Das Treffen zwischen Biden und Putin und seine Folgen für die Ukraine
Optimisten könnten von vorsichtiger Entspannung sprechen. Realistisch betrachtet bleibt die Lage für die Ukraine schwierig. Denn für Russlands Präsident Putin ist das Land nur ein „künstliches Gebilde“. Eine Analyse von Mykola Worobiow.
Am 16. Juni trafen sich die Präsidenten der USA und Russlands Joe Biden und Wladimir Putin in Genf. Ein Kernthema des Treffens war die Ukraine-Frage. Seit Beginn der Krim-Annexion und der Kampfhandlungen im Donbass im Jahr 2014 ist die Spannung in den Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen durchweg angestiegen. Mit dem Amtsantritt der Biden-Administration häufen sich Anzeichen für eine Suche nach neuen Berührungspunkten mit Russland im Kontext einer Revision mehrerer außenpolitischer Positionen der USA durch Biden. Was bedeutet dieses Gipfeltreffen für die Sicherheit der Ukraine?
Experten haben unterschiedliche Einschätzungen zu den Zielen des Treffens abgegeben. Sie reichen von dem Versuch des Kremls, grundlegende Fragen aufzuwerfen, die das Weiße Haus hinsichtlich eines Neustarts in den Beziehungen mit Russland interessieren könnten, bis zur Notwendigkeit, konkrete Forderungen an Moskau zu stellen, inklusive Garantien zu ihrer Erfüllung.
Es wäre jedoch verfrüht, von einer Aufwärmung der Beziehungen zu sprechen. Die Beteiligten haben sich viel mehr auf eine vorrübergehende Verschnaufpause und die Beendigung der „chaotischen Eskalation“ geeinigt, die sich bei gleichbleibendem Verlauf durchaus in einen heißen Konflikt zwischen den beiden Ländern auswachsen könnte. Professor Fjodor Lukjanow von der Moskauer Higher School of Economics hat treffend angemerkt, dass Russland und die USA eine geregelte Konfrontation brauchen, zwecks derer bestehende Streitpunkte, deren Hierarchie und zumindest ein elementares Konzept über den Rahmen und hinnehmbare Grenzen geklärt werden müssten.
Beide Staaten wollen keinen Atomkrieg
Tatsächlich hat man sich in Genf auf einige Punkte einigen können. Dazu zählen die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, die Rückkehr der Botschafter beider Länder, und der Austausch von wegen Cyber-Verbrechen Inhaftierten (in beiden Ländern sind ca. 100 Staatsbürger des jeweils anderen Landes inhaftiert). Von Bedeutung ist auch die Abmachung über die Eindämmung der atomaren Bedrohung: „Wir besiegeln heute den Grundsatz, demzufolge es nicht zum Atomkrieg kommen darf“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der beiden Präsidenten.
Vor seiner Abreise nach Europa schrieb Präsident Biden in seiner Kolumne für die Washington Post:
„Wir sind vereint im Widerstand gegen die Angriffe auf die europäische Sicherheit seitens Russlands, angefangen bei seiner Aggression in der Ukraine, und es besteht nicht der geringste Zweifel an der Entschiedenheit der USA, ihre demokratischen Werte zu verteidigen, die wir unmöglich von unseren Interessen trennen können. In meinem Telefongespräch mit Präsident Putin habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt: Die USA wollen keinen Konflikt. Wir wollen stabile und transparente Beziehungen, in deren Rahmen wir mit Russland an Fragen wie der strategischen Stabilität und der Rüstungskontrolle arbeiten können“.
Im Angesicht des Genfer Treffens schlug das Weiße Haus jedoch einen wesentlich sachteren Ton an. Dies äußerte sich in erster Linie in dem Verzicht auf Sanktionen gegen den Bau der Pipeline „Nord Stream 2“, die Deutschland auf direktem Wege mit russischem Gas versorgen soll. Ein weiterer Schritt war die zurückhaltende Rhetorik Washingtons in Bezug auf die Ausarbeitung eines Aktionsplans für den Beitritt der Ukraine zur NATO.
Die Ukraine-Frage im Verhandlungsprozess
Am 14. Juni, dem Tag des NATO-Gipfels, erklärte Selenskyj, er wolle ein klares „Ja“ oder „Nein“ zur Frage des Membership-Action-Plans für die Ukraine hören. Biden entgegnete, die Ukraine müsse zunächst ihr Korruptionsproblem lösen und weitere Kriterien erfüllen, um in den Aktionsplan aufgenommen zu werden.
In seinem Interview mit dem staatlichen Fernsehkanal „Rossija 24“ nannte Präsident Putin den Beitritt der Ukraine zur NATO eine „rote Linie“ für den Kreml, und betonte, dass die Annäherung der NATO an die Grenzen Russlands die Sicherheit der Bürger Russlands betreffe.
In diesem Sinne hat sich die Rhetorik des russischen Präsidenten seit 2014 nicht verändert. Nach wie vor betrachtet er die Ukraine als ein „Erzeugnis der sowjetischen Periode“, die ein „künstliches Gebilde“ darstelle. Zudem wiederholte er seine Behauptung über die Verfolgung Russischsprechender in der Ukraine und andere Aussagen, die seit der Besetzung der Krim und der Eskalation des Krieges im Donbass aktiv für die Propaganda des Kremls ausgeschlachtet worden sind.
Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Argument in den Händen Putins bei den Verhandlungen war die Fertigstellung von Nord Stream 2. Im Falle der Inbetriebnahme der Pipeline würde die Ukraine mindestens drei Mrd. Dollar an Transiteinnahmen durch den Transport russischen Gases nach Europa verlieren. Nord Stream 2 ist nicht nur ein finanzieller, sondern auch ein geopolitischer Hebel in den Händen Moskaus, mit dem es Druck auf die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten ausüben kann. Ungeachtet dessen, dass der Vertrag über den Transit russischen Gases über das Territorium der Ukraine bis 2024 verlängert wurde, erklärte Putin unlängst, Kyjiw habe seinen „guten Willen“ in den Beziehungen zur Moskau unter Beweis zu stellen, um die weitere Nutzung der ukrainischen Transitstrecke zu gewährleisten.
Noch Anfang Juni war nach dem Gespräch mit Präsident Selenskyj auf der offiziellen Seite des Weißen Hauses Folgendes zu lesen gewesen: „Präsident Biden bekräftigte das unerschütterliche Bekenntnis der USA zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Ukraine im Angesicht der fortwährenden russischen Aggression im Donbass und auf der Krim“. Nach dem Gipfel betonten Biden und Putin im Kontext des Krieges in der Ukraine die Notwendigkeit der Implementierung des Minsker Abkommens, welches im Februar 2015 unter Beteiligung Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und der Russischen Föderation unterzeichnet worden war. Die Verhandlung im Rahmen dieses Formates sind seitdem jedoch faktisch auf Eis gelegt.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit war das Treffen in Genf nur ein Testlauf zwischen den beiden Ländern, um Konsensmöglichkeiten in wichtigen Fragen zu erproben. Der Kreml hat dabei klar gemacht, dass er nicht bereit ist, auf seine geopolitischen Ansprüche hinsichtlich der Einbeziehung der Ukraine in seine „Interessensphäre“ zu verzichten und die USA vor der Überschreitung „roter Linien“ gewarnt. Mithin ist auch ein Kriegsszenario im Donbass nicht auszuschließen.
In dieser Situation wird vieles davon abhängen, wie Kyjiw seine „Hausaufgaben“ hinsichtlich der Integration in die Strukturen der NATO und der Europäischen Union erledigt. Anderseits wird eine erschöpfende Einschätzung der Ergebnisse des Gipfels in Genf erst in der Zukunft möglich sein, und zwar anhand dessen, inwieweit die USA und Russland ihren sich auferlegten Verpflichtungen nachkommen werden.
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