Ukraine: Meinungsfreiheit und Medienregulierung in Zeiten des Krieges
Trotz des Krieges stieg die Ukraine im Jahr 2023 im RSF-Pressefreiheitsindex von Platz 106 auf Platz 79. Der Staat macht von seinem Recht, Informationen in Kriegszeiten zu kontrollieren, bislang nur wenig Gebrauch – außer in Bezug auf die Fernsehsender.
Im Krieg ist die Pressefreiheit angesichts einer notwendigen militärischen Zensur nachvollziehbarerweise eingeschränkt. Das Kriegsrecht erlaubt dem Staat, die Kontrolle über den Informationsfluss zu übernehmen und die Berichterstattung der Journalisten einzuschränken. Die ukrainische Regierung hat bislang jedoch den Informationsraum und die Arbeit der Medien in relativ geringem Maße beeinflusst.
So stieg die Ukraine im Jahr 2023 trotz des Krieges im RSF-Pressefreiheitsindex von Platz 106 auf Platz 79 auf, was auch auf die wirtschaftliche Stabilisierung der meisten Medien und den Rückgang des Einflusses der Oligarchen zurückzuführen ist. Das Fernsehen allerdings kontrollieren die zuständigen Behörden relativ effektiv. Seit Beginn des Krieges senden die größten ukrainischen Fernsehsender durchgehend in einem gemeinsamen Programm, dem sogenannten United News „Telemarathon“, der die Fernsehausstrahlung radikal verändert und vereinheitlicht hat.
Die TV-Sender sprechen mit einer Stimme
Der Telemarathon von United News läuft seit den ersten Tagen des Krieges. Die Idee war zu Beginn, dass sich die bekanntesten Mediensender und Fernsehmoderatoren zusammenschließen und mit einer Stimme sprechen, um Verwirrung und Panik in der Bevölkerung zu verhindern. Der gemeinsame Sendeplatz wurde mit starker Unterstützung der Behörden gestartet.
Jeder der beteiligten sechs Fernsehsender produziert – mit der jeweiligen redaktionellen Ausrichtung – abwechselnd eine bestimmte Sendung, die dann alle Sender zur gleichen Sendezeit ausstrahlen. Gegenwärtig besteht das Programm hauptsächlich aus Nachrichten und Talkshows, Übertragungen wichtiger staatlicher Ereignisse sowie aus Dokumentarfilmen und einigen Comedy-Shows.
Das Interesse am Telemarathon lässt nach
In den ersten Monaten wurde der Telemarathon von allen, auch den kleineren Fernsehsendern des Landes ausgestrahlt. Später waren es nur noch sechs Sender, die übrigen kehrten allmählich zu ihrem eigenen Programm zurück, das hauptsächlich aus Unterhaltungssendungen besteht. Der Anteil der Zuschauer am Telemarathon liegt heute bei 10 bis 12 Prozent, im April 2022 lag er noch bei 35 bis 40 Prozent.
Elemente politischer Einflussnahme
Im Sommer 2022 stellten Medienorganisationen Elemente politischer Zensur im Telemarathon fest, beispielsweise das Ignorieren von Vertretern der proukrainischen Oppositionsparteien. Nach massiver Kritik aus der Zivilgesellschaft brachte der öffentlich-rechtliche Rundfunk als einer der Produzenten des Marathons das Problem innerhalb der Produzentengruppe zur Sprache. Dadurch hat sich die Situation jetzt deutlich verbessert. Es bleibt aber problematisch, dass drei oppositionelle Fernsehsender, die mit Petro Poroschenko in Verbindung stehen, den gemeinsamen Marathon nicht mit produzieren durften. Später wurde ihre Sendung (DVB-T2) von den Behörden verboten. Dies führte jedoch nicht zu einer vollständigen Einstellung des Betriebs, alle drei Kanäle können auch weiterhin über Satelliten, Kabel, Streamingdienste und das Internet empfangen werden.
Der United News-Marathon hatte eine positive Wirkung, insbesondere in den ersten Monaten des Krieges, als eine einheitliche Stimme des Staates für die ukrainische Bevölkerung notwendig war. Allerdings löste er auch einen starken Anstieg des Interesses an sozialen Medien aus. Wenn alle Fernsehsender die annähernd gleichen Informationen ausstrahlen und diese nicht immer der Realität entsprechen, die die Menschen in ihrer Nähe oder in ihren Wohnorten sehen, führt es dazu, dass die Zuschauer sich sozialen Medien zuwenden.
Risiko der Desinformation durch soziale Medien
Mehr als 70 Prozent der Medienkonsumenten geben an, dass sie aufgrund des Mangels an unterschiedlichen Standpunkten im Fernsehen Informationen aus anderen Quellen suchen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Telegram-Kanäle – die am wenigsten moderierte Quelle für die Verbreitung von Desinformationen. Die Umfragen zeigen, dass die Popularität von Telegram-Kanälen seit Beginn des Krieges dramatisch zugenommen hat: Für die Hälfte der Ukrainer sind sie zu einer Informationsquelle über aktuelle Ereignisse geworden.
Die Bedeutung und Angemessenheit des Telemarathons in den ersten Monaten des Krieges ist unumstritten. Im Mai 2023, im 15. Monat seines Bestehens, ist der gemeinsame Telemarathon jedoch weniger beliebt und gibt Anlass zur Kritik: Es steht zu befürchten, dass diese vorübergehende Notlösung zu einer Dauereinrichtung wird und die Vielfalt, die die ukrainische Fernsehlandschaft so stark gemacht hat, gefährden könnte.
Das ukrainische Medienrecht wird 2023 umfassend reformiert.
Im Anschluss an die Revolution der Würde wurden seit 2014 mehrere Pakete von Mediengesetzen verabschiedet, die die Transparenz des Medieneigentums, den Zugang zu Informationen und den Schutz von Journalisten regeln. Die Gründung des unabhängigen öffentlichen Rundfunksenders Suspilne im Jahr 2017 war die wichtigste Folge dieser Reformen.
Nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine im Jahr 2014 verpflichtete sich die Ukraine, ihre Gesetzgebung mit der EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste zu harmonisieren.
Das neue Mediengesetz, mit dem ein Großteil der Bestimmungen der EU-Richtlinie umgesetzt wird, trat am 31. März 2023 in Kraft. Es geht auch auf die von der Richtlinie nicht erfassten Online-Medien ein: Diese werden – auf freiwilliger Basis – registriert und vom Nationalen Rat für Fernsehen und Rundfunk, der Medienaufsichtsbehörde, reguliert.
Reglementierung von Online-Medien
Vor seiner Verabschiedung wurde der Gesetzentwurf von Medienorganisationen kritisiert, weil er Online-Medien und sogar Blogger zu stark reglementiere. Im Zuge der Diskussionen wurden jedoch Kompromissformulierungen gefunden, und die verabschiedete Fassung des Gesetzes wurde von der großen Mehrheit der ukrainischen und internationalen Organisationen sowie von Experten des Europarats positiv aufgenommen.
Kritik am Besetzungsverfahren der Regulierungsbehörde
Die Zusammensetzung des Nationalen Rates für Fernsehen und Rundfunk wird durch die Verfassung der Ukraine bestimmt, die während des Kriegsrechts nicht verändert werden darf. Gemäß der Verfassung wird die Hälfte der Mitglieder der Regulierungsbehörde vom Parlament und die andere Hälfte vom Präsidenten ernannt. Seit vielen Jahren weisen Experten auf die Schwachstelle dieses Modells hin, da es dem Präsidenten einen ungerechtfertigten Vorteil bei der Regulierung der Medienlandschaft verschaffe. Die Präsidenten verließen sich in der Regel auf ihre Mehrheit im Parlament, die ihnen eine loyale Mehrheit in der Regulierungsbehörde sicherte.
Unabhängigkeit des Nationalen Rates für Fernsehen und Rundfunk
Gleichzeitig wurde mit dem neuen Gesetz ein Schritt zur Stärkung der Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde unternommen. So sieht es die Einrichtung einer Wettbewerbskommission zur Ernennung der Mitglieder des Nationalen Rates für Fernsehen und Rundfunk im Rahmen einer Präsidialquote vor, ähnlich derjenigen, die für die Parlamentsquote bestand. Nach der alten Gesetzgebung konnte der Präsident ohne eine Ausschreibung die Mitglieder der Regulierungsbehörde ernennen. Die Ernennungen mussten zwar bestimmte formale Kriterien erfüllen, aber diese waren nicht transparent.
Nun wird die Kommission die Bewerbungen entgegennehmen, die vorgeschlagenen Kandidaten prüfen und Empfehlungen für den Präsidenten ausarbeiten. Der Präsident wird für alle freien Stellen innerhalb seiner Quote die Mitglieder des Nationalrats auf der Grundlage von Empfehlungen und Grundsätzen der Ausgewogenheit zwischen den Geschlechtern ernennen. Durch eine im Gesetz verankerte Erhöhung ihrer Bezüge soll die finanzielle Unabhängigkeit der Mitglieder des Nationalrats garantiert werden.
Selbstregulierung soll verstärkt werden
Eine weitere Neuerung im Medienbereich ist die gemeinsame Selbstregulierung als Ersatz für die rein staatliche Kontrolle. Anders als in vielen westlichen Ländern funktioniert die Selbstregulierung (durch Presseräte) in der Ukraine nur in einem sehr begrenzten Format. Die führenden Akteure auf dem Medienmarkt, die privaten Fernsehsender der Oligarchen, vermeiden eine Beteiligung an der Selbstregulierung. Das Mediengesetz schafft einen Mechanismus der Co-Regulierung, eine Kombination aus staatlicher und journalistischer „Zunft“-Regulierung. Es soll den Marktteilnehmern die Möglichkeit geben, bestimmte Strategien zu entwickeln und Vertrauen zu schaffen.
Die von den Co-Regulierungsgremien ausgearbeiteten Beschlüsse müssen von der Regulierungsbehörde genehmigt werden. Bislang wurden solche Entscheidungen in der Regel vom Staat getroffen.
Einige Bestimmungen der EU-Richtlinie sind jedoch noch nicht in das Mediengesetz aufgenommen worden. Sie beziehen sich auf die Regulierung des Werbemarktes und sind in einem anderen Gesetzesentwurf (Änderungen des Werbegesetzes) enthalten, der derzeit vom ukrainischen Parlament geprüft wird. Auch dieser Gesetzesentwurf hat gute Chancen, rasch verabschiedet zu werden.
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