Nariman Dzhelyal: Mutiger Krimtatare und bald Botschafter in der Türkei
Erst vor einem halben Jahr kam Nariman Dzhelyal bei einem Gefangenenaustausch frei. Nun soll er ukrainischer Botschafter in der Türkei werden. Der Journalist war nach der russischen Annexion der Krim der höchste politische Repräsentant der Krimtataren vor Ort. 2021 wurde er festgenommen und zu 17 Jahren Haft verurteilt. Der Kampf für die Freilassung politischer Gefangener ist seither eine Herzensangelegenheit für ihn.
Noch Mitte 2024 saß der Krimtatare Nariman Dzhelyal eine absurde Haftstrafe im russischen Gefängnis in Simferopol auf der völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim ab. Erst Ende Juni kam er bei einem Gefangenenaustausch frei. Zum Jahresende verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine bemerkenswerte Nachricht: Der studierte Politologe Dzhelyal, der zunächst eine beachtliche Karriere als Journalist auf der Krim hingelegt hatte, soll Botschafter der Ukraine in der Türkei werden.
Der Symbolwert dieser Entscheidung Selenskyjs ist kaum zu unterschätzen. Denn wie und wann auch immer es im Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einer Art Friedenslösung kommen könnte: Die Türkei wird dabei als eines der wenigen Länder, das sowohl die Ukraine als auch Russland als seine strategischen Partner sieht, vermutlich eine besondere Rolle spielen. So war auch das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine im Sommer 2022 unter türkischer Vermittlung zustande gekommen.
Geboren in der Verbannung, zeitlebens aktiv auf der Krim
Dass der 44-jährige Krimtatare Dzhelyal die Ukraine in Ankara vertreten soll, ist auch wegen der besonderen Beziehungen zwischen der Türkei und dem krimtatarischen Volk von Bedeutung. Viele Menschen krimtatarischer Herkunft betrachten die Türkei aufgrund der gemeinsamen Geschichte und Religion als Schutzmacht. Ebenfalls interessant ist in dieser Hinsicht, dass Außenminister Andrij Sybiha lange und erfolgreich in Ankara gearbeitet hat: Sybiha war von 2016 bis 2021 ukrainischer Botschafter in der Türkei.
Wie die meisten Krimtataren seiner Generation wurde Nariman Dzhelyal 1980 nach den Deportationen der frühen Stalin-Zeit noch in Zentralasien geboren: in Usbekistan. Erst im Alter von neun Jahren kehrte er mit seiner Familie auf die Krim zurück und lebte bei Dschankoj im Norden der Halbinsel. Sein Studium absolvierte der angehende Politikwissenschaftler zwar an der Nationalen Metschnikow-Universität in Odesa. Unmittelbar nach seinem Abschluss kehrte er jedoch auf die Krim zurück. Dort arbeitete er unter anderem als Moderator im krimtatarischen Fernsehsender ATR sowie für eine bekannte krimtatarische Zeitung – aber auch als Geschichtslehrer an einer internationalen Schule in Simferopol, der Hauptstadt der Krim.
Das krimtatarische Volk kämpft um politische Repräsentation
Ende 2013, wenige Monate vor der russischen Annexion der Halbinsel, begann der bisher spannendste und herausforderndste Abschnitt in Dzhelyals Lebens: Er wurde zu einem der Stellvertreter des Medschlis-Vorsitzenden Refat Chubarov gewählt. Der Medschlis ist das zentrale Exekutivorgan der krimtatarischen Volksversammlung – also so etwas wie die politische Hand der Volksgruppe. 2016 stuften die russischen Besatzungsbehörden den Medschlis als „extremistisch“ ein und verboten dessen Arbeit. Dzhelyal leitete dort nach seiner Wahl zunächst die Abteilung für Informationsarbeit und Analyse.
Nach der Annexion der Krim wurde jedoch nicht nur dem Vorsitzenden des Medschlis, Refat Chubarov, die Wiedereinreise auf die Halbinsel verwehrt, sondern auch anderen krimtatarischen Führungsfiguren, darunter Chubarovs Vorgänger Mustafa Dzhemilev, der zu Sowjetzeiten ein prominenter Dissident war. Nariman Dzhelyal, der die ganze Zeit über auf der Halbinsel geblieben war, wurde dadurch als ranghöchster anwesender Vertreter zum faktischen Medschlis-Vorsitzenden vor Ort. Auch unter russischer Besatzung versuchte er, die Rechte der Krimtatarinnen und ‑tataren weiterhin so gut es ging zu wahren und die internationale Öffentlichkeit über die Lage seines Volkes auf der Krim zu informieren.
Internationale Bekanntheit schützt den Gefangenen
Im August 2021 nahm Dzhelyal am ersten Treffen der sogenannten Krim-Plattform in Kyjiw teil, einem von Selenskyj initiierten diplomatischen Format, das die Halbinsel langfristig zurück unter ukrainische Kontrolle bringen soll. Möglicherweise war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und dazu führte, dass Dzhelyal im September 2021 festgenommen wurde. In einem fingierten Prozess wurde ihm und vier weiteren Krimtataren vorgeworfen, eine Gasleitung beschädigt zu haben. Etwa ein Jahr später wurde er deswegen zu 17 Jahren Haft verurteilt. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass Dzhelyals politische Tätigkeit den russischen Besatzungsbehörden ein Dorn im Auge war.
Im Juni 2024 wurde Nariman Dzhelyal schließlich zum ersten politischen Gefangenen von der Krim, den die russischen Behörden seit Herbst 2019 freiließen. Dafür ist er besonders Wolodymyr Selenskyj und dem türkischen Präsidenten Erdogan dankbar – genau wie dafür, dass er im Gefängnis einigermaßen normal behandelt wurde. „Im Prinzip war ihnen [den russischen Besatzern] dank der internationalen Aufmerksamkeit klar, wen sie da in den Händen hielten“, sagte Dzhelyal gegenüber ukrainischen Medien. „Ich habe Menschen getroffen, die unter schrecklichen Bedingungen lebten. Sie wurden gefoltert, miserabel mit Nahrung versorgt und überhaupt geschahen Dinge, über die ich bei Gelegenheit berichten werde.“ Im Vergleich dazu könne er sich nicht beklagen, so Dzhelyal.
„Das verzeiht man dir nicht“
Der Krimtatare war während seiner politischen Tätigkeit unter russischer Besatzung nicht zwingend davon ausgegangen, dass er verhaftet werden würde. Dass dies irgendwann passieren könnte, war ihm jedoch klar. „Es gab Leute [...], die in den Propagandamedien offen fragten, warum Nariman noch frei ist“, erinnert er sich. Eine Weile lang wurde er dennoch in Ruhe gelassen. Nach dem er im Sommer 2021 am Gründungsgipfel der Krim-Plattform teilgenommen hatte, habe ihn ein Freund gewarnt: „Was du diesmal getan hast, verzeiht man dir garantiert nicht.“ Trotzdem kehrte Dzhelyal auf die Krim zurück – weil er sich seinem Volk gegenüber dazu verpflichtet fühlte.
Nun bereitet sich der krimtatarische Politiker auf seine neue Rolle als ukrainischer Botschafter in der Türkei vor. Noch wartet er auf die Bestätigung seiner Kandidatur seitens der türkischen Regierung in Ankara. Das dürfte allerdings in diesem Fall lediglich eine Formsache sein. Und aller Voraussicht nach wird Dzhelyal auch in der künftigen Funktion seine Herzensangelegenheit nicht aus den Augen verlieren: den Kampf für die Freilassung weiterer politischer Gefangener auf der Krim.
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