Wird Russlands Krieg gegen Europa zur Matrix des 21. Jahrhundert?
Die Ukraine kämpft weiterhin für die Freiheit, die nach dem Fall der Berliner Mauer vielen Europäern selbstverständlich erschien. Konstantin Sigows neues Buch „Für Deine und meine Freiheit“ beleuchtet die aktuellen Herausforderungen und reflektiert die tiefgreifenden Veränderungen, die der Krieg in Europa mit sich bringt.
Aus dem Nachwort zu „Für meine und Deine Freiheit“
Die Ukraine führt den Kampf für die Freiheit fort, die nach dem Fall der Berliner Mauer scheinbar allen Europäerinnen und Europäern geschenkt wurde. Beinahe hätten wir den Preis von Freiheit und Offenheit vergessen. Sie erschienen uns ebenso zugänglich und natürlich wie die hohen Fenster im Kyjiwer Flughafen oder der Blick auf die Heimatstadt aus dem Flugzeug gen Berlin. Seit dem 24. Februar 2022 sind alle Flughäfen der Ukraine geschlossen, und die beängstigende Offenheit des Himmels droht stets mit weiteren russischen Bomben und Raketen. Ein Flugticket nach Zürich aus Vorkriegszeiten steckt als Lesezeichen in meinem Buch von Paul Celan, in dem er vom „Grab in den Wolken“ spricht.
In jedem ukrainischen Haus ist das Fenster zum lebensgefährlichen Ort geworden. Am 24. Februar 2022 verklebten wir wie alle unsere Nachbarn und Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern unsere Fenster kreuzweise mit Klebeband. Danach verbarrikadierten wir die ganze Fensteröffnung mit Büchern. Dafür eigneten sich sehr gut meine Sammelausgaben von Goethe, Kant, Thomas Mann und anderen schreibfreudigen Europäern. Plötzlich lernte ich meine Arbeit als Herausgeber und die Qualität unserer Klassiker mit festen Einbänden aus unerwarteter Perspektive neu zu schätzen. Wörterbücher rückten wieder in den Vordergrund. Ich zwang mich dazu, die Bücher, die mit meinen Lesezeichen und Anmerkungen versehen sind, nicht aufzuschlagen, sondern sie einfach wie Backsteine aus den Regalen in die Fensteröffnungen zu stellen: die fünf Bände der von uns herausgegebenen Übersetzungen Hannah Arendts, drei Bände von Reinhart Koselleck, die Bände Paul Celans, die Übersetzungen und gewichtigen deutschsprachigen Bände von Karl Schlögel. Die Geschenke des Freundes erschlossen auf diese Weise eine vierte Dimension, derer sich der Autor dieser Bücher nicht bewusst war.
Das Fenster ist der gefährlichste Bereich des häuslichen Raums, es steht am riskantesten und direktesten mit dem Himmel in Verbindung. Wann wird das Verderben einfliegen? Aus welchem Fenster ist der „Anflug“ bei Bombardement und Beschuss am wahrscheinlichsten? Die Antwort auf diese Fragen bestimmt die Wahl des Arbeitsplatzes und den Ort des Esstischs.
Ein „Fenster der Gelegenheit“? Der Sinn dieser Redewendung hat dem Angriff auf unsere Erfahrung nicht standgehalten und ist fragwürdig geworden. Was liegt hinter dem Fenster? Alles in dieser Frage und in unserem Erfahrungsraum hat sich verändert. Vielleicht ist gerade deswegen auf dem Umschlag dieses Buches ein Fenster abgebildet. Mein Sohn Roman hat das Foto in der Kyjiwer Vorstadt bei Butscha aufgenommen, kurz nach der Befreiung von den russischen Besatzern. Innen und außen ist alles schwarz-weiß. Einzig auf dem Boden liegt ein fast unsichtbarer zerbrochener, lilafarbener Regenschirm aus der Vorkriegszeit. Die Welt ist nicht nur auf den Fotos schwarz-weiß geworden. Für wie lange? Für wen für immer? Der schweigsame Baum hat diejenigen gehört, die in diesem Haus vor Grauen und Schmerz geschrien haben. Der Baum hat sich alles gemerkt, doch er wird keinen Ton von sich geben. Sein schweigsamer Widerstand besteht darin, aufrecht dazustehen. Ungebrochen.
Ein drittes Europa?
Der Umstände wegen kann ich meine Ansichten nicht in drei Bänden darlegen. In aller Kürze beschränke ich mich auf Thesen:
Das erste Europa westlich des „Eisernen Vorhangs“ war nach 1945 mit der Wiederherstellung von Wirtschaft und rechtlicher Ordnung beschäftigt. Ostwärts davon ersetzte man in der sowjetischen Zone der Gesetzlosigkeit die Frage der Menschenrechte durch ein „Recht auf Unmenschlichkeit“. Die Fragen nach den Millionen von Menschen, die während des Holodomors, im GULag und in anderen Maschinerien des sowjetischen Terrors getötet wurden, sind ohne Antwort geblieben. Der Krieg in Afghanistan und die subversive Tätigkeit des KGB in ganz Europa und anderen Ländern führten zu vielen geopolitischen Verwicklungen, bis der Zusammenbruch der UdSSR sie alle zerschlug. Ungelöst blieb der Knoten des Schweigens über die Frage nach dem Erbe des Stalinismus und einem „zweiten Nürnberg“.
Das zweite Europa sperrte das Gerippe der Fragen nach einem Gericht über die Verbrechen des totalitären sowjetischen Regimes in einen Schrank. Die Straflosigkeit seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinterließ ein gigantisches politisch-juristisches Vakuum, das keinerlei wirtschaftliche Aktivität füllen konnte. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands ersetzte der Traum vom „gemeinsamen europäischen Haus“ und einem Raum „ohne Grenzen“ die reale Geschichte und Karte des Kontinents durch eine Utopie. Die kriegerischen Aggressionen des Kremls in Tschetschenien, Georgien, auf der Krim und im Donbas haben den Kreislauf der Straffreiheit aus Sicht des Westens nicht durchbrochen. Der Unwillen, die Dinge beim Namen zu nennen, hat den Widerstand gegen das radikale Böse geschwächt.
Das dritte Europa wird seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vom größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg erschüttert. Die Schlacht um Kyjiw im Winter 2022 wurde nicht nur zur ersten Kriegsniederlage des Putinismus, sondern auch zum Bankrott westlicher Illusionen über das Wesen dieses Regimes. Der Erfolg des mutigen Widerstands der Ukraine gegen die russische Aggression auf der ganzen Länge der Tausende Kilometer langen Front hängt davon ab, in welchem Ausmaß und wie rechtzeitig die freien Länder ihr helfen. Zum ersten Mal im 21. Jahrhundert wurde eine europäische Grenze im Osten zur Front. Millionen von Menschen in der Ukraine haben die Frage nach dem Sein oder Nichtsein für sich beantwortet, jetzt stellt sich diese Frage allen Europäerinnen und Europäern: Deine und meine Freiheit hängt direkt mit der Frage zusammen: Wie wird das neue Europa aussehen?
Der Kyjiwer Euromaidan wurde 2014 zu einem mächtigen Resonanzkörper für die Musik der Würde jedes Menschen. Der Widerstand der Ukraine gegen das Verbrechen der russischen Aggression hat unser ganzes Land in einen neuen, weiträumigen Maidan verwandelt. Das Prinzip der Würde war der Horizont des ersten und des zweiten Europas, und heute muss es in einer neuen Epoche der praktischen Prüfung und der kategorischen Forderung nach seiner Umsetzung standhalten. Die Menschenwürde als Eckstein der Verfassung bezieht sich auf jede menschliche Person. Zur radikalen Schändung dieses universellen Prinzips wurden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Butscha, Mariupol und in anderen Städten Europas. Das Grab und der Name Immanuel Kants – des europäischen Philosophen der Freiheit und Würde par excellence – wurde anlässlich seines 300. Geburtstages am 22. April 2024 vom Kreml als „Trophäe“ der Annexion seiner Heimatstadt Königsberg präsentiert. Zu wessen Trophäe sollen Freiheit und Würde eines jeden von uns Sterblichen werden?
Der Archipel des europäischen Widerstands
Reinhart Koselleck und François Furet analysierten die Französische Revolution und die beiden Weltkriege als Zäsuren, „Erfahrungseinbrüche“, „Matrizen“ des 19. und 20. Jahrhunderts. Wird der gegenwärtige Krieg Russlands gegen Europa zur Matrix des 21. Jahrhunderts?
Die sich allzu lange hinziehende Unentschlossenheit des Westens, diese strategische Frage ernst zu nehmen, kann die schlechteste Antwort nach sich ziehen. Kein fatales Schicksal, sondern ein verantwortungsbewusster Wille zu handeln hält die Tür für eine unerwartete Wendung offen, die den nihilistischen Determinismus zerbricht. Alles hängt davon ab, ob man mit klarem Blick die existentielle Herausforderung annimmt, vor der unsere Zivilisation steht – oder ob man die Augen verschließt.
Es geht im Wesentlichen um eine Verknüpfung des historischen Gedächtnisses mit der gegenwärtigen Entscheidungsfindung auf allen Ebenen der Gesellschaft. Der große Krieg in Europa fragt aufs Neue nach dem „verborgenen Schatz des Widerstandes“, von dem Hannah Arendt gesprochen hatte. Während des Kampfs um Kyjiw im März 2022 sprach ich davon, dass unser Widerstand mit tausenden Fäden an die Tradition des europäischen Widerstands gegen totalitäre Regime anknüpft. Was hat sich in den vergangenen zwei Jahren verändert? Können wir heute sagen, dass die Ideen, Motive und Namen der Widerstandsaktivistinnen und ‑kämpfer gegen totalitäre Regime in den Vordergrund des gesellschaftlichen Bewusstseins gerückt sind? Von welcher Bedeutung ist heute das Zeugnis derjenigen für uns, die sich wie Dietrich Bonhoeffer nicht mit der Tyrannei versöhnt hatten? Verschiedene Formen des Widerstands in Polen, Tschechien und anderen Ländern Zentraleuropas müssen in Westeuropa erst noch entdeckt werden. Vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, die Aktualität dieses Themas für ganz Europa in den Blick zu nehmen – und seine direkte Verbindung mit dem Widerstand gegen die russische Aggression. Seine Resonanz in der öffentlichen Meinung kann direkten Einfluss auf den Fortgang des aktuellen Kriegs in Europa ausüben. Die seltsame Niederlage (L’Étrange Défaite), Marc Blochs Abrechnung mit der Inkompetenz des französischen Militärs von 1940, sollte sich nicht wiederholen. Und dafür müssen wir die Lektionen der Geschichte reflektieren.
Die neue Verantwortung schreibender und lesender Menschen ist direkt mit der Reflexion über den Widerstand gegen das absolute Böse unserer Tage verbunden. Diese Herausforderung bietet Universitäten, Medien und anderen Institutionen der Zivilgesellschaft die Chance und die Aufgabe, gemeinsam einen Prozess in Gang zu setzen, von dem unsere Freiheit und die Freiheit unserer Kinder und Enkel abhängt. Diese Chance der Gegenwart und die Begegnung mit der Geschichte nicht zu verpassen, ist unsere unmittelbare Pflicht. Der Widerstand ist nicht zur konstituierenden Dimension des historischen Gedächtnisses und des Ethos der Europäischen Union geworden, und dafür zahlen wir heute einen horrenden Preis. Doch vielleicht besser später als nie?
Der Mut zum Sein: wozu oder für wen?
Unser Widerstand hat nicht erst gestern begonnen. Die Geschichte der Ukraine hat sich in einer Weise entwickelt, die den unterschiedlichsten Ereignissen und kulturellem Schaffen die Bedeutung ziviler Akte gibt. Der Kontext der Bloodlands eignet sich nicht für „l’art pour l’art“. Ein Konzert, eine Kunstausstellung, eine Publikation, eine Filmpremiere, das Tragen einer Wyschywanka (Bluse mit ukrainischen Stickmustern) zum Fest oder das Niederlegen von Blumen beim Denkmal von Taras Schewtschenko wurden zu einem Akt zivilen Widerstands und Anlass für Repressionen. In diesem Buch werden historische Faktoren beschrieben, die an die Quellen des heutigen ukrainischen Widerstands heranführen. Seine Kühnheit und Kraft rufen nach wie vor Verwunderung hervor. Unsere grundlegendsten Antworten auf die Frage „wozu?“ schwächen diese Verwunderung nicht, sondern verstärken sie eher. Die Neuigkeit der gegenwärtigen Situation wird von einer weiteren Frage in ein anderes Licht getaucht: „für wen?“ Die Antwort liegt im Handeln. Tag für Tag sehen wir Menschen, die ihr Leben riskieren und es hingeben, um sie selbst zu bleiben. Und um bei dieser wichtigsten Tat anderen zu helfen: mir und Euch. Dir und mir. Um Deiner und meiner Freiheit willen.
Wer erlebt im Augenblick die schwersten Prüfungen für uns? Schmerz und Wut haben unseren Verstand nicht verschleiert. Inmitten von Kummer und Finsternis ist uns zu unserem Erstaunen plötzlich etwas begegnet, das stärker ist als die Kräfte des Bösen. Wir haben die Gesichter bisher unbekannter Menschen gesehen, die uns die Kardinalfrage offenbaren: Dank wem leben wir und sind wir frei? Wir sind nicht nur nicht getötet worden. Wir können sprechen und als lebendige und freie Wesen, als Menschen handeln. Man wollte uns über den Abgrund der Verzweiflung und des Hasses stoßen, doch wurde unser Leben wie nie zuvor mit Dankbarkeit erfüllt.
Ein neues Buch ist eine Sendung aus dem Brennpunkt Europas, wo neues Wissen von Feuer umzingelt ist. Die Leserin, der Leser hält ein Artefakt unserer Zivilisation in den Händen, das in konzentrierter Form eine Alternative zum nihilistischen Vernichtungskampf gegen sie darstellt. Davon zeugt die von Andreas Umland herausgegebene Reihe Ukrainian Voices, in der unter anderem Myroslaw Marynowytsch, Olexander Scherba, Serhii Plokhy, Serhij Kwit, Mychailo Wynnyckyj, Petro Rychlo, Olena Stjaschkina, Leonid Uschkalow, Oleksandr Klymenko und Sonia Atlantova zu Wort kamen, sowie die Anthologie „Ukrainische Dissidenten unter der Sowjetmacht“ von Vakhtang Kipiani.
Das Symbol der „Stimme“ im Namen dieser Buchreihe verleiht dem in Kürze darin erscheinenden Band des ukrainischen Komponisten Walentyn Sylwestrow besondere Bedeutung. Eine Bibliothek des Widerstands lebt von der Vielstimmigkeit ungleicher Anschauungen in politischen, sozialen und kulturellen Debatten. Niemand will die Demokratie einengen oder dosieren. Hier findet sich ein ganzes Bouquet unangenehmer Fragen und kritischer Kommentare zu unserer Vergangenheit und Gegenwart. Was wäre die Zukunft ohne sie? Die Stimmen verkörpern das Wesen und die vielfältigen Bedeutungen der Wende unserer Geschichte nach dem „letzten Imperium“ und seiner Trägheit zum Trotz. Mein Buch beschreibt eine Philosophie des Menschen im historischen Moment der unumkehrbaren Wende vom homo sovieticus zum homo dignus. Bringt diese Wende eine Alternative zur Kriegsmatrix im 21. Jahrhundert hervor?
Ein neues Fenster
Nach der ersten Bombardierung unserer Stadt wurde das Umstellen von Büchern aus den Regalen in die Öffnungen der Fenster zum unbewussten Begräbnis heimischer Bibliotheken. Zu einem Begräbnis von Geschenken aus der Vorkriegszeit, die ich selbst oder Freunde mitgebracht hatten. Das Wertvollste alles im Leben vor der Katastrophe Gelesenen, Durchdachten und Gesammelten steht jetzt auf dem Spiel – im Fenster. Keine Auferstehung erwarten diese Texte, sondern die Befreiung von der Gefahr der Vernichtung und des Verschwindens aus dem Kreis der Menschen. Vielleicht spielen Bücher und andere Elemente unserer Kultur nun eine besondere Rolle: das Verbrechen zu verhindern, ihm nicht zu erlauben, uns, Dich und mich wegzuwischen. Wie ein Berg stehen sie für unsere Maxime der Würde: für Deine und meine Freiheit.
Übersetzung ins Deutsche: Regula M. Zwahlen.
Der Autor:
Dr. Konstantin Sigow, Jahrgang 1962, studierte Philosophie in Kyjiw und Paris. Er ist Gründungsdirektor des renommierten ukrainischen Wissenschaftsverlags Duch i Litera (Geist und Buchstabe) sowie des Zentrums für Geisteswissenschaftliche Europastudien der Kyjiwer Mohyla-Akademie. Sigow hielt Gastvorträge u. a. in Oxford, Stanford, Zürich, Berlin und Rom. 2024 verlieh ihm die Universität Aix-Marseille die Ehrendoktorwürde. Zu Sigows letzten Büchern gehören Quand l’Ukraine se lève (Talents Edition 2022), Le courage de l’Ukraine (Cerf 2023) und Poselství z Kyjeva o Ukrajině a Evropě (Bourdon 2023). Seine Artikel erschienen u. a. in Le Monde, Le Figaro, Libération, Esprit, Le Grand Continent, Rue Descartes, Limes, Enthymema, Hermes, Reflexe, Temps Modernes, Sententiae und Studies in East European Thought.
Das Buch:
Konstantin Sigows Buch „Für Deine und meine Freiheit. Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw“ (Reihe: Ukrainian Voices, vol. 44, Stuttgart: ibidem, 2024) ist eine Sammlung von Essays und Interviews und gibt Einblicke in die Gedankenwelt des ukrainischen Philosophen. Neue Texte bezeugen seine Kyjiwer Kriegserfahrungen; ältere reflektieren die ukrainische „Revolution der Würde“ 2013/14. Zwei philosophische Essays erörtern eine „Anthropologie der Freiheit“, welche ost- und westeuropäisches Denken spielerisch kombiniert.
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