Die Ukraine, USA und Nichtverbreitung von Atomwaffen
Die weit verbreitete Kritik der US-amerikanischen Unterstützung der Ukraine ignoriert wesentliche Umstände und Implikationen des westlichen Rückhalts für Kyjiw. Ein aktuelles Beispiel. Von Andreas Umland
Am 30. Mai 2021 veröffentlichte das Webportal der einflussreichen Washingtoner Zeitschrift The National Interest (TNI) eine harsche Kritik an der US-Unterstützung für die Ukraine von Ted Galen Carpenter unter dem Titel „Ukraine’s Accelerating Slide into Authoritarianism“. Carpenters Text verdreht nicht nur eine Reihe von Fakten. Der rhetorische Angriff, welchen Carpenter auf den (sicherlich unvollkommenen) ukrainischen Staat unternimmt, ist insofern verwunderlich, als er eher typisch für viele als links oder Kreml-nah zu bezeichnenden Autoren ist. Carpenter dagegen arbeitet für das rechtslibertäre Cato-Institut in Washington.
Linke und Pro-Putin-Beobachter auf der ganzen Welt mögen die postsowjetische Ukraine nicht, weil ihre jüngsten Revolutionen und die darauffolgenden Regierungen zu pro-westlich und zu pro-amerikanisch waren. Darüber hinaus verwirrt viele Linke, dass der offenkundig antiimperiale Impuls der Orangenen Revolution von 2004 und des Euromaidan-Aufstands von 2013–2014 keine Ablehnung der USA oder/und der westlichen Hegemonie zum Ziel hatte. Stattdessen war und ist der erbitterte Widerstand der Ukraine gegen Fremdherrschaft ganz auf den Imperialismus Moskaus ausgerichtet.
Putins Russland ist heute eines der wenigen verbliebenen Länder der nördlichen Hemisphäre, die der Förderung liberaler Demokratie durch Washington und seiner Verbündeten in der ganzen Welt erfolgreich widerstehen. Carpenters Vorwürfe gegen die postsowjetische Ukraine wiederholen vieles von dem, was seit 2014, wenn nicht schon vorher, von zahlreichen linken und pro-putinschen Kommentatoren vorgebracht worden ist. Mit Hilfe von Rosinenpickerei und Halbwahrheiten zeichnet Carpenter ein düsteres Bild von einem sich angeblich verstärkenden ukrainischen Autoritarismus sowie wachsender Unterdrückung und grassierendem Ultranationalismus in dem postsowjetischen Staat. Diese Karikaturen werden seit Jahren durch eine massive Propagandakampagne des Kremls gegen die Ukraine verbreitet. Besonders verärgert ist Carpenter über zwei ehemalige US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt und William Taylor, die die Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit und demonstrative Hinwendung der Ukraine zum Westen unterstützt haben.
Allerdings könnte man allen anderen US-Botschaftern in der Ukraine in den letzten dreißig Jahren – vom ersten Gesandten Roman Popadiuk bis zur jüngsten und jetzt berühmten Marie Yovanovitch – eine ähnlich „voreingenommene“ Haltung gegenüber der Ukraine vorwerfen. Der Hauptgrund für die Differenzen zwischen den US-amerikanischen Botschaftern und Carpenter scheint schlicht darin zu liegen, dass erstere aufgrund ihrer beruflichen Spezialisierung ein wenig über Osteuropa wissen. Carpenter hingegen hat scheinbar kein tieferes Interesse an der postsowjetischen Region. Er reproduziert in seinem Artikel Zerrbilder, über deren genauen Ursprung man nur spekulieren kann.
Weit freier und demokratischer als ihre postsowjetischen Nachbarn
Sicher ist die Ukraine keine perfekte liberale Demokratie. In der letzten Bewertung der Länder der Welt nach ihren politischen und bürgerlichen Freiheiten durch Freedom House erhielt die Ukraine nur 60 von 100 möglichen Punkten. Damit liegt sie weit hinter Norwegen, Finnland und Schweden, den einzigen drei Ländern, die in diesem Demokratie-Ranking 100 Punkte erhielten. Carpenter gibt einige mögliche Gründe für das unbefriedigende Ergebnis der Ukraine an.
Doch innerhalb des besonderen regionalen und historischen Kontextes des postsowjetischen Raumes ist die Ukraine demokratischer, als man das angesichts ihrer Lage und Vergangenheit erwarten würde. Im Vergleich zu ihr erhielten die ebenfalls postsowjetischen, ostslawischen und christlich-orthodoxen Republik Belarus und Russische Föderation im Jahr 2020 nur 11 bzw. 20 von 100 Punkten im Freedom House-Ranking. Gemäß dieser Tabelle ist die Ukraine mit ihren 60 Punkten relativ frei und demokratisch. Ihre Massenmedien und die politische Landschaft sind zwar durch oligarchischen Einfluss verzerrt. Sie werden aber nicht von einem nationalen Autokraten dominiert, wie in anderen postsowjetischen Staaten.
Die Wahlkämpfe in der Ukraine leiden unter Verzerrungen und Manipulationen, aber die Bürger der Ukraine haben eine echte Wahl und ihre Stimmen werden nicht in nennenswertem Umfang gefälscht. In der Ukraine gibt es eine Reihe von rechtsextremen Parteien, aber sie sind schwächer als in vielen anderen europäischen Ländern und nicht im nationalen Parlament vertreten. Die Ukraine ist berüchtigt für ihre Korruption, hat aber in den letzten Jahren eine Reihe von neuen Gesetzen und Institutionen eingeführt, die Bestechung verhindern sollen. Die Ukraine ist kein Mitglied der NATO und der EU, möchte diesen aber beitreten und arbeitet auf eine Aufnahme hin.
Wichtigen Demokratietest bestanden
Früh in der postsowjetischen Geschichte bestand die Ukraine kurz nach ihrer Entstehung als unabhängiger Staat im Jahr 1991 einen der entscheidenden Tests, die Politikwissenschaftler verwenden, um das demokratische Potenzial einer Nation zu bestimmen: Ist die Wählerschaft in der Lage, den obersten Staatsbeamten und mächtigsten Politiker eines Landes per Volksabstimmung abzusetzen? 1994 wählten die Ukrainer ihren ersten Präsidenten ab, Leonid Krawtschuk, der 1991–1994 im Amt war. Dieser wurden im Ergebnis vorgezogener Präsidentschaftwahlen durch den Oppositionskandidaten und früheren Premierminister Leonid Kutschma ersetzt, der von 1994 bis 2005 als Staatsoberhaupt regierte.
Die weit ältere, 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland bestand diesen speziellen Demokratietest erst vier Jahre nach der Ukraine.
1998 setzten die Deutschen zum ersten Mal in der Geschichte einen amtierenden Bundeskanzler, Helmut Kohl, seit 1992 im Amt, durch Parlamentswahlen ab, die die SPD gewann. Deren Vorsitzender Gerhard Schröder wurde neuer Regierungschef, bis er 2005 ebenfalls infolge einer Wahl aus dem Amt entfernt wurde. (Die Ablösung von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger durch Willi Brandt im Jahr 1969 war Ergebnis eines Wechsels der Regierungskoalition und nicht der Parlamentswahlen in jenem Jahr, die Kiesingers CDU/CSU eigentlich gewonnen hatte).
Ignoranz der internationalen Folgen
Vor allem aber befindet sich die Ukraine seit mehr als sieben Jahren in einem vielschichtigen Überlebenskrieg gegen den größte Atomwaffenstaat und die zweitgrößte konventionelle Militärmacht der Welt. Putins Russland versucht, den ukrainischen Staat mit einer geschickten Kombination aus militärischen, para-militärischen und nicht-militärischen Mitteln zu Fall zu bringen. Seltsamerweise fehlt dieser Aspekt in Carpenters Darstellung der Ukraine völlig – eine Auslassung, die typisch für die Darstellung der Ukraine durch die Kreml-Medien ist.
Ebenso fehlt in Carpenters Agitation für einen Rückzug der USA aus ukrainischen Angelegenheiten in The National Interest das vitale Eigeninteresse, das alle Amerikaner in der Ukraine haben sollten.
Nicht zuletzt aufgrund massiven Drucks aus Washington stimmte Kyjiw 1994 zu, das drittgrößte Arsenal an Atomsprengköpfen der Welt aufzugeben, welches die Ukraine von der UdSSR geerbt hatte.
Die Ukraine unterzeichnete den Atomwaffensperrvertrag (NVV) und wurde von den drei Depositarstaaten des NVV mit einem speziellen Zusatzdokument ausgestattet. Im berühmten Budapester Memorandum sicherten Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine ihre territoriale Integrität und politische Souveränität zu.
Seit 2014 untergräbt Moskau die Logik des weltweiten Nichtverbreitungsregimes, indem es die militärische Schwäche der Ukraine und Russlands eigene Overkill-Kapazität rücksichtslos ausnutzt. Zwar hat Moskau keine Atomwaffen gegen die Ukraine eingesetzt. Jedoch war die zaghafte Reaktion des Westens auf Russlands militärische Annexion der Krim und den zunächst paramilitärischen Einmarsch in die Ostukraine bemerkenswert. Das zögerliche Verhalten der USA, NATO und EU seit 2014 war und ist ganz offensichtlich durch die kaum verhüllte Drohung des Kremls mit der Möglichkeit eines atomaren Vergeltungsschlags gegen jede Einmischung in seinem Hinterhof bedingt.
Würde – wie Carpenter vorschlägt – ein weiterer Depositarstaat des NVV und Unterzeichnerstaat des Budapester Memorandums, die Vereinigten Staaten, ihre Unterstützung für die Ukraine beenden, könnte dies nicht nur die regionale Instabilität in Osteuropa weiter erhöhen. Ein Rückzug Washingtons aus seinem Engagement mit Kyjiw wäre ein zweiter Schlag gegen das internationale Regime zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen. Zwar würde Washington den Atomwaffensperrvertrag nicht so explizit mit Füßen treten wie Moskau. Doch würde es mit einem Rückzug aus ukrainischen Angelegenheiten eine riskante Botschaft an die ganze Welt senden.
Die USA würden Politikern auf der ganzen Welt signalisieren, dass das Völkerrecht ihre Staaten nicht schützen wird. Eine Schlussfolgerung wäre: Man kann sich nicht auf den Atomwaffensperrvertrag und dessen Sicherheitszusagen für nuklearwaffenfreie Staaten verlassen, wenn man die nationalen Grenzen und politische Souveränität seines Landes sichern will. Stattdessen braucht man selbst „die Bombe“ – falls man keinen Verbündeten mit einer „Bombe“ hat. Wäre eine Förderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen irrelevant für die nationalen Interessen der USA (wie auch anderer Staaten), wie der Autor des Cato-Instituts (wie auch andere Autoren) zu argumentieren scheint?
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