Schukow vs. Bandera oder: Neue ukrai­ni­sche Umbenennungsspielchen

Beschä­di­gung des Sockels der Büste zum Geden­ken an Mar­schall der Sowjet­union Georgi Schukow, © Vya­ches­lav Madi­yevs­kyy /​ Imago Images

Keinen Monat nach Selen­skyjs Amts­ein­füh­rung sah sich der neue Prä­si­dent mit Her­aus­for­de­run­gen im Bereich der Sym­bol­po­li­tik kon­fron­tiert, die man je nach poli­ti­schem Stand­punkt unter­schied­lich inter­pre­tie­ren kann. Andrii Portnov erläu­tert in seiner Analyse, was es mit diesen Umben­nungs­spiel­chen auf sich hat.

Anmer­kung der Redak­tion: dieser Artikel wurde von „Ukraine ver­ste­hen“ zuerst im Juni 2019 veröffentlicht.

Mar­schall Schukow Seit‘ an Seit‘ mit General Hryhorenko

Gegen Ende der 60er Jahre wurde im sowje­ti­schen Charkiw die damals so genannte Stadion-Straße gebaut . 1983 wurde sie in Straße zum 60. Jah­res­tag des Bestehens der UdSSR umbe­nannt, 1990 zur Mar­schall Schukow-Allee. Am 17. Mai 2016 wurde die Allee nach General Petro Hryho­renko benannt, einem Kriegs­theo­re­ti­ker, einem sowje­ti­schen Teil­neh­mer des Großen Vater­län­di­schen Krieges„ später dann ukrai­ni­schen Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten und Grün­dungs­mit­glied der Ukrai­ni­schen Hel­sinki-Gruppe, der 1977 zur Aus­reise aus der Sowjet­union gezwun­gen wurde.

Kurz vor dem 9. Mai diesen Jahres machte in Charkiw eine Peti­tion für die Rück­be­nen­nung in Schukow-Allee die Runde. Dies geschah am Vor­abend der Prä­si­dent­schafts­wah­len, bei denen der Bür­ger­meis­ter von Charkiw, Hen­na­diy Kernes, offen den amtie­ren­den Prä­si­den­ten Petro Poro­schenko unter­stützte. Die Gunst­be­zeu­gung des – gelinde gesagt – umstrit­te­nen Poli­ti­kers sorgte bei proukrai­ni­schen Intel­lek­tu­el­len für Entrüstung.

Der bekannte ukrai­ni­sche Schrift­stel­ler und Char­ki­wer Bürger Serhij Zhadan brachte sein Befrem­den sogleich zum Aus­druck und bezeich­nete Kernes als „destruk­tive Person, weit davon ent­fernt, im Inter­esse der Ukraine zu handeln.“ 

In jedem Fall hin­derte die Unter­stüt­zung Poro­schen­kos durch Kernes Wolo­dymyr Selen­skyj nicht daran, einen klaren Sieg nicht nur in Charkiw, sondern auch in sämt­li­chen anderen Regio­nen (mit Aus­nahme der Lwiwer Oblast) ein­zu­fah­ren. Der Bür­ger­meis­ter von Charkiw beschloss, die vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wah­len unter dem Banner der neuen Partei „Glaube an die Tat“ [„Доверяй делам“] zu bestrei­ten, deren Par­tei­vor­sitz er sich mit dem in patrio­ti­schen Kreisen (wegen seiner rus­si­schen Staats­bür­ger­schaft) nicht weniger ver­hass­ten Bür­ger­meis­ter von Odesa, Hen­na­diy Trucha­now, teilt.

Der Par­tei­kon­gress fand am zweiten Juli in Charkiw statt. Am selben Tag rissen Ver­tre­ter des rechts­extre­men „Natio­na­lis­ti­schen Korps“ im Zuge einer Pro­test­ver­an­stal­tung gegen das neue Polit­pro­jekt das Denkmal von Mar­schall Schukow von seinem Sockel. Damit ist der „Sie­ges­mar­schall“ voll­ends zum Auf­hän­ger einer poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung degra­diert gewor­den. Die Situa­tion wurde zusätz­lich durch eine Initia­tive von Kernes befeu­ert, nämlich den (erfolg­lo­sen) Versuch, das 2014 von Frei­wil­li­gen im Zentrum der Stadt errich­tete Mili­tär­zelt „Alles für den Sieg“ abzutragen.

Die Pres­se­spre­che­rin des neu­ge­wähl­ten Prä­si­den­ten kom­men­tierte den „Fall Schukow“ fol­gen­der­ma­ßen: „der Prä­si­dent ist der Ansicht, dass für die Lösung solcher Kon­flikte im gesetz­li­chen Rahmen aus­schließ­lich die städ­ti­sche Selbst­ver­wal­tung zustän­dig ist. Dies sieht die Durch­füh­rung öffent­li­cher Kon­sul­ta­tio­nen und Anhö­run­gen sowie die Umset­zung einer für alle betei­lig­ten Seiten zufrie­den­stel­len­den Lösung vor.“

Ange­sichts der Tat­sa­che, dass die Dekom­mu­ni­sie­rungs­ge­setze Aus­nah­men für Ange­hö­rige des sowje­ti­schen Wider­stands und Ver­folgte des Nazi-Regime vor­se­hen, gibt ein solcher Kom­men­tar unmiss­ver­ständ­lich zu ver­ste­hen, dass die neuen Macht­ha­ber in Kyjiw keine Ein­wände gegen die Wie­der­um­be­nen­nung haben. 

Am 19. Juli 2019 stimmte der Char­ki­wer Stadt­rat für die Rück­be­nen­nung der Hryho­renko-Allee in Mar­schall Schukow-Allee. Kernes segnete den Beschluss ab und erklärte die vor­an­ge­gan­gene Umbe­nen­nung durch die Regio­nal­ver­wal­tung für unrecht­mä­ßig. Ferner wies er darauf hin, dass für die Rück­kehr zu Schukow mehr als 50.000 Unter­schrif­ten gesam­melt worden seien – kurzum: der Bür­ger­meis­ter berief sich auf „Volkes Stimme“, ohne auch nur im Ent­fern­tes­ten auf die Frage der his­to­ri­schen Bedeu­tung der beiden sowje­ti­schen Mili­tärs ein­zu­ge­hen, frei nach dem Motto: „die Char­ki­wer wollen Schukow, sie kriegen Schukow.“

Dar­auf­hin gab der Leiter des Insti­tuts für Natio­na­les Geden­ken, Wolo­dymyr Wja­tro­witsch bekannt, dass sein Insti­tut eine Klage beim Gene­ral­staats­an­walt ein­ge­reicht habe, um Kernes straf­recht­lich zu belan­gen. Bezeich­nen­der­weise kan­di­dierte Wja­tro­witsch selbst, wenn auch erfolg­los, auf der Liste der Partei Poro­schen­kos „Euro­päi­sche Soli­da­ri­tät“. Jene Partei, wie auch der Ex-Prä­si­dent, räumten im Wahl­kampf solchen und ähn­li­chen Fragen einen hohen Stel­len­wert ein. Einen ähn­li­chen Ansatz ver­folg­ten Poro­schen­kos ideo­lo­gi­sche Gegen­spie­ler von der „Oppo­si­ti­ons­platt­form – für das Leben“, die unab­läs­sig darauf hin­wie­sen, dass sie ja „den Tag des Sieges begehen“ und dass die Ukraine „nach wie vor zwi­schen Ost und West geteilt sei“. Die Selen­skyj-Partei hin­ge­gen hoffte, an den Erfolg ihres Prä­si­den­ten anknüp­fen zu können, und vermied nach Kräften ein­deu­tige Aus­sa­gen zu erinnerungs‑, sprach- und kir­chen­po­li­ti­schen Fragen – sogar in einer Situa­tion, in der eine aus­blei­bende Par­tei­nahme für Petro Hryho­renko offen­sicht­lich unan­ge­bracht ist, handelt es sich hierbei doch um einen Ver­fech­ter von Men­schen­rech­ten, dar­un­ter ins­be­son­dere der Rechte der Krim­ta­ta­ren, die depor­tiert und denen das Recht auf Rück­kehr in ihre his­to­ri­sche Heimat durch die UdSSR vor­ent­hal­ten wurde.

Gleich­wohl wurde aus­ge­rech­net General Hryho­renko das erste Opfer der De-Dekommunisierung. 

Er erlitt eine sym­bo­li­sche Nie­der­lage gegen Mar­schall Schukow, dessen „bei­spiel­lose Grau­sam­keit“ und stüm­per­hafte Führung im Kampf er mit spitzer Feder in seinen Erin­ne­run­gen beschreibt. Den lokalen Macht­ha­bern schien Schukow (bezie­hungs­weise der Mythos des „Sie­ges­mar­schalls“) als pas­sen­der Name für ihre Umbe­nen­nungs­spiel­chen im Wahl­kampf ins Konzept zu passen. Was steht dabei auf dem Spiel? Und welche Ausmaße nimmt das Phä­no­men lan­des­weit an?

Bandera- und Schu­che­witsch-Allee unter Vorbehalt

Am 25. Juli 2019, kaum eine Woche nach dem Beschluss des Char­ki­wer Stadt­rats, nahm das Bezirks­ver­wal­tungs­ge­richt in Kyjiw die Umbe­nen­nun­gen der Moskau-Allee in Bandera-Allee und der Watunin-Allee in Schu­che­witsch-Alle zurück. Damit gab das Gericht einer Klage der kaum bekann­ten „Jüdi­schen Men­schen­rechts­gruppe“ und der „Anti­fa­schis­ti­schen Men­schen­rechts­liga“ gegen den Kyjiwer Stadt­rat statt und begrün­dete seine Ent­schei­dung mit Ver­stö­ßen gegen das Umbe­nen­nungs­ver­fah­ren, mit feh­len­der ord­nungs­ge­mä­ßer Begrün­dung und einer unzu­rei­chen­den öffent­li­chen Auseinandersetzung.

Der Kyjiwer Bür­ger­meis­ter Witalij Klit­schko ver­sprach umge­hend, sich der Sache anzu­neh­men, und die Alleen – sofern nötig – erneut umzu­be­nen­nen. Das Umfeld von Selen­skyj ließ erneut die Absicht durch­klin­gen, die Stadt­be­woh­ner ent­schei­den zu lassen. Der Leiter des Prä­si­di­al­bü­ros, Andrij Bohdan, schlug vor, die Frage der Umbe­nen­nung durch ein Refe­ren­dum oder mittels einer Mei­nungs­um­frage zu entscheiden.

Zur Erin­ne­rung: die Bandera-Allee exis­tiert seit 7. Juli 2016, die Schu­che­witsch-Allee seit dem ersten Juni 2017. Beide Umbe­nen­nun­gen sind im Kontext der Legi­ti­mie­rung natio­na­lis­ti­scher Sym­bo­lik durch den Maidan und den Krieg im Donbas zu verstehen.

Serhij Ekelt­schyk notiert dazu: „Man kann sagen, dass das Bandera-Bild während des Euro­mai­dan zu einem Symbol des Wider­stan­des gegen das kor­rupte und pro­rus­si­sche Regime umge­deu­tet wurde und so den Bezug zum his­to­ri­schen Bandera – einem über­zeug­ten Ver­fech­ter eines exklu­si­ven eth­ni­schen Natio­na­lis­mus – verlor“. 

Erst der Maidan und der Krieg machten es über­haupt möglich, dass das topony­mi­sche Geden­ken an Bandera die his­to­ri­schen Grenzen Ost­ga­li­zi­ens (die Oblas­ten Lwiw, Iwano-Fran­kiwsk und Terno­pil) über­schrei­ten konnte. Die Schlüs­sel­rolle spielte dabei der seman­ti­sche Aspekt des „Anti­mos­kau­er­tums“. In der Logik des Kyjiwer Stadt­ra­tes drängte dieser Aspekt im Zuge der mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit Russ­land die Frage nach dem Wesen des Natio­na­lis­mus des Bandera-Flügels, der Orga­ni­sa­tion Ukrai­ni­scher Natio­na­lis­ten (OUN) und ihrer his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung für anti­pol­ni­sche, anti­jü­di­sche und anti­ukrai­ni­sche (im Falle poli­ti­scher Gegner der Natio­na­lis­ten) Aktio­nen in den Hintergrund.

Der Wechsel von General Nikolaj Watunin (tödlich ver­wun­det im Kampf gegen eine Einheit der Ukrai­ni­schen Auf­stän­di­schen Armee im Februar 1944) zu UPA-Ober­be­fehls­ha­ber Roman Schu­che­witsch (gefal­len am 5. März 1950 im Kampf mit einer Spe­zi­al­ein­heit des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit) sollte dem natio­na­lis­ti­schen Unter­grund offen­sicht­lich zumin­dest auf topony­mi­scher Ebene einen Sieg ermöglichen.

Die Umbe­nen­nun­gen in Kyjiw sind zur Blau­pause für Nach­ah­mun­gen in den Regio­nen geworden. 

So wurde etwa die Babusch­kin-Straße in einem ehe­ma­li­gen Arbei­ter­vier­tel in Dnipro (ehemals Dni­pro­pe­trowsk) in Schu­che­witsch-Allee umge­tauft. Der Berater Lenins, Babusch­kin, blieb von der Dekom­mu­ni­sie­rung nicht ver­schont, obwohl er 1906, mehr als 10 Jahre vor der Mach­t­er­lan­gung der Bol­sche­wiki, umge­bracht wurde. Übri­gens wurde bis zum heu­ti­gen Tag kein Schild mit dem neuen Namen angebracht.

Ein außen­ste­hen­der Beob­ach­ter, mit den Ste­reo­ty­pen über Bandera in Polen, Tsche­chien oder Deutsch­land ver­traut, könnte ver­ständ­li­cher­weise geneigt sein, die Ent­schei­dung des Kyjiwer Gerichts als Schritt in Rich­tung „echter Euro­päi­sie­rung“ und als Absage an einen eth­ni­schen Natio­na­lis­mus zu deuten. Doch eine solche Inter­pre­ta­tion zeugt von Nai­vi­tät oder Zynis­mus. Die Ent­schei­dung des Kyjiwer Gerichts ist kaum weniger poli­tisch als eine Reihe von anderen gericht­li­chen Ent­schei­dun­gen vor und nach den Wahlen, etwa zur Recht­mä­ßig­keit der Ver­staat­li­chung der Pri­vat­bank oder über die Regis­trie­rung von Kan­di­da­tu­ren ehe­ma­li­ger wohl­be­kann­ter Appa­rat­schiki des Janu­ko­wytsch-Regimes für die Wahlen. Auch in diesem Fall dienen die his­to­ri­schen Figuren ledig­lich als Aus­tra­gungs­stätte von Inter­es­sens­kon­flik­ten, die natur­ge­mäß weit von einer ver­ant­wor­tungs­be­wuss­ten Aus­ein­an­der­set­zung über die Ver­gan­gen­heit ent­fernt sind.

Warum Bandera?

Es stellt sich die Frage, weshalb aus­ge­rech­net Bandera zur maß­geb­li­chen Reiz­fi­gur ukrai­ni­scher Erin­ne­rungs­po­li­tik und einer ver­kürz­ten Rezep­tion der ukrai­ni­schen Geschichte des 20. Jahr­hun­derts werden konnte. Und inwie­weit der Mythos um diesen Namen in Ein­klang steht mit den Taten der realen his­to­ri­schen Person Stepan Bandera – des Führers des radi­ka­len Flügels der OUN, der im Polen der Zwi­schen­kriegs­zeit für die Orga­ni­sa­tion meh­re­rer Ter­ror­akte (ins­be­son­dere die Ermor­dung des sowje­ti­schen Konsuls in Lwiw und des pol­ni­schen Innen­mi­nis­ters) zum Tode ver­ur­teilt wurde, und der fast den gesam­ten Zweiten Welt­krieg im deut­schen KZ Sach­sen­hau­sen inhaf­tiert war für den Versuch, im von deut­schen Truppen besetz­ten Lwiw einen „Akt der Wie­der­her­stel­lung eines unab­hän­gi­gen ukrai­ni­schen Staates“ (am 30. Juni 1941) aus­zu­ru­fen und aufzubauen.

Am 15. Oktober 1959 wurde Bandera in München durch einen sowje­ti­schen Geheim­agen­ten getötet. Jenes Ereig­nis spielte nach­ge­rade eine Schlüs­sel­rolle bei der Mytho­lo­gi­sie­rung des OUN-Führers – weniger der Mord an sich, um genau zu sein, als das weitere Ver­hal­ten des Mörders, der in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 (in der­sel­ben Nacht, als mit der Errich­tung der Ber­li­ner Mauer begon­nen wurde) mit seiner ost­deut­schen Frau nach West­ber­lin floh und sich den Behör­den ergab. Der Gerichts­pro­zess gegen den Mörder Ban­de­ras, der 1962 in Karls­ruhe statt­fand, zog große Auf­merk­sam­keit auf sich, blieb nicht ohne Ein­fluss auf die inter­na­tio­nale Politik und führte dazu, dass sich die Sowjet­union von der Ermor­dung poli­ti­scher Gegner im Ausland los­sagte. Darüber hinaus trug der Wirbel rund um den Prozess maß­geb­lich dazu bei, Bandera zum Symbol des „unver­söhn­li­chen Kampfes für die Ukraine“ zu machen.

„Anstatt die Emi­gran­ten-Com­mu­nity zu spalten und einen inter­nen Kon­flikt zwi­schen den Führern der mili­tan­tes­ten ukrai­ni­schen Orga­ni­sa­tio­nen zu pro­vo­zie­ren, hatte der Mord an Bandera zur Folge, dass ein Führer liqui­diert wurde, der zu diesem Zeit­punkt kei­nes­wegs son­der­lich populär war und keine reale Bedro­hung dar­stellte. Seine Ermor­dung machte ihn zum Mär­ty­rer und gab seinen Anhän­gern auf diese Weise ein Instru­ment zur Mobi­li­sie­rung in die Hand, an dem es ihnen bis dato geman­gelt hatte“, so Serhij Plokhij. 

Die inten­sive sowje­ti­sche „Anti-Bandera“-Propaganda trug dazu bei, dass aus dem sowje­ti­schen Anti­hel­den die zen­trale Figur nicht nur der natio­na­lis­ti­schen, sondern auch der natio­na­len Erzäh­lung wurde. Der Name Bandera wurde zum Kampf­be­griff, und mit dem Begriff „Ban­de­rowtsy“ wurden fortan alle ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten bezeich­net, bis­wei­len auch alle Bewoh­ner der West­ukraine, oder die­je­ni­gen, die Ukrai­nisch spre­chen. Dabei konnte und kann die Bezeich­nung „Ban­de­rowets“ nicht neutral sein; es ist unver­meid­lich, dass sie ideo­lo­gisch vor­be­las­tet ist, sei es extrem positiv oder negativ.

Die Absto­ßung des „sowje­ti­schen Anderen“ bei gleich­zei­tig ver­stärk­ter Bezug­nahme auf dieses Andere ist ein Paradox, das sich im Kontext der Revo­lu­tion oft beob­ach­ten ließ. Neben Ver­tre­tern rechts­ra­di­ka­ler Par­teien, die bewusst ein posi­ti­ves Bandera-Bild beför­der­ten, begann ein nicht unwe­sent­li­cher Teil der Anhän­ger der „Revo­lu­tion der Würde“ damit, sich selbst Ban­de­rowets zu nennen. Oftmals stand dahin­ter die Absicht, auf diese Weise ihre Ableh­nung der rus­si­schen Staats­pro­pa­ganda mit ihrem Versuch, den Maidan als „faschis­ti­schen Putsch“ zu framen, zum Aus­druck zu bringen.

Durch die Appro­pria­tion der pro­pa­gan­dis­ti­schen Labels zur posi­ti­ven Selbst­zu­schrei­bung tappten diese Men­schen jedoch in eine ideo­lo­gi­sche Falle, da sie sehr wenig oder nichts wussten über die auto­ri­tä­ren Ansich­ten und mili­tan­ten Metho­den Ban­de­ras, die nichts gemein hatten mit den grund­le­gen­den For­de­run­gen und Hoff­nun­gen des Maidan.

Und täglich grüßt das Murmeltier?

In der post­so­wje­ti­schen Ukraine steigt das Inter­esse für Denk­mä­ler, Stra­ßen­na­men und ähn­li­che erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Erschei­nungs­for­men tra­di­ti­ons­ge­mäß am Vor­abend der Wahlen und nimmt anschlie­ßend wieder ab. Oft genug hat sich die Posi­tion zu den Sym­bo­len der Ver­gan­gen­heit als geeig­ne­ter Indi­ka­tor zur ideo­lo­gi­schen Unter­schei­dung erwie­sen – zumal die klas­si­sche Auf­tei­lung in „Linke“ und „Rechte“ in diesem poli­ti­schen System nicht verfängt.

In der gegen­wär­ti­gen Ukraine ver­bin­den viele die Dekom­mu­ni­sie­rung mit der Prä­si­dent­schaft Poro­schen­kos, wobei die Haupt­vor­würfe ihm gegen­über in der Regel nicht die Sym­bol­po­li­tik als viel­mehr Fragen der wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung, der Kor­rup­tion und des Krieges betreffen.

Die Ableh­nung der Umbe­nen­nung erweist sich dabei als ein­fa­cher Weg, um sich vom poli­ti­schen Erbe Poro­schen­kos zu distan­zie­ren – umge­kehrt stellt ihre Ver­tei­di­gung ein pro­ba­tes Mittel zur Mobi­li­sie­rung gegen die „Revan­che“ dar. 

Gleich­zei­tig kann von einer gesell­schaft­lich signi­fi­kan­ten Mobi­li­sie­rung im Rahmen der Rück­nahme der Schukow-Allee in Charkiw nicht die Rede sein. Etwas anderes ist der bereits erwähnte Versuch, das Mili­tär­zelt „Alles für den Sieg“ im Zentrum von Charkiw zu ent­fer­nen. In diesem Fall hat das Lan­des­ver­wal­tungs­ge­richt Charkiw nach einer Pro­test­ak­tion mit mehr als 500 Teil­neh­mern eine Klage der ört­li­chen Behör­den abge­wie­sen, die sich bemüht hatten, das Zelt als „mög­li­che Gefähr­dung der Sicher­heit der Bewoh­ner“ darzustellen.

Die Episode legt den Schluss nahe, dass die sym­bo­li­schen Initia­ti­ven vor­läu­fi­gen Cha­rak­ter haben – und selbst mäch­tige lokale Macht­ha­ber ihr Vor­ha­ben bei spür­ba­rem gesell­schaft­li­chen Protest zurück­neh­men müssen.

Dabei kann von einer sys­te­ma­ti­schen Haltung sowohl der lokalen als auch der zen­tra­len Behör­den im Bereich der Erin­ne­rungs­po­li­tik nicht die Rede sein. Ein gutes Bespiel hierfür ist die Aussage der Lei­te­rin der Char­ki­wer Regio­nal­ver­wal­tung, Yulija Swet­lit­schna (von Poro­schenko ernannt) zu ihrer per­sön­li­chen Haltung zur Umbe­nen­nung der Gri­go­renko-Allee: „Ich kenne Schukow  nicht, daher kann ich weder für, noch gegen ihn sein.“ Das ist kein Büro­kra­ten-Kau­der­welsch, das ist Unwis­sen­heit – und ein Hinweis darauf, dass belie­bige his­to­ri­sche Figuren in der Ukraine für die Erin­ne­rungs­po­li­tik nicht mehr sind als ent­leerte Marker für gegen­wär­tige poli­ti­sche Orientierungen.

In diesem Kontext ist es wichtig zu ver­ste­hen, dass weder die Anhän­ger noch die Gegner der Glo­ri­fi­zie­rung Ban­de­ras (oder Schu­kows) homo­gene Gruppen darstellen. 

Die Ver­herr­li­chung sowohl des einen als auch es anderen lässt sich etwa aus einer pro-puti­nis­ti­schen, radikal xeno­pho­ben oder demo­kra­ti­schen Warte aus kri­ti­sie­ren. Eine Kritik an Bandera (oder Schukow) macht einen Men­schen also nicht auto­ma­tisch zu einem Unter­stüt­zer demo­kra­ti­scher Werte (respek­tive des sowje­ti­schen Nar­ra­ti­ves). Jede Aussage muss sowohl den gesell­schaft­li­chen Über­druss in Hin­sicht auf die Erin­ne­rungs­po­li­tik als auch die Lücken ins­be­son­dere im his­to­ri­schen Wissen sowie herr­schende Vor­stel­lun­gen berücksichtigen.

Eine poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung, die dem indi­vi­du­el­len Schick­sal ver­gan­ge­ner Epochen gegen­über gleich­gül­tig ist, macht eine ernst­hafte, nicht popu­lis­tisch-erra­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit schwie­ri­gen Fragen der Ver­gan­gen­heit im öffent­li­chen Raum fak­tisch unmög­lich, und Unklar­heit darüber, was wahr ist, führt zu Unsi­cher­heit über die Ver­gan­gen­heit. Dann nämlich wird der sym­bo­li­sche Sieg von Mar­schall Schukow über General Hriho­renko zu einem wirk­lich schlech­ten Zeichen.

P.S.: Am Morgen des 11. Juli 2019 teilte der Bür­ger­meis­ter von Charkiw, Hen­na­dij Kernes, auf Face­book mit, dass er „wie ver­spro­chen“ die Büste von Mar­schall Schukow an seinen alten Platz gesetzt habe – und ver­öf­fent­lichte ein Foto des instand­ge­setz­ten Denkmals.

Textende

Portrait von Andrii Portnov

Andrii Portnov ist Pro­fes­sor für Ent­an­gled History of Ukraine an der Via­drina-Uni­ver­si­tät (Frankfurt/​Oder) und Leiter des For­schungs­netz­werks „Prisma Ukraïna“ in Berlin.

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