Ein gefährlicher Trend: Angriffe auf Aktivisten nehmen zu!
Seit 2017 wurden über 55 Aktivisten und Politiker angegriffen. Viele Beobachter sind deswegen ernsthaft beunruhigt. Was hat es mit den Übergriffen auf sich und warum häufen sie sich ausgerechnet in letzter Zeit? Eine Analyse von Alya Shandra.
Am 15. Oktober hörte Daryna Aleksandrowa um 3 Uhr morgens die Alarmanlage ihres Wagens . Es war zu spät – die beiden Autos der Familie standen in Flammen. Aleksandrowa, ein junges Mitglied des Stadtrates von Kotsyubynske, einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, sagte, die Brandstiftung sei mit ihren Versuchen verbunden, Korruptionsschemata aufzudecken und einen nahegelegenen Wald zu erhalten.
Aleksandrovas verbrannte Autos. Foto: Nationale Polizei der Ukraine
Die Nachrichten haben niemanden in der Ukraine überrascht. Vor drei Wochen hatten es die Ärzte auf der anderen Seite des Landes, in der Küstenstadt Odessa, kaum geschafft, das Leben von Oleh Mykhailyk zu retten. Dem 43-jährigen Aktivisten und Vorsitzenden der jungen politischen Partei „Syla Liudei“ wurde auf dem Nachhauseweg von einer Demo in die Brust geschossen. Seine Parteimitglieder sind sich sicher, dass der Angriff mit Mykhailyks Kampagnen gegen illegale Bauvorhaben zusammenhing – und mit Odessas skandalumwitterten Bürgermeister Hennadiy Trukhanow, der es immer noch schafft im Amt zu bleiben – trotz zahlreicher Beweise für Korruption, und eines russischen Passes, den er nach ukrainischem Recht gar nicht besitzen dürfte.
Diese beiden Angriffe auf kritische Aktivisten aus Politik bzw. Zivilgesellschaft in der Ukraine sind die jüngsten von mindestens 55 seit 2017. Die Zivilgesellschaft in der Ukraine und viele Beobachter sind deswegen ernsthaft beunruhigt. Über 50 NGOs unterzeichneten einen gemeinsamen Appell, in dem sie die aktuelle Situation der „Verfolgung von Aktivisten und die Untätigkeit des Staates“ mit den Tagen des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch verglichen und die Regierung aufforderten, die Anschläge endlich zu untersuchen.
Daraufhin deutete Generalstaatsanwalt Lutsenko an, dass die Aktivisten womöglich selbst für die Anschläge verantwortlich seien, weil sie der Regierung zu kritisch gegenüber stehen würden.
Aktivere Bürger – mehr Angriffe seit Euromaidan
Tetiana Pechonchyk, Leiterin des Menschenrechtsinformationszentrums, hält die Situation sogar für schlimmer als zu Janukowytschs Zeiten: Die Zahl der Angriffe auf Aktivisten ist seit der Revolution der Würde 2014 tatsächlich gestiegen. Es gibt mehrere Erklärungen, sagt sie: Erstens sind die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten quantitativ wie qualitativ seit dem Maidan in die Höhe geschossen – im ganzen Land- insbesondere in den Regionen. Viele Bürger beteiligten sich an den Dezentralisierungsprozessen, bildeten Gemeinschaften und NGOs, um die illegale Bebauung, die Zerstörung von Parks und der sonstigen Teilnahme am öffentlichen Leben anzugehen. All dies beeinträchtigt die bestehenden Korruptionsschemen der lokalen Behörden bzw. Eliten. Zweitens hat der nicht erklärte Krieg Russlands im Osten der Ukraine das Ausmaß der Gewalt – und die Toleranz gegenüber Gewalt – erhöht. In einigen Fällen waren die Attentäter der Angriffe Kriegsveteranen, die auf keine staatlichen Programme zurückgreifen können, um ihre Traumata zu verarbeiten und wieder in ein friedliches Leben zurückzukehren.
Dies erklärt, warum laut Pechonchyk die Opfer aus drei Stämmen stammen: den Antikorruptionsaktivisten, „Umweltaktivisten“ im weiteren Sinne – die gegen Abholzung, Zerstörung von Parks, illegales Bauen usw. protestieren, und LGBT- und feministischen Aktivisten, die Opfer von Angriffen rechtsextremer Gruppen werden.
Während einer Demonstration wurde der Vorsitzende des Anticorruption Action Centers (ANTAC) von einem Angreifer mit antiseptischer Farbe überschüttet. Foto: zbruc.eu
Aber eines ist seit Janukowytschs Zeiten gleich geblieben: die Unfähigkeit der Polizei, die Schuldigen zu ermitteln. „In vielen Fällen sind die Strafverfolgungsbehörden nicht in der Lage, eine wirksame Untersuchung durchzuführen, und in einigen Fällen vermuten wir, dass sie absichtlich Sabotage betreiben. Die Staatsanwaltreform ist völlig gescheitert, die Polizeireform hat auf der „Fassadenebene“ der Streifenpolizei aufgehört, aber die Ermittlungbeamten, die diese Verbrechen untersuchen müssen, sind nicht reformiert worden“, sagt Pechonchyk.
Im Falle von Kateryna Handziuk, einer Aktivistin in der südukrainischen Stadt Kherson, die in der Nähe ihres Hauses von Angreifern mit Schwefelsäure übergossen wurde, wurde die Polizei erst nach massivem öffentlichen Druck aktiv, den Handziuks Freunde treffend „butt-kicking democracy“ nannten. Dank breiter Berichterstattung und Protesten wurde der Fall vom absurden „Hooliganismus“ in einen „Mordversuch“ umdeklariert. Die Polizei verhaftete sogar einen unschuldigen Mann, nur um die Welle der öffentlichen Wut zu löschen. Zweieinhalb Monate nach dem Angriff wurden die Attentäter verhaftet, aber der Organisator ist noch unbekannt – wie bei den restlichen 55 Angriffen.
„Wer steckt hinter all diesen Kriminellen? Wer deckt und schützt den Organisator? Warum wurden so viele Untersuchungen sabotiert? Warum sollten wir das hinnehmen, während die engagiertesten Aktivisten getötet oder verkrüppelt werden? Warum sollten wir normale Ukrainer ermutigen, sich an sozialen Aktivitäten und Bürgerinitiativen zu beteiligen, wenn wir sie nicht schützen können“, fragt Handziuk in einem Videoanruf von ihrem Krankenhausbett aus, in dem sie lange Zeit verbringen wird, bis sie sich von den Verbrennungen erholt hat, die 30% ihres Körpers bedecken.
Kyjiw erlaubt es im Gegenzug für Stimmen, regionalen Eliten wie Feudalherren zu regieren
Da es kaum wirksamen Ermittlungen zu den Angriffen gibt, ist der eigentliche Grund dafür unklar. Häufig wird russischer Einfluss vermutet, dessen Ziel es sei, Chaos zu verursachen. Dafür mangelt es aber an schlaghaltigen Beweisen. Mykola Vyhovskyi von der „Chesno“-Bewegung, die die Wahlen in der Ukraine überwacht, ist jedoch der Meinung, dass die Anschläge einen weiteren, nicht minder finsteren Grund haben: Es gibt eine inoffizielle Vereinbarung, nach der Präsident Poroschenko den lokalen Eliten erlaubt, im Austausch für ihre Loyalität bei den Wahlen zu tun, was sie wollen.
Oleg Mykhailyk (mit Lautsprecher) war eine sichtbare Persönlichkeit des politischen Lebens in Odessa Foto: Pravda.com.ua
„Gemäß den Bedingungen der Vereinbarung sorgen die lokalen Eliten dafür, dass der Präsident wiedergewählt wird [während der Wahl 2019 – Ed], und im Gegenzug erhalten sie Immunität. So werden die Regionen in den Schoß der lokalen Eliten geworfen, die tun können, was sie wollen. Und Aktivisten stehen ihnen im Weg, sie werden unter Druck gesetzt oder physisch zerstört“, glaubt Vyhovskyi.
Auf jeden Fall erklärt dies die Fülle der Angriffe auf Aktivisten in Odessa: Während Bürgermeister Truchanow nach Angaben der Opferverbände der wahrscheinlichste Verdächtige ist, sieht die Polizei ihn niemals als Verdächtigen. Trotz zum Teil vernichtender Indizien für Korruption darf Truchanow Odessa weiterhin führen, als ob nichts passiert wäre. Jüngst deckten BBC Recherchen im Kontext der „Paradise-Papers“ auf, dass Truchanow Immobilien im Millionenwert in London besitzt, deren Finanzierung er nicht erklären kann.
Zur Flucht gezwungen
Laut Pechonchyk wurden viele Aktivisten mehrmals angegriffen. Einige wurden so eingeschüchtert, dass sie das Land verließen. Die Kyjiwer Aktivistin Valentyna Aksionova, die eine Kampagne zur Rettung eines nahegelegenen Waldes leitete, verließ nach mehrfachen Drohungen Brandstiftung ihres Autos, der Untätigkeit der Polizei und den Drohungen gegen ihre Familie die Ukraine. Auch der LGBT-Aktivist Ihor Sachartschenko war 2017 nach Angriffen aus der Ukraine geflohen und hat nun den Flüchtlingsstatus in Frankreich erhalten.
Aber zumindest eines ist jetzt besser, sagt Pechonchyk: Immerhin setzt der Staat keine Strafpsychiatrie gegen Aktivisten ein, wie es vor der Euromaidan mehrmals geschah. Der Rechtsrahmen für Aktivisten hat sich jedoch verschlechtert: Ein Gesetz, das die Antikorruptionsaktivisten verpflichtet, ihr Vermögen auf Augenhöhe mit Staatsbeamten offenzulegen, ist derzeit in Kraft, und im Parlament liegen mindestens drei weitere Gesetze zur Begrenzung der Aktivitäten von Bürgeraktivisten und NGOs auf dem Tisch. „Das ist schockierend, wenn so eine zentralisierte Offensive und Behinderung von Seiten der Behörden stattfindet“, sagt Pechonchyk. Einige Experten sprechen offen von einem koordinierten staatlichen Angriff auf Bürgeraktivisten.
Wird Daryna Aleksandrova mit ihren abgebrannten Autos auch eingeschüchtert, die Ukraine zu verlassen, wie es Aksionova vor ihr tat? Dies wird davon abhängen, ob sich die Postmaidan-Regierung der Ukraine endlich ernsthaft dem Problem annehmen wird und eine Reform der Strafverfolgungsbehörden durchführt – auch gegen lokale Eliten – oder ob sie die Kampagne(n) gegen Aktivisten weiterhin duldet. Leider gibt es in der Vorwahlzeit des kommenden Superwahljahres 2019 in der Ukraine derzeit kaum Hoffnung für ersteres.
Lesen Sie hier eine Übersicht der 10 prominentesten Fälle von Übergriffen auf Aktivsten.
Aus dem Englischen übersetzt von Mattia Nelles
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