„Russlands Verbrechen der Aggression kann nicht ignoriert werden“
Ein Sondertribunal ist notwendig, um Russland für das Verbrechen der Aggression zur Rechenschaft ziehen zu können. Welche rechtlichen Mechanismen und politischen Herausforderungen dabei zu bedenken sind, analysiert Ilona Khmeleva.
Die russische Invasion in der Ukraine dauert nun schon seit mehr als neun Monaten an. Grausamkeit und Barbarei der russischen Angriffe nehmen zu, wie die jüngsten Attacken auf die zivile Energieinfrastruktur der Ukraine zeigen, durch die Millionen von Menschen den Zugang zu Strom, Wasser und Heizung verloren haben. Weltweit werden Forderungen laut, Russland zur Rechenschaft zu ziehen und die Täter zu verurteilen.
Von den Vereinten Nationen unterstütztes Sondergericht
Die ukrainische Regierung und Zivilgesellschaft befürworten die Idee eines Sondertribunals zur Ahndung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine. Und obwohl einige Experten und Vertreter von Staaten noch Zweifel haben, wächst die Unterstützung für diese Initiative kontinuierlich. In den letzten Tagen wurden neue Resolutionen zur Unterstützung eines solchen internationalen Ad-hoc-Tribunals verabschiedet. Darunter sind Institutionen wie das Europäische Parlament, die Parlamentarische Versammlung des Europarates und die Parlamentarische Versammlung der NATO. Das Europäische Parlament forderte die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, „die Einrichtung eines Sondertribunals, das sich mit dem Verbrechen der Aggression Russlands gegen die Ukraine befasst, in geeigneter Weise zu unterstützen“ und forderte von den Mitgliedstaaten, die dies noch nicht getan haben, „das Verbrechen der Aggression in ihr nationales Recht aufzunehmen“. Darüber hinaus teilte Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, am 30. November bei Twitter mit: „Russland muss für seine schrecklichen Verbrechen zahlen, auch für das Verbrechen der Aggression gegen einen souveränen Staat. Aus diesem Grund schlagen wir – während wir weiterhin den Internationalen Strafgerichtshof unterstützen – die Einrichtung eines von den Vereinten Nationen unterstützten Sondergerichts vor, das Russlands Verbrechen der Aggression untersuchen und verfolgen soll“.
Drei Fragen zur Zweckmäßigkeit eines Sondertribunals
Um über die Zweckmäßigkeit der Bildung eines neuen Gerichtsgremiums zu entscheiden, müssen lediglich drei Fragen beantwortet werden: Wurde das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine begangen? Ist die internationale Gemeinschaft bereit, das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine ungestraft zu lassen? Und schließlich: Gibt es eine Institution, die zuständig ist, diejenigen vor Gericht zu stellen, die sich des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine schuldig gemacht haben?
Die ersten beiden Fragen sind leicht zu beantworten. Es ist nicht zu bezweifeln, dass eine Aggression gegen einen unabhängigen Staat stattfindet. Das wurde durch zahlreiche offizielle Erklärungen verschiedener Länder und internationaler Organisationen deutlich. Darüber hinaus ist die Notwendigkeit der Ahndung der geplanten und eingeleiteten Aggression offensichtlich. Die unausweichliche Ahndung von Aggression sollte ein Element der künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur sein. Andernfalls wird jeder Diktator glauben, dass Staatsgrenzen durch Gewaltanwendung verändert werden können.
Die Antwort auf die dritte Frage erfordert eine detaillierte rechtliche Analyse. Die Gegner der Bildung eines Sondertribunals weisen darauf hin, dass die Ukraine die Mechanismen des Internationalen Strafgerichtshofs (IstGH) nutzen sollte. Ein solcher Ansatz ist jedoch in der Praxis nicht umsetzbar. Die Aggression als Verbrechen fällt zwar in die Zuständigkeit des IStGH. Die Definition dieses Verbrechens wurde durch die Änderung des Römischen Statuts auf der ersten Überprüfungskonferenz des Statuts in Kampala, Uganda, im Jahr 2010 angenommen. Am 15. Dezember 2017 nahm die Versammlung der Vertragsstaaten im gegenseitigen Einvernehmen eine Resolution über die Aktivierung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für das Verbrechen der Aggression ab dem 17. Juli 2018 an. Es sei darauf hingewiesen, dass die Aggression gegen die Ukraine nicht 2022, sondern 2014 begann, weshalb der IstGH nicht einmal theoretisch in der Lage wäre, die gesamte Situation zu prüfen.
Russlands Vetorecht beim UN-Sicherheitsrat
Darüber hinaus gibt es weitere erhebliche Probleme mit der Rechtsprechung. Nach Artikel 15a des Römischen Statuts „übt der Gerichtshof in Bezug auf einen Staat, der nicht Vertragspartei dieses Statuts ist, seine Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggression nicht aus, wenn es von Staatsangehörigen dieses Staates oder in seinem Hoheitsgebiet begangen wird“. Die Russische Föderation hat das Römische Statut nicht ratifiziert und wird dies wahrscheinlich auch in naher Zukunft nicht tun. Der IStGH ist also nicht für russische Staatsangehörige zuständig, wenn es sich um eine staatliche Vorlage oder eine vom IStGH-Ankläger eingeleitete Untersuchung handelt. Natürlich gibt es für die Befassung des UN-Sicherheitsrats keine Beschränkung der Zuständigkeit. Aber solange der UN-Sicherheitsrat nicht reformiert ist und die Russische Föderation ein Vetorecht hat, wird ein solches Verfahren nicht angewandt werden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es derzeit keine Institution gibt, die für Fälle der individuellen strafrechtlichen Verantwortung für die Durchführung einer Aggression gegen die Ukraine zuständig wäre.
„Das Verbrechen der Aggression kann nicht ignoriert werden“
Wenn der Ukraine also angeboten wird, nur die bestehenden Mechanismen zu nutzen, muss man offen sagen: Diese Vorschläge zeigen, dass die Bestrafung des Verbrechens der Aggression abgelehnt wird und man sich nur auf Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord konzentriert. Aber das ist der falsche Ansatz, denn auch das Verbrechen der Aggression wurde begangen. Darüber hinaus ist es ein Verbrechen gegen den Frieden und die internationale Rechtsordnung. Und in unserer Situation ist das Verbrechen der Aggression die Ursache und Auslöser für die Begehung anderer Verbrechen. Das Verbrechen der Aggression kann nicht ignoriert werden. Hätte die internationale Gemeinschaft 2014 vor dem Verbrechen der Aggression nicht die Augen verschlossen und wäre die russische Führung schon damals bestraft worden, wäre es höchstwahrscheinlich nicht zu dem umfassenden Krieg im Jahr 2022 gekommen.
Lücke in der Architektur des internationalen Rechts
Die öffentliche Erklärung, in der die Einrichtung eines Sondertribunals zur Ahndung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine gefordert wird, wurde von vielen bekannten Politikern und Juristen unterzeichnet. Einer von ihnen ist der renommierte britische Jurist Philippe Sands, der Verfasser des Buches „East West Street: On the Origins of Genocide and Crimes Against Humanity“. Er wies darauf hin, dass „die alleinige Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dazu führen könnte, dass die Hauptverantwortlichen aus dem Schneider sind“. Philip Sands schlug die Idee eines Sonderstrafgerichtshofs zur Ahndung des Verbrechens der Aggression vor, weil er eine Lücke in der Architektur des internationalen Rechts sah, die seiner Meinung nach geschlossen werden sollte. Er erklärte auch, dass die „Aggression ein Führungsverbrechen ist, das direkt an den obersten Tisch führt“.
Hauptmerkmale eines künftigen Sondertribunals
Auch das Rechtsmodell des Tribunals sorgt für viele Diskussionen. So hat das Außenministerium der Ukraine fünf Hauptmerkmale formuliert, die als Grundlage für das künftige Sondertribunal dienen können:
- Das Sondertribunal wird sich auf die Regeln und Vorgehensweisen des Internationalen Strafgerichtshofs stützen, die im Römischen Statut niedergelegt sind. Er wird das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine, das in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde, im Sinne des Artikels 8a des Römischen Statuts untersuchen und verfolgen.
- Die Zuständigkeit des Sondertribunals wird sich auf alle Ereignisse ab Februar 2014 erstrecken.
- Das Sondertribunal hat Gerichtsbarkeit über natürliche Personen, die die politischen oder militärischen Aktionen des Staates steuern.
- Der offizielle Status des Angeklagten, wie z. B. der Status eines Staatsoberhaupts, befreit eine solche Person nicht von der individuellen strafrechtlichen Verantwortung und mildert die Strafe nicht.
- Das Sondertribunal wird sich nur mit dem Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine befassen.
Von ukrainischer Seite wurden auch mehrere Ansätze für die Einrichtung des Sondertribunals vorgeschlagen: ein multilaterales internationales Abkommen zwischen der Ukraine und einer bestimmten Anzahl von Staaten oder ein Abkommen zwischen der Ukraine und einer internationalen Organisation (EU, Europarat, UN). Diese Ideen werden auch von internationalen Experten unterstützt. Claus Kreß, Experte für internationales Recht an der Universität zu Köln, schlug beispielsweise ein Modell vor, das aus zwei Stufen besteht. Zunächst eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in der der Wunsch der internationalen Gemeinschaft zum Ausdruck kommt, ein Tribunal einzurichten. Dann der Abschluss eines internationalen Vertrags zwischen dem UN-Generalsekretär und der Ukraine über die Einrichtung des Tribunals.
Um das weltweite Interesse an der Einrichtung des Sondertribunals zu erhöhen, werden Vorschläge diskutiert, seine Zuständigkeit nicht auf die Situation in der Ukraine zu beschränken. In einem solchen Fall würde dieses Tribunal jedoch in Konkurrenz zum Internationalen Strafgerichtshof treten, was nicht wünschenswert ist. Die einzige Option, die in Betracht gezogen werden könnte, ist die Ausweitung der Zuständigkeit des Tribunals auf andere von der russischen Führung begangene Verbrechen der Aggression, wie gegen Moldau, Georgien usw. Es ist auch möglich, die Zuständigkeit zu erweitern, indem der Begriff der Aggression modernisiert wird.
Neue Definition des Verbrechens der Aggression im Rahmen des Völkerrechts
Die rechtliche Definition des Begriffs „Aggression“ wurde in der Resolution 3314 (XXIX) der UN-Generalversammlung von 1974 festgelegt. Der gleiche Wortlaut wurde auch in das Römische Statut übernommen. Es bestehen jedoch Zweifel daran, dass diese Definition modernen Herausforderungen gerecht wird. Russlands Aggression gegen die Ukraine wird gewöhnlich als „hybrid“ bezeichnet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass diese Aggression mehrere Dimensionen hat: Sie ist konventionell und wirtschaftlich, sie beinhaltet informationelle und Cyberangriffe. Cyberangriffe auf zivile Infrastruktur können nicht weniger verheerend sein als Raketenangriffe. Das Völkerrecht hat jedoch keine klare Antwort auf diese Situationen. Die Ansätze zum modernen Verständnis von Aggression, insbesondere im Rahmen des Völkerrechts, sollten geändert werden, um die russische Führung für alle ihre Handlungen, nicht nur für den konventionellen Krieg, zur Verantwortung zu ziehen.
Wenn die internationale Gemeinschaft die russische Führung tatsächlich für das Verbrechen der Aggression zur Rechenschaft ziehen will, gibt es keine andere Möglichkeit als die Einrichtung eines Sondertribunals. Die Diskussionen unter Experten und Politikern sollten sich darauf konzentrieren, das beste Rechtsmodell für das Tribunal zu finden – und nicht auf die Zweifel an der Notwendigkeit seiner Einrichtung. Um weitere Spekulationen über den Internationalen Strafgerichtshof zu vermeiden, sollte die Ukraine das Römische Statut so bald wie möglich ratifizieren. Dieser Schritt wird zeigen, dass die Ukraine das Sondertribunal nicht als Alternative zum IStGH ansieht. Darüber hinaus stellt diese Ratifizierung eine der Verpflichtungen der Ukraine im Rahmen der europäischen Integration dar.
Das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine ist gleichzeitig ein Verbrechen gegen den Weltfrieden und die globale Sicherheit. Straflosigkeit wird die Wiederholung solch abscheulicher Verbrechen in der Zukunft ermöglichen. Deshalb darf dieses Verbrechen nicht ungesühnt bleiben.
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