Andrij Jermak: „Selen­skyjs Manager“ oder fak­ti­scher Vizepräsident?

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Der 51-jährige Jurist Andrij Jermak ist weder Minis­ter­prä­si­dent noch Par­la­ments­vor­sit­zen­der – dennoch gilt der Leiter des ukrai­ni­schen Prä­si­di­al­am­tes zu Recht als zweit­mäch­tigs­ter Mann des Landes. Nicht alle Mythen über seinen Ein­fluss ent­spre­chen jedoch der Realität.

Andrij Jermak ist, abge­se­hen von dem in Kriegs­zei­ten äußert wich­ti­gen Befehls­ha­ber der Armee Walerij Salu­schnyj, fak­tisch der zweite Mann im Staat. Er bezeich­net sich gern als „per­sön­li­chen Manager Selen­skyjs“ und beglei­tet diesen inzwi­schen auf jeder Reise.

Unzäh­lige Mythen ranken sich um Jermak und seinen Ein­fluss auf die ukrai­ni­sche Politik. Nicht alle ent­spre­chen der Wirk­lich­keit. So war der hoch ange­se­hene Fach­mann für Urhe­ber­recht zwar viel­fach in der Kino­bran­che tätig und agierte gele­gent­lich sogar als Film­pro­du­zent. Doch Jermak gehört nicht zu den zahl­rei­chen alten Weg­ge­fähr­ten Selen­skyjs, die 2019 mit ihm aus der Film­in­dus­trie in die Macht­struk­tu­ren wech­sel­ten. Und während die meisten Ver­bün­de­ten aus Selen­skyjs Ver­gan­gen­heit seither an Ein­fluss ver­lo­ren haben, gilt das Gegen­teil für Jermak.

Schnel­ler Aufstieg

Jermak, der zunächst außen­po­li­ti­scher Berater Selen­skyjs war und im Februar 2020 zum Chef der Prä­si­di­al­ver­wal­tung ernannt wurde, stieg blitz­schnell zum wich­tigs­ten Mann an der Seite des Prä­si­den­ten auf. Seine Bedeu­tung geht weit über bei­spiels­weise die des Bun­des­kanz­ler­amts­chefs Wolf­gang Schmidt hinaus.

Die Frage ist aller­dings: Wie mächtig ist er wirk­lich? Und was ist dran an den Behaup­tun­gen der Oppo­si­tion – vor allem seitens der Anhän­ger des Ex-Prä­si­den­ten Petro Poro­schenko –, Jermak sei eine Art „graue Eminenz“ oder Schattenpräsident?

Niemand kann Selen­skyj zwingen

Es liegt im Bereich der Science-Fiction, dass der 51-Jährige die Politik Selen­skyjs kom­plett bestim­men könnte. Aus seiner Zeit bei der Pro­duk­ti­ons­firma Kwartal 95 – einem der größten Unter­neh­men der ukrai­ni­schen Film­in­dus­trie – ist er als seriö­ser und auch stren­ger Chef bekannt. Es ist kaum vor­stell­bar, dass ihn über­haupt jemand zu Ent­schei­dun­gen zwingen kann, egal, ob es sich dabei um Jermak oder gar um US-Prä­si­dent Joe Biden handelt.

Jermaks Ernen­nung zum Chef des Prä­si­di­al­am­tes gehört zwei­fel­los zu den effek­tivs­ten Per­so­nal­ent­schei­dun­gen Selen­skyjs. Sein Vor­gän­ger, der skan­dal­um­wit­terte Anwalt Andrij Bohdan, hatte zwar im Wahl­kampf 2019 die erste Geige gespielt. Als Leiter der Prä­si­di­al­ver­wal­tung ver­ur­sachte Bohdan jedoch zu viel Unruhe. Der ruhige Jermak dagegen wird selbst von seinen Gegnern für seine her­vor­ra­gen­den Orga­ni­sa­ti­ons­fä­hig­kei­ten gelobt. Die Selbst­be­zeich­nung als „Selen­skyjs Manager“ ist daher offen­bar nah an der Wirklichkeit.

Die Kritik an Jermak ist teil­weise begründet

Kritik an Jermak kommt sowohl von der Oppo­si­tion als auch aus dem poli­tisch aktiven Teil der Zivil­ge­sell­schaft. Und die Kritik ist bei weitem nicht immer unbe­grün­det. Die Zusam­men­ar­beit mit Oleh Tatarow, Jermaks Stell­ver­tre­ter für Sicher­heits­fra­gen, ist zum Bei­spiel ein solch umstrit­te­ner Fall. Während der Maidan-Revo­lu­tion war Tatarow im Sicher­heits­ap­pa­rat des dama­li­gen Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­wytsch tätig. Außer­dem tauchte sein Name bei Ermitt­lun­gen der ukrai­ni­schen Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den auf. Für viele ist unver­ständ­lich, warum Jermak dennoch an Tatarow fest­hält. In einem Inter­view im Januar 2021 mit der Zeit­schrift NV sagte Jermak, dass ihn Tata­rows Fach­ni­veau über­zeuge und dass die Ermitt­lun­gen nichts mit dessen Tätig­keit im Prä­si­den­ten­büro zu tun hätten.

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

Der Vorwurf, Jermak gehe gezielt gegen hoch­ran­gige Beamte vor, die ihm gegen­über nicht loyal sind, hat dagegen nur bedingt eine Grund­lage. Denn dass hoch­ran­gige Beamte wie Selen­skyjs Kind­heits­freund Iwan Bakanow, früher Chef des Inlands­ge­heim­diens­tes SBU, gehen mussten, liegt vor allem an ihrer schlech­ten Arbeit.

Auch der ehe­ma­lige stell­ver­tre­tende Chef des Prä­si­di­al­am­tes Kyrylo Tymo­schenko, dem eine schwie­rige Bezie­hung zu Jermak nach­ge­sagt wird, wurde nicht wirk­lich von Jermak zum Rück­tritt gedrängt. Viel­mehr war Tymo­schenko in Kor­rup­ti­ons­skan­dale ver­wi­ckelt und ange­sichts wei­te­rer Kor­rup­ti­ons­fälle zur selben Zeit – etwa im Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium – einfach nicht zu halten.

Kein „Agent Russlands“

Was sich nach Beginn der umfas­sen­den rus­si­schen Inva­sion hin­ge­gen als voll­kom­men unhalt­bar erwie­sen hat, sind frühere Spe­ku­la­tio­nen, Jermak sei in irgend­ei­ner Form ein „Agent Russ­lands“ und habe beson­dere Bezie­hun­gen zu Moskau. Diese Vor­würfe basier­ten zum Teil darauf, dass Jermak in engem Ver­hand­lungs­kon­takt mit Dmitrij Kosak, dem stell­ver­tre­ten­den Leiter der rus­si­schen Prä­si­di­al­ver­wal­tung, stand. Kosak, ein enger Weg­ge­fährte Wla­di­mir Putins, wurde von Russ­land als Chef­ver­hand­ler für den Krieg im Donbas beauf­tragt. Aus der Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen Jermak und Kosak resul­tier­ten mehrere Gefan­ge­nen­aus­tau­sche sowie der einzig wirk­lich erfolg­rei­che Waf­fen­still­stand, der ab Mitte 2020 ein halbes Jahr lang hielt.

Hat Jermak Infor­ma­tio­nen geleakt?

Lange kur­sier­ten Gerüchte, Jermak habe Infor­ma­tio­nen über eine geplante Fest­nahme von Söld­nern der Gruppe Wagner geleakt, die im Donbas gekämpft hatten. Sie befan­den sich zu jenem Zeit­punkt in Belarus und sollten per Flug­zeug in die Ukraine gebracht werden. Die ris­kante Ope­ra­tion, die 2020 statt­fin­den sollte, wurde vertagt. Warum, bleibt unklar.

Her­aus­ra­gende Rolle bei Waffenlieferungen

Jermak spielt heute eine her­aus­ra­gende Rolle bei der Aus­hand­lung von Waf­fen­lie­fe­run­gen und Sank­tio­nen. Ihn als pro­rus­sisch zu sti­li­sie­ren, funk­tio­niert nicht mehr. Trotz­dem kon­zen­triert sich die Oppo­si­tion um Petro Poro­schenko bei ihrer Kritik an den Macht­ha­bern immer noch auf Jermak – was vor allem damit zu tun hat, dass Selen­skyj selbst seit dem 24. Februar 2022 weit­ge­hend unan­tast­bar ist. Der Jurist Jermak dagegen wird zum einen dafür kri­ti­siert, die Gefahr einer großen rus­si­schen Inva­sion unter­schätzt zu haben. Zum anderen zeigt man sich ver­wun­dert darüber, dass er mäch­ti­ger ist als der Minis­ter­prä­si­dent und zudem teil­weise Auf­ga­ben erfüllt, die eigent­lich im Bereich des Außen­mi­nis­te­ri­ums liegen sollten.

Sym­pa­thien bei der breiten Bevölkerung

In der breiten Bevöl­ke­rung erlangte Andrij Jermak nach der rus­si­schen Inva­sion Bekannt­heit. Unter anderem gewann er viele Sym­pa­thien mit seinen Emoji-Rätseln in den sozia­len Medien, mit denen er auf Waf­fen­lie­fe­run­gen oder Erfolge an der Front hin­weist. „Man braucht auch im Krieg ein biss­chen Abstand und Humor“, erklärt Jermak im ukrai­ni­schen Fern­seh­sen­der 1+1.

Längst wird er nicht mehr als der unauf­fäl­lige Anzug­trä­ger im Hin­ter­grund wahr­ge­nom­men. Es ist auch nicht mehr aus­zu­schlie­ßen, dass sich der 51-Jährige um das Prä­si­dent­schafts­amt bewirbt, sollte Selen­skyj nach dem Krieg nicht mehr kan­di­die­ren. Dann aller­dings hätte Jermak wohl mit noch mas­si­ve­rem Gegen­wind aus Teilen der Gesell­schaft zu kämpfen.

 

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