„Russ­lands Ver­bre­chen der Aggres­sion kann nicht igno­riert werden“

Demons­t­ra­tin auf einer Kund­ge­bung am 26. Februar in Wien; Foto: Martin Juen /​ Imago Images

Ein Son­der­tri­bu­nal ist not­wen­dig, um Russ­land für das Ver­bre­chen der Aggres­sion zur Rechen­schaft ziehen zu können. Welche recht­li­chen Mecha­nis­men und poli­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen dabei zu beden­ken sind, ana­ly­siert Ilona Khmeleva.

Die rus­si­sche Inva­sion in der Ukraine dauert nun schon seit mehr als neun Monaten an. Grau­sam­keit und Bar­ba­rei der rus­si­schen Angriffe nehmen zu, wie die jüngs­ten Atta­cken auf die zivile Ener­gie­infra­struk­tur der Ukraine zeigen, durch die Mil­lio­nen von Men­schen den Zugang zu Strom, Wasser und Heizung ver­lo­ren haben. Welt­weit werden For­de­run­gen laut, Russ­land zur Rechen­schaft zu ziehen und die Täter zu verurteilen.

Von den Ver­ein­ten Natio­nen unter­stütz­tes Sondergericht

Die ukrai­ni­sche Regie­rung und Zivil­ge­sell­schaft befür­wor­ten die Idee eines Son­der­tri­bu­nals zur Ahndung des Ver­bre­chens der Aggres­sion gegen die Ukraine. Und obwohl einige Exper­ten und Ver­tre­ter von Staaten noch Zweifel haben, wächst die Unter­stüt­zung für diese Initia­tive kon­ti­nu­ier­lich. In den letzten Tagen wurden neue Reso­lu­tio­nen zur Unter­stüt­zung eines solchen inter­na­tio­na­len Ad-hoc-Tri­bu­nals ver­ab­schie­det. Dar­un­ter sind Insti­tu­tio­nen wie das Euro­päi­sche Par­la­ment, die Par­la­men­ta­ri­sche Ver­samm­lung des Euro­pa­ra­tes und die Par­la­men­ta­ri­sche Ver­samm­lung der NATO. Das Euro­päi­sche Par­la­ment for­derte die EU und ihre Mit­glied­staa­ten auf, „die Ein­rich­tung eines Son­der­tri­bu­nals, das sich mit dem Ver­bre­chen der Aggres­sion Russ­lands gegen die Ukraine befasst, in geeig­ne­ter Weise zu unter­stüt­zen“ und for­derte von den Mit­glied­staa­ten, die dies noch nicht getan haben, „das Ver­bre­chen der Aggres­sion in ihr natio­na­les Recht auf­zu­neh­men“. Darüber hinaus teilte Ursula von der Leyen, Prä­si­den­tin der Euro­päi­schen Kom­mis­sion, am 30. Novem­ber bei Twitter mit: „Russ­land muss für seine schreck­li­chen Ver­bre­chen zahlen, auch für das Ver­bre­chen der Aggres­sion gegen einen sou­ve­rä­nen Staat. Aus diesem Grund schla­gen wir – während wir wei­ter­hin den Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof unter­stüt­zen – die Ein­rich­tung eines von den Ver­ein­ten Natio­nen unter­stütz­ten Son­der­ge­richts vor, das Russ­lands Ver­bre­chen der Aggres­sion unter­su­chen und ver­fol­gen soll“.

Drei Fragen zur Zweck­mä­ßig­keit eines Sondertribunals

Um über die Zweck­mä­ßig­keit der Bildung eines neuen Gerichts­gre­mi­ums zu ent­schei­den, müssen ledig­lich drei Fragen beant­wor­tet werden: Wurde das Ver­bre­chen der Aggres­sion gegen die Ukraine began­gen? Ist die inter­na­tio­nale Gemein­schaft bereit, das Ver­bre­chen der Aggres­sion gegen die Ukraine unge­straft zu lassen? Und schließ­lich: Gibt es eine Insti­tu­tion, die zustän­dig ist, die­je­ni­gen vor Gericht zu stellen, die sich des Ver­bre­chens der Aggres­sion gegen die Ukraine schul­dig gemacht haben?

Die ersten beiden Fragen sind leicht zu beant­wor­ten. Es ist nicht zu bezwei­feln, dass eine Aggres­sion gegen einen unab­hän­gi­gen Staat statt­fin­det. Das wurde durch zahl­rei­che offi­zi­elle Erklä­run­gen ver­schie­de­ner Länder und inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen deut­lich. Darüber hinaus ist die Not­wen­dig­keit der Ahndung der geplan­ten und ein­ge­lei­te­ten Aggres­sion offen­sicht­lich. Die unaus­weich­li­che Ahndung von Aggres­sion sollte ein Element der künf­ti­gen euro­päi­schen Sicher­heits­ar­chi­tek­tur sein. Andern­falls wird jeder Dik­ta­tor glauben, dass Staats­gren­zen durch Gewalt­an­wen­dung ver­än­dert werden können.

Die Antwort auf die dritte Frage erfor­dert eine detail­lierte recht­li­che Analyse. Die Gegner der Bildung eines Son­der­tri­bu­nals weisen darauf hin, dass die Ukraine die Mecha­nis­men des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs (IstGH) nutzen sollte. Ein solcher Ansatz ist jedoch in der Praxis nicht umsetz­bar. Die Aggres­sion als Ver­bre­chen fällt zwar in die Zustän­dig­keit des IStGH. Die Defi­ni­tion dieses Ver­bre­chens wurde durch die Ände­rung des Römi­schen Statuts auf der ersten Über­prü­fungs­kon­fe­renz des Statuts in Kampala, Uganda, im Jahr 2010 ange­nom­men. Am 15. Dezem­ber 2017 nahm die Ver­samm­lung der Ver­trags­staa­ten im gegen­sei­ti­gen Ein­ver­neh­men eine Reso­lu­tion über die Akti­vie­rung der Zustän­dig­keit des Gerichts­hofs für das Ver­bre­chen der Aggres­sion ab dem 17. Juli 2018 an. Es sei darauf hin­ge­wie­sen, dass die Aggres­sion gegen die Ukraine nicht 2022, sondern 2014 begann, weshalb der IstGH nicht einmal theo­re­tisch in der Lage wäre, die gesamte Situa­tion zu prüfen.

Russ­lands Veto­recht beim UN-Sicherheitsrat

Darüber hinaus gibt es weitere erheb­li­che Pro­bleme mit der Recht­spre­chung. Nach Artikel 15a des Römi­schen Statuts „übt der Gerichts­hof in Bezug auf einen Staat, der nicht Ver­trags­par­tei dieses Statuts ist, seine Zustän­dig­keit für das Ver­bre­chen der Aggres­sion nicht aus, wenn es von Staats­an­ge­hö­ri­gen dieses Staates oder in seinem Hoheits­ge­biet began­gen wird“. Die Rus­si­sche Föde­ra­tion hat das Römi­sche Statut nicht rati­fi­ziert und wird dies wahr­schein­lich auch in naher Zukunft nicht tun. Der IStGH ist also nicht für rus­si­sche Staats­an­ge­hö­rige zustän­dig, wenn es sich um eine staat­li­che Vorlage oder eine vom IStGH-Anklä­ger ein­ge­lei­tete Unter­su­chung handelt. Natür­lich gibt es für die Befas­sung des UN-Sicher­heits­rats keine Beschrän­kung der Zustän­dig­keit. Aber solange der UN-Sicher­heits­rat nicht refor­miert ist und die Rus­si­sche Föde­ra­tion ein Veto­recht hat, wird ein solches Ver­fah­ren nicht ange­wandt werden. Zusam­men­ge­fasst lässt sich sagen, dass es derzeit keine Insti­tu­tion gibt, die für Fälle der indi­vi­du­el­len straf­recht­li­chen Ver­ant­wor­tung für die Durch­füh­rung einer Aggres­sion gegen die Ukraine zustän­dig wäre.

„Das Ver­bre­chen der Aggres­sion kann nicht igno­riert werden“

Wenn der Ukraine also ange­bo­ten wird, nur die bestehen­den Mecha­nis­men zu nutzen, muss man offen sagen: Diese Vor­schläge zeigen, dass die Bestra­fung des Ver­bre­chens der Aggres­sion abge­lehnt wird und man sich nur auf Kriegs­ver­bre­chen, Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit und Völ­ker­mord kon­zen­triert. Aber das ist der falsche Ansatz, denn auch das Ver­bre­chen der Aggres­sion wurde began­gen. Darüber hinaus ist es ein Ver­bre­chen gegen den Frieden und die inter­na­tio­nale Rechts­ord­nung. Und in unserer Situa­tion ist das Ver­bre­chen der Aggres­sion die Ursache und Aus­lö­ser für die Bege­hung anderer Ver­bre­chen. Das Ver­bre­chen der Aggres­sion kann nicht igno­riert werden. Hätte die inter­na­tio­nale Gemein­schaft 2014 vor dem Ver­bre­chen der Aggres­sion nicht die Augen ver­schlos­sen und wäre die rus­si­sche Führung schon damals bestraft worden, wäre es höchst­wahr­schein­lich nicht zu dem umfas­sen­den Krieg im Jahr 2022 gekommen.

Lücke in der Archi­tek­tur des inter­na­tio­na­len Rechts

Die öffent­li­che Erklä­rung, in der die Ein­rich­tung eines Son­der­tri­bu­nals zur Ahndung des Ver­bre­chens der Aggres­sion gegen die Ukraine gefor­dert wird, wurde von vielen bekann­ten Poli­ti­kern und Juris­ten unter­zeich­net. Einer von ihnen ist der renom­mierte bri­ti­sche Jurist Phil­ippe Sands, der Ver­fas­ser des Buches „East West Street: On the Origins of Geno­cide and Crimes Against Huma­nity“. Er wies darauf hin, dass „die allei­nige Unter­su­chung von Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit dazu führen könnte, dass die Haupt­ver­ant­wort­li­chen aus dem Schnei­der sind“. Philip Sands schlug die Idee eines Son­der­straf­ge­richts­hofs zur Ahndung des Ver­bre­chens der Aggres­sion vor, weil er eine Lücke in der Archi­tek­tur des inter­na­tio­na­len Rechts sah, die seiner Meinung nach geschlos­sen werden sollte. Er erklärte auch, dass die „Aggres­sion ein Füh­rungs­ver­bre­chen ist, das direkt an den obers­ten Tisch führt“.

Haupt­merk­male eines künf­ti­gen Sondertribunals

Auch das Rechts­mo­dell des Tri­bu­nals sorgt für viele Dis­kus­sio­nen. So hat das Außen­mi­nis­te­rium der Ukraine fünf Haupt­merk­male for­mu­liert, die als Grund­lage für das künf­tige Son­der­tri­bu­nal dienen können:

  • Das Son­der­tri­bu­nal wird sich auf die Regeln und Vor­ge­hens­wei­sen des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs stützen, die im Römi­schen Statut nie­der­ge­legt sind. Er wird das Ver­bre­chen der Aggres­sion gegen die Ukraine, das in ihrem Hoheits­ge­biet began­gen wurde, im Sinne des Arti­kels 8a des Römi­schen Statuts unter­su­chen und verfolgen.
  • Die Zustän­dig­keit des Son­der­tri­bu­nals wird sich auf alle Ereig­nisse ab Februar 2014 erstrecken.
  • Das Son­der­tri­bu­nal hat Gerichts­bar­keit über natür­li­che Per­so­nen, die die poli­ti­schen oder mili­tä­ri­schen Aktio­nen des Staates steuern.
  • Der offi­zi­elle Status des Ange­klag­ten, wie z. B. der Status eines Staats­ober­haupts, befreit eine solche Person nicht von der indi­vi­du­el­len straf­recht­li­chen Ver­ant­wor­tung und mildert die Strafe nicht.
  • Das Son­der­tri­bu­nal wird sich nur mit dem Ver­bre­chen der Aggres­sion gegen die Ukraine befassen.

Von ukrai­ni­scher Seite wurden auch mehrere Ansätze für die Ein­rich­tung des Son­der­tri­bu­nals vor­ge­schla­gen: ein mul­ti­la­te­ra­les inter­na­tio­na­les Abkom­men zwi­schen der Ukraine und einer bestimm­ten Anzahl von Staaten oder ein Abkom­men zwi­schen der Ukraine und einer inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tion (EU, Euro­pa­rat, UN). Diese Ideen werden auch von inter­na­tio­na­len Exper­ten unter­stützt. Claus Kreß, Experte für inter­na­tio­na­les Recht an der Uni­ver­si­tät zu Köln, schlug bei­spiels­weise ein Modell vor, das aus zwei Stufen besteht. Zunächst eine Reso­lu­tion der Gene­ral­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen, in der der Wunsch der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft zum Aus­druck kommt, ein Tri­bu­nal ein­zu­rich­ten. Dann der Abschluss eines inter­na­tio­na­len Ver­trags zwi­schen dem UN-Gene­ral­se­kre­tär und der Ukraine über die Ein­rich­tung des Tribunals.

Um das welt­weite Inter­esse an der Ein­rich­tung des Son­der­tri­bu­nals zu erhöhen, werden Vor­schläge dis­ku­tiert, seine Zustän­dig­keit nicht auf die Situa­tion in der Ukraine zu beschrän­ken. In einem solchen Fall würde dieses Tri­bu­nal jedoch in Kon­kur­renz zum Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof treten, was nicht wün­schens­wert ist. Die einzige Option, die in Betracht gezogen werden könnte, ist die Aus­wei­tung der Zustän­dig­keit des Tri­bu­nals auf andere von der rus­si­schen Führung began­gene Ver­bre­chen der Aggres­sion, wie gegen Moldau, Geor­gien usw. Es ist auch möglich, die Zustän­dig­keit zu erwei­tern, indem der Begriff der Aggres­sion moder­ni­siert wird.

Neue Defi­ni­tion des Ver­bre­chens der Aggres­sion im Rahmen des Völkerrechts

Die recht­li­che Defi­ni­tion des Begriffs „Aggres­sion“ wurde in der Reso­lu­tion 3314 (XXIX) der UN-Gene­ral­ver­samm­lung von 1974 fest­ge­legt. Der gleiche Wort­laut wurde auch in das Römi­sche Statut über­nom­men. Es bestehen jedoch Zweifel daran, dass diese Defi­ni­tion moder­nen Her­aus­for­de­run­gen gerecht wird. Russ­lands Aggres­sion gegen die Ukraine wird gewöhn­lich als „hybrid“ bezeich­net. Dies ist darauf zurück­zu­füh­ren, dass diese Aggres­sion mehrere Dimen­sio­nen hat: Sie ist kon­ven­tio­nell und wirt­schaft­lich, sie beinhal­tet infor­ma­tio­nelle und Cyber­an­griffe. Cyber­an­griffe auf zivile Infra­struk­tur können nicht weniger ver­hee­rend sein als Rake­ten­an­griffe. Das Völ­ker­recht hat jedoch keine klare Antwort auf diese Situa­tio­nen. Die Ansätze zum moder­nen Ver­ständ­nis von Aggres­sion, ins­be­son­dere im Rahmen des Völ­ker­rechts, sollten geän­dert werden, um die rus­si­sche Führung für alle ihre Hand­lun­gen, nicht nur für den kon­ven­tio­nel­len Krieg, zur Ver­ant­wor­tung zu ziehen.

Wenn die inter­na­tio­nale Gemein­schaft die rus­si­sche Führung tat­säch­lich für das Ver­bre­chen der Aggres­sion zur Rechen­schaft ziehen will, gibt es keine andere Mög­lich­keit als die Ein­rich­tung eines Son­der­tri­bu­nals. Die Dis­kus­sio­nen unter Exper­ten und Poli­ti­kern sollten sich darauf kon­zen­trie­ren, das beste Rechts­mo­dell für das Tri­bu­nal zu finden – und nicht auf die Zweifel an der Not­wen­dig­keit seiner Ein­rich­tung. Um weitere Spe­ku­la­tio­nen über den Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof zu ver­mei­den, sollte die Ukraine das Römi­sche Statut so bald wie möglich rati­fi­zie­ren. Dieser Schritt wird zeigen, dass die Ukraine das Son­der­tri­bu­nal nicht als Alter­na­tive zum IStGH ansieht. Darüber hinaus stellt diese Rati­fi­zie­rung eine der Ver­pflich­tun­gen der Ukraine im Rahmen der euro­päi­schen Inte­gra­tion dar.

Das Ver­bre­chen der Aggres­sion gegen die Ukraine ist gleich­zei­tig ein Ver­bre­chen gegen den Welt­frie­den und die globale Sicher­heit. Straf­lo­sig­keit wird die Wie­der­ho­lung solch abscheu­li­cher Ver­bre­chen in der Zukunft ermög­li­chen. Deshalb darf dieses Ver­bre­chen nicht unge­sühnt bleiben.

Portrait von Ilona Khmeleva

Ilona Khme­leva ist Juris­tin und Koor­di­na­to­rin des Pro­jek­tes „Die Ukraine in Europa: Par­la­men­ta­ri­sche Dimen­sion“ in der EEF. 

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