
Die Direktorin des bedeutendsten ukrainischen Museums entschied sich, die Proteste der Kuratoren und Wissenschaftler ihres eigenen Hauses ignorierend, eine Reihe von Kunstwerken, die sie ihrem persönlichen Geschmack nach als „umstritten“ oder „provokativ“ empfand, zu vernichten oder nach Möglichkeit zumindest aus der Ausstellung zu entfernen.
Das unvollendet gebliebene Wandgemälde „Kolijiwschtschyna. Das Jüngste Gericht“ von Wladimir Kusnezow, angefertigt für die Ausstellung „Grand and Great“ im Mistezki Arsenal, 2013, © Wladimir Kusnezow
Auf Anweisung der Direktorin nahm einer der Künstler widerspruchslos seine Arbeit von den Wänden. Ein anderes Schicksal ereilte das Wandgemälde „Kolijiwschtschyna. Das Jüngste Gericht“ von Wladimir Kusnezow, das er speziell für diese Ausstellung angefertigt hatte.
Der Konzeption Kusnezows entsprechend, waren darauf Tschernobyl-Opfer und protestierende Arbeiter neben in der Hölle brennenden, korrumpierten Vertretern der Kirche, Beamten und Oligarchen abgebildet.
Ein Wandgemälde lässt sich nur schwer verpacken und im Eilverfahren dem Künstler zurückgeben. Einen Tag vor der Eröffnung beschloss die Direktorin daher, das Werk mit schwarzer Farbe zu übermalen und so anstelle des Wandgemäldes ein schwarzes Rechteck zu schaffen. Diese Entscheidung erwies sich in gewisser Weise als schicksalshaft, da ihre Folgen die Kunstszene in Kiew, wenn nicht sogar in der gesamten Ukraine, für immer verändert haben.
Die übermalte Arbeit Wladimir Kusnezows „Kolijiwschtschyna. Das Jüngste Gericht“, 2013, © Wladimir Kusnezow
Die Tatsache, dass es die Direktorin des Museums im Jahr 2013 in beinahe feudaler Manier für zulässig hielt, der amtierenden Regierung ihre Servilität zu demonstrieren, verrät viel über den Zustand der Meinungsfreiheit in der Ukraine am Vorabend des Majdan.
Zensur ist offiziell verboten – wird aber informell gedultet
Es ist bemerkenswert, dass dieser Akt der Zensur, ähnlich wie alle Nachfolgenden, spontan geschah. Die Direktorin des Museums handelte ausschließlich aus eigener Initiative, niemand zwang sie dazu, es gab keinerlei Anordnungen „von oben“. Staatliche Zensurorgane gibt es in der Ukraine nicht. Mehr noch, Zensur ist durch die Verfassung verboten. In den Ministerien, denen das Mistezki Arsenal unmittelbar unterstellt war, wusste niemand von den Bemühungen der Direktorin, die Ausstellung auf den Besuch des Präsidenten „vorzubereiten“.
2013 war noch nicht klar, ob man der Gesellschaft Zensur als eine Art „Norm“ präsentieren kann. Deutlich geht das aus den Kommentaren der ehemaligen Direktorin Natalia Sabolotnaja hervor:
„Man kann das als meine eigene Performance betrachten. Ich bereue nicht, was ich getan habe. Ich spreche mich entschieden gegen die Unverschämtheit mancher Künstler aus...“
Oder an gleicher Stelle:
„Man darf nicht auf die Heimat schimpfen, ebenso wenig wie auf die eigene Mutter. Alles, was gegen die Heimat gesagt wird, empfinde ich als unmoralisch.“
Fünf Jahre sind seit diesen Ereignissen vergangen – fünf denkwürdige für den Kampf um Meinungsfreiheit und Menschenrechte in der Ukraine. Im Verlauf dieser ganzen Zeit wurde der Vorfall im Arsenal von der Kunstszene mehrfach aufs Neue aktualisiert. Tatsächlich gab er den Impuls für das Entstehen neuer Gemeinschaften und zog Diskussionen nach sich, Texte, die Selbstorganisation von Künstlern, einen bis heute andauernden Boykott des Mistezki Arsenal sowie Gerichtsprozesse, initiiert durch Wladimir Kusnezow.
Juristischer Präzedenzfall und öffentliche Proteste führen zum besseren Schutz für Künstler
Die Verfahren vor Gericht, die Wladimir Kuznezow bis zum April 2018 größtenteils verlor, lohnt es gesondert zu erwähnen. Sein Prozess um die faktische Anerkennung von Zensur stellt den einzigen Fall in der Geschichte der unabhängigen Ukraine dar, in dem ein Künstler versucht, seine Rechte vor Gericht zu verteidigen.
Dieser juristische Präzedenzfall erlaubt es, den Zensurprozess selbst aus dem Schatten der Informalität herauszuführen. Unter den Bedingungen der ukrainischen Gesellschaft existiert eine solche Form der Zensur in erster Linie deshalb, weil sie sich im Bereich nicht-offizieller Entscheidungen und Beziehungen in Sicherheit wägen kann.
Genau aus diesem Grund weigert sich das Arsenal bis heute, das Vorgefallene als Akt der Zensur zu bezeichnen und konnte nach wie vor keine klare Definition für das finden, was sich 2013 dort ereignete.
Immerhin hat der Protest dazu geführt, dass die Leitung des Museums 2016 ausgetauscht wurde. Zudem unternimmt das Mistezki Arsenal mittlerweile einige Schritte in Richtung des rechtlichen Schutzes jener Künstler, die mit dieser Einrichtung zusammenarbeiten.
Zensur durch Gewalt
Die Undefinierbarkeit und die rechtliche Unklarheit sind vermutlich eine der Ursachen für das Entstehen und die Entwicklung einer weiteren Form der Zensur. Gemeint ist das bereits zu sowjetischen Zeiten bewährte Modell der gewaltsamen Unterdrückung des Freidenkertums auf dem Gebiet der Kultur durch das aktive Engagement einer „unzufriedenen Öffentlichkeit“.
Heute wird diese Rolle der „unzufriedenen Öffentlichkeit“ – als sollte dadurch absichtlich diese grundlegende Idee der vergangenen Jahre ad Absurdum geführt werden – von Angehörigen „patriotischer Jugendorganisationen“ übernommen. Mit anderen Worten von rechtsradikalen Initiativen.
Im Februar 2017 attackierten im direkten Sinne des Wortes Vertreter ultrarechter Gruppen eine Ausstellung des ukrainischen Künstlers David Tschytschkan im Zentrum für visuelle Kultur. Im November desselben Jahres kam es zur skandalträchtigen Schließung der Ausstellung „The Festivities Are Cancelled!“ auf der Kiewer Biennale für zeitgenössische Kunst. Die Ausstellung wurde konzipiert vom ukrainischen Kollektiv Hudrada. Einer der Veranstaltungsorte, an denen sie stattfand, lehnte es ab eine Arbeit von David Tschytschkan zu zeigen. Als Erklärung dienten Sicherheitsbedenken: was, wenn es erneut zu einem Überfall kommt?
Diese besorgniserregende Situation, in der Beamtenwillkür und ungestrafte Handlungen „anonymer Patrioten“ nebeneinander existieren, bestimmt mittlerweile weitgehend die thematische Ausrichtung aktueller kuratorischer Projekte.
Die Ausstellung „The Festivities Are Cancelled!“ widmete sich der sowjetischen und modernen Zensur. Der Titel der im April geschlossenen Ausstellung „Wospitatelnyje akty“ meint nichts anderes als rechte Gewalt, die sich hinter paternalistischer Rhetorik verbirgt.
Zensur und verbotene Kunst werden zum Gegenstand von Kunst
Tatsächlich entsteht in der Ukraine vor unseren Augen eine Ausstellungsrichtung, die das Phänomen der Zensur und die Aktualisierung des Themas verbotener Kunst zum Gegenstand hat.
Im April 2018 initiierte die NGO Metod-Fond eine Kampagne, deren Ziel die Schaffung juristischer Grundlagen zur Verteidigung der Rechte von Künstlern auf freie Meinungsäußerung ist. Außerdem unterstützt sie Wladimir Kusnezow vor Gericht.
Dank dieser Initiative und der Mittel, die Metod-Fond durch den Verkauf von Kunstwerken auf Wohltätigkeitsauktionen sammelt, könnte sich die Praxis entwickeln, Akte der Zensur aus dem Feld informeller „Beamtenperformances“ in die raue Welt juristischer Verantwortung zu übertragen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zensurmaßnahmen in dieser Welt nicht überleben, oder sich zumindest nicht erfolgreich vermehren können.
Aus dem Russischen von Matthias Kaufmann.
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