Russlands politische Gefangene im Konflikt mit der Ukraine. Teil 2
Über einhundert ukrainische Staatsbürger werden aktuell in Russland, in den besetzten Gebieten des Donbas und auf der Krim gefangen gehalten. Unabhängige Beobachter bezweifeln die den Gefangenen vorgehaltenen Schuldvorwürfe und sehen ausschließlich politische Motive für die Inhaftierungen. Menschenrechtsaktivisten fordern die Weltgemeinschaft dazu auf, den Druck auf Russland umgehend zu erhöhen, um die unverzügliche Freilassung der Inhaftierten zu erreichen. Von Mykola Mirny
Der Beitrag zeigt anhand ausgewählter Fälle von der Krim, wie die Politik Russlands fingierte und gefälschte Informationen dazu nutzt, um Strafverfahren gegen ukrainische Bürger einzuleiten. Zum ersten Teil geht es hier.
Der Vorwurf ukrainischer Sabotage und Spionage
Ende 2020 wurden 15 Personen unter dem Vorwand der Sabotage und Spionage zu Gunsten der Ukraine inhaftiert. Es handelt sich um Andrij Zachtej, Wolodymyr Dudka, Oleksij Bessarabow, Dmytro Schtyblikow, Hlib Schablij, Hennadij Limeshko, Leonid Parkhomenko, Kostantin Davydenko, Denys Kaschuk, Dmitro Dolhopolow, Anna Suchonosowa, Junus Mascharipow, Iwan Jatskin, Konstantin Schirinha und Halina Dowhopola.
Rechtsexperten dokumentierten bei diesen Fällen illegale Methoden während der Ermittlungen. Folter wurde eingesetzt, um Zeugenaussagen und Geständnisse zu erhalten. Überdies wurde das Prinzip der Unschuldsvermutung verletzt und die erzwungenen „Geständnisse“ in den russischen Staatsmedien als Tatsachendarstellung verbreitet.
Russlands „Gerichte“ fällten 2020 zwei Urteile. Eine Entscheidung betrifft Junus Mascharipov, dessen Gefängnisstrafe zu einer Zwangsbehandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus umgewandelt wurde. Zurzeit entscheidet eine richterlich angeordnete medizinische Kommission alle sechs Monate, ob er weiter in einer Sicherheitsverwahrung in einer psychiatrischen Klinik verbleiben muss. Das zweite Urteil betrifft Denis Kaschuk, der von der „Richterin“ in Armjansk zu einer Haft von drei Jahren und acht Monaten verurteilt wurde.
Die letzte Inhaftierung unter dem Vorwurf der Spionage für die Ukraine erfolgte am 10. März 2021. Der FSB nahm den freiberuflichen Journalisten Wladislaw Jesypenko fest, der für ein Projekt von RFE/RL „Crimea.Realities“ arbeitete. Die Verhaftung erfolgte, nachdem er einen Tag zuvor eine Blumen-Niederlegung am Denkmal des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko gefilmt hatte.
Wladislaw Jesypenko
Die Anwälte Emil Kurbedinov und Alexej Ladin wurden mehrfach nicht zu ihrem Klienten vorgelassen. Stattdessen wurde ihm die Anwältin Wioletta Senegalazowa zugewiesen, die von der Crimean Human Rights Group beschuldigt wird, dass sie Kreml-Häftlinge zu strafmildernden Geständnissen anhält.
„In den politisch motivierten Fällen, in denen Sineglazowa beteiligt war, wurde jedes Mal gefoltert. Deshalb geht es hier nicht nur um die Vertretung der Interessen des FSB, sondern auch um die Verdeckung von Folter“ sagt Olha Skypnyk und fügt hinzu: „Folter ist das Schrecklichste, was die Strafverfolgungsbehörden in den besetzten Gebieten tun. Sie foltern mit Strom, setzen den Verhafteten schrecklichen psychologischen Druck aus, schüchtern mit Vergewaltigung ein, drohen mit Mord an jemandem aus der Familie. Sie wusste darüber Bescheid, schwieg aber und schützte ihre Angeklagten nicht. Sie hat in solchen Fällen nach Folterungen nie eine Klage eingereicht. Sineglazowa hat keine der formellen Schritte unternommen, die jeder Anwalt machen sollte“.
Die bestellte Anwältin legte keine Rechtsmittel gegen die Inhaftnahme des Journalisten ein. Dies erledigte erst der Anwalt Taras Omeltschenko, dem es nach dem propagandistischen ‚Crime 24‘-Interview gelang, Zugang zu Wladyslaw Jesypenko zu bekommen. Wioletta Sіneglazowa hat auf unsere Anfrage hin nicht auf dies Vorwürfe reagiert. Die Ehefrau des Journalisten, Kateryna Jesypenko, erinnert sich an den Anruf vom 16. März 2021, eine Stunde nach der Veröffentlichung der Pressemeldung vom FSB über Jesypenkos Festnahme. Seine Stimme klang „flach und emotionslos“. Er bat sie, ihn mit dem Kind auf der Krim besuchen, weil der FSB-Ermittler Witalij Wlasow ein Treffen in der Untersuchungshaft erlaubte.
„Warum wir diese Gelegenheit nicht nutzen, solange es sie gibt“, sagte er. Die Frau verstand die Worte im Gegenteil, dass man auf dem ukrainischen Festlande bleiben sollte. Laut Skrypnyk, bekommen in solchen „Spionagefällen“ die Verwandten keine Anrufe von den Inhaftierten.
„Dieser Anruf bestätigt, dass der FSB illegale Ermittlungsmethoden anwendet. Der von seiner Familie beauftragte Rechtsbeistand erhält keinen Zugang zu Wladislaw und somit keine Informationen zu seinem Gesundheitszustand. All dies weist auf Folter und psychologischen Druck hin. Die Veröffentlichung eines Propagandavideos des Senders „Crimea 24“ bevor der Fall an das Gericht gesendet wurde, verstößt gegen die Unschuldsvermutung“, teilt Olha Skrypnyk mit. Dem pflichten auch “Reporter ohne Grenzen” bei.
Der Generaldirektor des von Moskau kontrollierten Fernsehsenders “Сrimea 24″ Oleg Krjutschkow interviewte den inhaftierten Journalisten.
„Obwohl der Westen erklärt, dass Russland ein Unrechtsstaat ist, können sich selbst ukrainische Saboteure ruhig mit Journalisten unterhalten. Seit 2014 wurden mehr als zehn ukrainische Spione, Saboteure und Provokateure auf der Halbinsel festgenommen. Einige wurden rekrutiert, um Dokumente zu übermitteln, die ein militärisches Geheimnis über die Aktivitäten der Schwarzmeerflotte enthalten, andere versuchten, die Staatsgrenze zu stürmen, andere planten Terroranschläge auf der Krim. Alle erhielten verdiente Gefängnisstrafen“, sagt Anna Nitschuhowska, die Moderatorin des Senders vor dem Interview.
In der Aufnahme behauptet Jesypenko, er habe „zu seiner eigenen Sicherheit“ einen Sprengsatz in seinem Auto transportiert und er habe gleichzeitig für Crimea.Realities und den ukrainischen Sicherheitsdienst auf der Halbinsel gefilmt. Wie sich später in einer Gerichtsverhandlung herausstellte, wurde der Mann zwei Tage lang gefoltert, sodass er die Verbrechen in dem Interview mit dem Sender „Crimea 24“ gestand.
Der Journalist Mykola Semena von Crimea.Realities, der nach dem politisch motivierten Strafverfahren 2020 nach Kyjiw flüchtete, meint, wenn Jesypenkos journalistische Tätigkeit gegen den Spionagestraftatbestand verstoßen hätte, würde er dann seine Tätigkeit nicht verheimlicht haben? Der FSB wirft ihm vor, dass er Aufnahmen von Orten und Einrichtungen der Versorgung der Bevölkerung und Kundgebungen machte.
Warum sollte er Material dem ukrainischen Geheimdienst übersenden, wenn es durch Crimea.Realities sowieso veröffentlicht werden würde, wundert sich die Ehefrau des Journalisten Kateryna Jesypenko. Sie weist zurück, dass ihr Mann für den ukrainischen Auslandsgeheimdienst arbeitete.
Als der „Oberste Gerichtshof der Krim“ am 6. April 2021 die Klage gegen die Unterbringungsmaßnahme für den Journalisten verhandelte, berichtete Jesypenko über Folterungen mit Strom. Er wurde gezwungen, seinen Körper liegend nur mit den Fäusten abzustützen. Als er sich nicht mehr abstützen konnte, wurde er am ganzen Körper mit Füßen getreten. Darüber hinaus drohte ihm der FSB, dass er ohne Schuldbekenntnis in einer Zelle aufgehängt würde und alles nach einem Selbstmord aussehen werde. Der Journalist erklärte im Gerichtsverfahren, dass er nie vorhatte, einen Selbstmord zu begehen.
Laut Crimea.Realities wurden seit dem Anfang der russischen Aggression in der Ukraine mehr als 50 Journalisten vom russischen Geheimdienst auf der Krim unter Druck gesetzt. 27 Medienschaffende beendeten wegen der Repressalien die Zusammenarbeit mit Crimea.Realities. 29 verließen die Autonome Republik Krim nach Informationen des Redakteurs des Senders Wolodymyr Prytula. Im Zeitraum von Februar 2014 bis September 2019 registrierten die Menschenrechtsaktivisten von Crimean Human Rights Group und dem Menschenrechtszentrum ZMINA 300 Verletzungen gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung von Krim-Journalisten.
Eine weitere Kategorie von politisch motivierten Fällen betrifft das freiwillige Krimtatarenbataillon namens Noman Tschelebidzhichan. Es wurde 2015 vom Besitzer des Fernsenders „ATR“ Lenur Isljamow gegründet. Damals initiierte das Bataillon eine Strom- und- Lebensmittelblockade der Halbinsel zwischen der Krim und dem Gebiet Cherson.
In diesem Bataillon dienen Ukrainer und Krimtataren. Ihre Mitglieder sind Teilnehmer von Anti-Terror-Operationen sowie Krimbewohner, die illegal in die russische Armee einberufen wurden. Seit seiner Gründung laufen in der Ukraine die Diskussionen über das Einfügen des Bataillons in die ukrainischen Verwaltungsstrukturen.
Personen, die sich vor dem FSB zur Teilnahme an einer „nicht im Ausland registrierten Organisation“ (Bataillon) bekennen, erhalten Straffreiheit. Menschen, die sich dazu nicht bekannt haben wie Edem Kadyrow, Baumeister Fevzi Saganji, Friseur Dilyaber Gafarov, Bauer Nariman Mezhmedinov, Militärhilfe in Mamutov, Spedit Medzhit Ablyamitov wurden zu vier bis elf Jahren Haft in einer strengen Strafkolonie verurteilt.
Im Dezember des letzten Jahres verurteilte der illegale „Oberste Gerichtshof“ der Krim Lenur Isljamow in Abwesenheit zu 19 Jahren Haft. Ihm wurde die Gründung des Bataillons vorgeworfen, mit welchem er die Rückkehr der Krim unter die Kontrolle der ukrainischen Behörden vorbereitete. Ebenso warf man ihm die Sprengung einer Stromleitung, die die Krim mit Energie vom ukrainischen Festland versorgte, vor.
Verfolgung von Religionsgemeinschaften
Russland verfolgt alle Religionsgemeinschaften auf der Halbinsel mit Ausnahme der russisch-orthodoxen Kirche. Nach Angaben der ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Ludmila Denisowa sind von den 49 ukrainischen orthodoxen Gemeinden, die zu Beginn der Besatzung tätig waren, nur noch sechs auf der Krim verblieben. Die Besatzungsbehörden besetzten dutzende Kirchen der ukrainisch-orthodoxen Kirche.
Russische Sicherheitskräfte installierten Überwachungskamerasysteme (CCTV) in Moscheen und bestraften das Lesen des Korans und Massengebete jener Imame, die sich weigerten, sich der von Moskau geschaffenen geistlichen Verwaltung der Muslime auf der Krim zu unterwerfen.
Laut Crimean Human Rights Group wurden religiöse Organisationen in den letzten sechs Jahren auf der besetzten Krim mit einer Geldstrafe von fast anderthalb Millionen Rubel belegt. Allein zwischen dem 16. Februar und dem 31. Juli 2020 registrierte das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte 26 Fälle gegen religiöse Organisationen oder Einzelpersonen wegen Proselytismus-Vergehen. Die Verfolgung betraf insbesondere Protestanten, Muslime, messianische Juden und Krishnaisten.
Ebenso verschlechterte sich die Lage der Zeugen Jehovas. Als der Oberste Gerichtshof Russlands diese religiöse Gruppe 2017 als extremistische Organisation einstufte, waren auch 22 ihrer Gemeinden mit etwa 8.000 Gläubigen auf der Krim verboten. Die Sicherheitsstreitkräfte verfolgten nicht nur die Leitungen dieser religiösen Gemeinschaft, sondern alle Mitglieder.
Operative Ermittler unterwandern Gebetsversammlungen von Gläubigen. Sie filmten und zeichneten die Treffen heimlich auf und identifizieren so aktive Gläubige in den Gemeinden. Trotz des Verbotes des Obersten Gerichtshofs versammeln sich die Zeugen Jehovas weiterhin zum Gebet. Ihrer Ansicht nach hat das Gericht kein Recht, sich in ihren Glauben einzumischen.
Das UNHCR berichtete im letzten Jahr von 19 Hausdurchsuchungen von Krimbewohnern, die sich zu ihrem Glauben bekennen. Nach Angaben der Organisation Zeugen Jehovas wurden seit 2018 gegen neun Mitglieder auf der Halbinsel Strafverfahren eingeleitet. Russische Sicherheitskräfte benutzen auch hier in nicht öffentlichen Gerichtsverhandlungen ihre verdeckten Ermittler als geheime Zeugen.
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Mehr Informationen2020 hat die De-facto-Gewalt mindestens sechs Zeugen Jehovas wegen ihrer religiösen Überzeugungen auf der Krim inhaftiert. Unter ihnen sind Jewhen Zhukow, Wolodymyr Maladyka, Ihor Schmidt, Wolodymyr Sakada. Wiktor Staschevskij, Serhijj Filatow und Artem Gerassimow, die bereits bis zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurden.
Folter und Druck
Olha Skrypnyk unterscheidet zwei Arten der Folter auf der Krim – jene während der Ermittlungen und jene in den Strafkolonien.
Wenn es keine Beweise für eine Schuld gibt, foltern FSB-Ermittler die Menschen, um ein Strafverfahren herbeiführen zu können. Am grausamsten seien die ersten Tage nach der Inhaftierung. Während der Festnahme werden Menschen geschlagen. Dann verwenden die Sicherheitsdienste üblicherweise Foltermethoden mit elektrischem Strom und gestellte Erschießungen. Sie schließen die elektrischen Kontakte am Kopf, an den Fingern, an den Genitalien oder auch am Anus an. Die Menschen werden auf ein Feld oder in den Wald gebracht, wo man ihnen eine Waffe an den Kopf hält.
„Russische Sicherheitskräfte greifen auf diese Art von Folter zurück, um möglichst wenige Spuren am Körper zu hinterlassen. Unaufmerksame Betrachter erkennen dies meist nicht, dennoch gibt es Anzeichen dafür. Wenn man sich zum Beispiel das Propagandavideo des TV-Senders „Crimea 24“ mit Jesypenko anschaut, dann sieht man, wie er in einer ungewöhnlichen Haltung sitzt, sein geschwollenes Gesicht und seine kurzen Sätze deuten darauf hin, wie schwierig ihm das Reden fällt „, sagt der Menschenrechtsaktivistin Skrypnyk.
Im Informationsantrag an den Internationalen Strafgerichtshof legten die Menschenrechtsorganisationen Global Rights Compliance und Zentrum für Bürgerrechte die Beweise für den Einsatz eines Elektroschockers, Fingerbrüche sowie Nieren- und Leberabstoßungen vor. Ukrainische Bürger wurden oft bis zum Bewusstseinsverlust geschlagen.
Nach der Analyse der Gerichtsentscheidungen kam die Crimean Human Rights Group zu dem Schluss, dass Russland im Allgemeinen etwaige Folteranschuldigungen seiner Sicherheitskräfte nicht wirklich untersucht. Es fehlt vor allem an relevanten Artikeln im russischen Strafgesetzbuch. Wenn ein Strafverfahren gegen einen Peiniger initiiert wird, verwendet man meist nur den Artikel zur Überschreitung von Dienstbefugnissen.
Besatzungsrichter verhängen in diesem Zusammenhang nur Urteile mit einer Bewährungsstrafe, die Strafmaße liegen deutlich unter denen, welche vom Gesetz vorgesehen sind. Menschenrechtsaktivisten der Krim weisen darauf, dass kein einziger Fall von Folter vom FSB Ermittler und Angestellten des „Innenministeriums der Krim“ vor Gericht gelandet ist, während politische Gefangene in ihren Zeugenaussagen betonen, dass der FSB die grausamsten Folterungen begeht. Russische Strafverfolgungsbehörden leiten grundsätzlich keine Strafverfahren wegen Foltervorwürfen der Krim-Menschenrechtsgruppe und Kreml-Häftlingen ein.
Die Crimean Human Rights Group macht deutlich, dass Straflosigkeit die Grundlage für die Folterpraxis durch die Sicherheitskräfte auf der Krim sei. Die Sprecherin der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Anna Generalowa, ignorierte die ZMINA Kommentaranfrage zu den Erkenntnissen der Krim-Menschenrechtsaktivisten.
Auch das Verschwinden von Personen, welche von Menschenrechtsorganisationen dokumentiert wurden, werden durch Russland nicht untersucht. Die Verantwortlichen für diese Verbrechen sind weder identifiziert noch vor Gericht gestellt worden.
„Russische Ermittler schließen diese Fälle regelmäßig ab, und Angehörige werden gezwungen, die psychologische Barriere zu überwinden, um die De-facto-Behörden zu zwingen ihre Ermittlungen wieder aufzunehmen. Ukrainische Strafverfolgungsbehörden haben Verfahren eröffnet, aber sie verfügen über keinen Zugang zum besetzten Gebiet. Es sind nicht nur 15 Leute. Sie haben Frauen, die auf sie warten, Kinder …“, sagt Anastasia Martynowska, Menschenrechtsaktivistin der Ukrainian Helsinki Human Rights Union in einer Ausstellung der Parlamentsbibliothek in Kyjiw. Sie kann dabei ihre Tränen nicht zurückhalten.
Die Menschenrechtsaktivistin Anna Martynowska während der Ausstellung „15 gestohlene Leben“ in der Nationalbibliothek namens Jaroslaw der Weise, 25. Februar 2021
Die Strafverfolgungsbehörden verschließen sich vor der Tatsache, dass russische Sicherheitskräfte, Russlands paramilitärische Gruppierung wie die “Selbstverteidigung der Krim”, an solchen Verbrechen beteiligt sind.
Olha Skrypnyk ist der Ansicht, dass sowohl russische Richter als auch Richter in den besetzten Gebieten in den politisch motivierten Fällen zur Verantwortung gezogen werden sollten. Ihre Menschenrechtsorganisation listet solche Richter auf und fordert demokratische Regierungen auf, Sanktionen gegen sie zu verhängen.
„Es ist aber kein einfacher Dialog, Wenn wir mit unseren westlichen Partnern darüber sprechen, ist es schwierig für sie, sich so etwas vorzustellen. Sie denken, dass der Richter selbst unmittelbar an Folter oder Inhaftierung teilnehmen muss. Aber wenn man es sich genauer anschaut, sind solche Richter in diesen Strafverfahren ein Element des Verfolgungsapparates. Sie alle sind dem Kreml treu. Keiner von ihnen erfüllt die Standards ordentlicher Rechtsprechung. Wir haben bewiesen, dass diese Richter von Folter wussten, aber den Opfern nicht erlaubten, während der Sitzungen darüber zu berichten. Sie erfüllen die Funktionen der Rechtsprechung nicht“, erklärt Skrypnyk.
Folter in den Strafkolonien, erläutert die Menschenrechtlerin, hängt von dem jeweiligen Regime vor Ort ab. Manchmal bezeichnet man Gefängnisse als „rot“ und „schwarz“. Das System und die Beziehungen in der Kolonie werden von der Verwaltung direkt oder von der kriminellen Gemeinschaft beeinflusst. Auf jeden Fall ist die Haltung gegenüber den Bürgern der Ukraine strenger.
Nach dem Ankommen in die Strafkolonie lässt man sie durch einen „Korridor des Mobbings“ gehen oder sie werden anderen Folterarten unterworfen, um sie ihrer Würde zu berauben, ihren Willen zu brechen, sodass sie sich den subkulturellen Prinzipien unterwerfen. Damit die Ukrainer keine Informationen über die Strafkolonie weitergeben, werden sie vor konsularischen oder familiären Besuchen brutal geschlagen, des Schlafes, wärmender Kleidung oder der Mahlzeiten beraubt.
Zahlreiche Verteidiger berichteten auch über Vorverurteilungen gegenüber den politischen Gefangenen in den Untersuchungshaftanstalten und Strafkolonien. Oftmals werden sie ohne triftigen Grund in Einzelhaft verlegt. So erwischten die Gefängniswärter in Rostow am Don Eldar Kantimirow beim Namas (Gebet). Aus diesem Grund, wie der Anwält Ajder Azamatow und Alexej Ladin berichtet, wurde er für sieben Tage in eine Einzelhaftzelle geschickt. Seit mehreren Monaten kann Tejmur Abdullajew die Isolierzelle der Strafkolonie Nr. 2 in der Republik Baschkortostan nicht verlassen. Die Gefängnisverwaltung und der Bundesstrafvollzug beantworteten weder Anfragen der ZMINA noch des Anwalts des Häftlings zu den Gründen der Verlegung. Ebenfalls befanden sich Muslim Alijew, Andrij Kolomijets, Walentin Wyhywskij und Emir-Usein Kuku in Einzelhaft.
Menschenrechtsanwälte der Krim halten die unangemessenen Haftbedingungen in der Untersuchungshaftanstalt Simferopol für eine Folter. Anwalt Emil Kurbedinow bringt zum Ausdruck, dass russische Ermittler den Krimbewohnern mit der Inhaftierung in dieser Anstalt drohen, falls sie sich zu den gemachten Vorwürfen nicht schuldig bekennen.
Politische Gefangene werden aufgrund der terroristischen Anschuldigungen zu gerichtsmedizinischen Untersuchungen in psychiatrische Kliniken eingewiesen. So erging es dem ehemaligen Vorsitzenden der Mejlis der Krimtataren Ilmi Umerow, Junus Mascharipow, Ali Fedorow, Lenur Sejdametow, Azamat Ejupow, Ivan Jatskin, Rustem Sejtmemetow, Ruslan Sulejmanow und Oleksandr Sizikow.
Alle von Moskau kontrollierten gerichtlichen Instanzen unterstützten die Entscheidung über beispielsweise Sizikows psychiatrische Untersuchung.
„Ohne Hilfe kann er sich nicht bewegen, sich selbst versorgen oder grundlegende Dinge tun... Wenn bei ihm Tests durchgeführt wurden, versteht er nicht mehr, ob es sich um eine Analyse oder eine Injektion handelt. Sizikow kann auch nicht mehr beurteilen, ob seinem Essen Medikamente beigefügt werden“, sagt Edem Semedljajew, einer der Anwälte, die den blinden Sizikow in einer psychiatrischen Anstalt besuchten. Krim- und russische Anwälte versuchen abwechselnd, politische Gefangene in Gefängnissen zu besuchen. Sie hoffen, dass so Kreml-Häftlinge vor Verletzungen ihrer Rechte bewahrt werden.
Unangemessene Haftbedingungen und mangelhafte Gesundheitsvorsorge
Die Strafkolonien der Halbinsel befinden sich in Simferopol, Sewastopol und Kertsch. In Simferopol liegt zusätzlich das einzige Untersuchungsgefängnis der gesamten Krim, welches nach Angaben des Leiters des Bundesstrafvollzugs, Alexandr Kalaschnikow, völlig überfüllt ist. So lebt beispielsweise Dzhemil Gafarow mit 10 weiteren Gefangenen in einer Zelle, welche nur über sechs Betten verfügt. Das UNHCR dokumentierte Aussagen politischer Häftlinge, wonach es ihnen in den Gefängnissen an Nahrung, Heizung und Belüftung mangelte.
Untersuchungsgefängnis Simferopol
Darüber hinaus leben die Menschen unter äußerst schlechten hygienischen Bedingungen, sowohl im Simferopoler Untersuchungsgefängnis als auch in den Gefängnissen auf dem russischen Festland. Die Zellen teilen sie sich oft mit Mäusen und Wanzen. Das Gefängnispersonal führt keine Schädlingsbekämpfung in den Zellen durch.
In einer feuchten mit Schimmel befallenen Zelle im Untersuchungsgefängnis Simferopol verschlechterte sich die Asthmaerkrankung von Timur Jalbakow.
„Die Zellendecke ist schwarz vor Schimmel, so dass Timur zu keuchen begann. Der Arzt kam, brachte ihn auf den Flur, doch sobald er wieder einigermaßen atmen konnte, wurde er wieder zurück in die Zelle gebracht. Ich ging zum Gefängnisleiter und bat darum, ihn in eine andere Zelle zu verlegen. In dieser Haftanstalt herrschen schlechte Bedingungen. Die Wände und die Decken sind feucht. Er kann dort nicht atmen“, sagte die Frau des Krimtataren Alije Muzhdabajewa nach einem Treffen mit ihrem Mann.
Die Bewohner des besetzten Gebiets befinden sich unter besonderem Schutz gemäß des Genfer Abkommens zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Dieses Dokument erlegt dem Besatzungsland eine Reihe von Pflichten auf. Unter ihnen jene “... im Benehmen mit den Landes- und Ortsbehörden die Einrichtungen und Dienste der Krankenhauspflege und ärztlichen Behandlung sowie das öffentliche Gesundheitswesen im besetzten Gebiet sicherzustellen und weiterzuführen, insbesondere durch Einführung und Anwendung der notwendigenVorbeugungs- und Vorsichtsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und Seuchen”.
Ukrainische Menschenrechtsaktivisten sind überzeugt, dass Russland seinen Verpflichtungen während der Corona-Pandemie nicht nachgekommen ist. Darüber hinaus trug sie durch Militärkundgebungen zur Ausbreitung von COVID-19 bei. Die De-facto-Gewalt hat den Verkehr über die Kertsch-Brücke sowie den Flugverkehr mit russischen Regionen, die besonders von der Infektion betroffen waren, nicht eingestellt. Überdies hat Russland, nach Angaben des ukrainischen Luftverkehrsdienst, die Anzahl der Flüge auf die Krim erhöht.
Die Durchschnittsanzahl betrug von Januar bis September 2020 etwa 100 Flüge pro Tag, was eine Steigerung um 11,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bedeutet. Die Corona-Pandemie verstärkt obendrein die schlechte Lage der illegal gefangenen ukrainischen Bürger auf der Krim, im Donbass und in Russland. Darauf weist auch die UN-Generalversammlung hin, die ihre Besorgnis über überfüllte Zellen, den Mangel an notwendiger medizinischer Versorgung zum Ausdruck bringt.
Die russische Justiz ignoriert die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und des Europarates hinsichtlich des Häftlingsschutzes während der Pandemie. Die Gerichte lockern die Untersuchungshaft für politische Gefangene nicht. Sie verbleiben weiterhin in Untersuchungshaftanstalten, anstatt sie alternativ unter Hausarrest zu stellen. Behinderungen sind auch kein Hindernis, um Kreml-Häftlinge während der Pandemie in Haftanstalten zu halten.
Der Crimean Human Rights Group zufolge erhalten die Insassen im Simferopoler Untersuchungsgefängnis keinen Mundschutz, keine Desinfektionsmittel sowie keine COVID-19-Tests. Walentyn Wyhiwskij, Hennadij Lymeshko, Iwan Jatskin, Ruslan Sulejmanow, Alim Karimow, Osman Seitumerow, Muslim Alijew, Tejmur Abdullajev, Emir-Usein Kuku, Sejran Khajredinow erhielten keine medizinische Hilfe, trotz COVID-19-Symptomen. Emil Zijadinow, Ruslan Zejtullajew, Server Mustafajew zeigten Coronavirus-Symptome, die Gefängnisärzte testeten sie nicht und organisierten keine ordnungsmäßige medizinische Versorgung, so die Aktivisten der Krim-Solidarität.
Mindestens acht Häftlinge, die von der Krim in die Haftanstalt in Nowocherkassk in der Region Rostow verlegt wurden, behaupteten, dass sie trotz frostiger Temperaturen keine Decken erhielten und sich in der Nacht mit Mänteln zudeckten. In mindestens zwei Fällen brachten Gefängniswärter kranke Häftlinge aus der Untersuchungshaft in die Gerichtssitzungen trotz ihres kritischen Gesundheitszustands und wiederholtem Bitten einen Arzt zu rufen.
Ein großes Problem bei den Kreml-Häftlingen ist das Fehlen regelmäßiger medizinischer Versorgung und Operationen. Zahlreiche Anwälte politischer Gefangener berichten, dass es keine medizinische Versorgung für Asan Janikow, Jamil Gafarow, Enwer Omerow und Vadim Bektemirow gab.
Jamil Gafarow besitzt die Behindertenstufe drei, da er an einer chronischen Nierenerkrankung und einer damit verbundene Herzerkrankung leidet. Sein Rechtsanwalt Rifat Jahin sagt, dass sich das Rheuma seines Mandaten während der Haft weiter verschlimmerte. Auch leide er unter chronischen Nierenerkrankungen sowie den Schmerzen des Tumors an seinem Bein. Der Anwalt und sein Mandant beschwerten sich über das Ausbleiben von medizinischer Behandlung. Die Gefängnisärzte hielten dem Anwalt Informationen über Gafarows Gesundheitszustand und Ergebnisse medizinischer Tests vor.
Ein anderer Kreml-Häftling, Ivan Jatskin, hat chronische Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die eine umfassende Untersuchung außerhalb des Untersuchungsgefängnisses in einer Spezialklinik erfordern.
„Er macht sich Sorgen über die Schmerzen in seiner Brust. Nach einer Verletzung wurde er vier Monate nicht ordentlich untersucht“, sagt sein Anwalt Mykola Polozw.
Im Dezember 2020 erklärte der Anwalt Rustem Kjamiljew, dass ein Wärter des Untersuchungsgefängnisses in Rostow am Don seinen Mandanten, Eskender Sulejmanow, in eine Zelle mit einem Insassen mit offener Tuberkulose verlegt wurde. Auch in diesem Fall wird dem Verteidiger die Einsicht in die Krankenakte verwehrt.
Ein anderer politischer Gefangener, Timur Abdullajew, hat eine zerebrale Zirkulationsstörung. Seine Gliedmaßen, der rechte Teil seines Gesichts sind abgestorben. Er leidet zusätzlich an starken Kopfschmerzen, Tinnitus und Kopfgeräusche.
„Timur hat auch chronische Hepatitis C, einen kranken Magen. Seit seiner Kindheit ist er allergisch“, sagt seine Mutter Dilar Abdullajewa. Ihr zufolge erhält er keine medizinische Versorgung, „weil er sich in Einzelhaft befindet“.
Russland bestreitet seine Verantwortung für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen auf der Krim und wiederholt ständig die Thesen über die Rechtmäßigkeit des „Referendums“ und „des Beitritts der Halbinsel zur Russischen Föderation“.
Während der Vorstellung des UNHCR-Berichts zu den Verletzungen von Justizstandards in den besetzten Gebieten wies Dmitri Kostjutschenko, ein Berater der russischen Botschaft in Kyjiw, alle Schlussfolgerungen des Dokuments über die Justiz auf der Krim zurück.
„Das Mandat des UNHCR gilt nicht für die Republik Krim und die Stadt Sewastopol. Wir weisen alle Anschuldigungen, Erklärungen und die Terminologie, die Russland als Besatzungsland und die Krim als besetztes Gebiet angehen, entschiedend zurück“, sagte er.
Laut Matwijtschuk ist die Lage der Gefangenen im besetzten Teil der Regionen Donezk und Luhansk noch schwieriger. Das Rote Kreuz und andere internationale Organisationen haben keinen Zugang zu ihnen. Während der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk bestätigen Russland und Vertreter der „Volksrepubliken“ die Namen der zivilen Festnahmen und Kriegsgefangene nicht. “Dem Zentrum für Bürgerrechte sind mindestens 15 Fälle bekannt, in denen Verwandte Strafvollzungsunterlagen von den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk erhalten haben, aber in den Minsker Verhandlungen behaupten ihre Vertreter und Russland, dass der Aufenthaltsort dieser Häftlinge unbekannt ist“.
Was ist zu tun?
Die Verhandlungen mit Russland über die Freilassung von Kreml-Häftlingen werden eingefroren. Dies stellt das Expertenumfeld um Oleksij Reznikow, Vizepremierminister und erster stellvertretender Leiter der ukrainischen Delegation bei der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk sicher.
Oleksij Reznikow
An verschiedenen Orten fordern Menschenrechtsaktivisten all jene, denen die Situation nicht gleichgültig ist dazu auf, Petitionen zu unterzeichnen und initiieren immer mehr Kampagnen für die Freilassung politischer Gefangener. Doch statt eines Fortschrittes in dieser Frage wächst eher der Frust.
„Die Verhandlungen werden im Normandie-Format auf der Ebene politischer Berater fortgesetzt. Es gab Treffen sowohl offline in Berlin als auch online. Seit Juli ist der Friedensprozess auf der Minsker Plattform jedoch praktisch blockiert. Alle Diskussionen wurden unterbrochen. Es gibt Streit und zweifelhafte Forderungen. Zum Beispiel: „Lasst das ukrainische Parlament einen Erlass treffen, die die Minsker Vereinbarungen anerkennt, und Präsident Zelenskyj wird sie unterzeichnen. Wir schicken euch den vorgeschriebenen Text des Erlasses“, erklärte Vizepremierminister im Interview mit Voice of America.
„Wir entgegnen immer, dass die Minsker Vereinbarungen kein internationaler Vertrag sind. Sie sind nicht bindend. Das sind politische und diplomatische Vereinbarungen. Die russische Duma hat sie beispielsweise nicht ratifiziert. Das bedeutet aber nicht, dass die Ukraine auf die in den Minsker Vereinbarungen festgelegten Prinzipien und Grundlagen verzichtet“, fügt Reznikow hinzu.
Die Unterstützung in der UN-Vollversammlung für eine Krim-Resolutionen nimmt allmählich ab. Experten und Vertreter der ukrainischen Behörden argumentieren jedoch, dass es bei der Besatzung der Krim nicht nur um die Ukraine geht. Das ist ein geopolitisches Sicherheitsproblem. Letztendlich verwandelt Russland die Halbinsel buchstäblich „in eine große Militärbasis“, welche die NATO-Länder bedroht. Sie verbinden die Frage der politischen Gefangenen eng mit der Wirksamkeit der Strategien hinsichtlich Russlands Rückkehr in die Hände des Völkerrechts.
Eine gemeinsame Strategie gegenüber Russland, wie Oleksandra Matviychuk betont, ist in demokratischen Ländern immer noch nicht vorhanden. Ihr zufolge sollten Sanktionen nur ein Baustein aus vielen Elementen dieser Strategie sein.
Im vergangenen Dezember hat die EU den ersten Teil des neuen Mechanismus “Global Human Rights Sanctions“ verabschiedet. Dank ihm wird die Europäische Union weltweit Sanktionen gegen Menschenrechtsverletzungen verhängen. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba ist überrascht, dass die EU Russland wegen der illegalen Inhaftierung des russischen Oppositionsführers Nawalny sanktioniert, aber nicht wegen der Menschenrechtsverletzungen auf der Krim.
Das ukrainische Außenministerium hat zusammen mit der Staatsanwaltschaft der Autonomen Republik Krim eine Liste von Personen zusammengestellt, die sie für schuldig befunden haben, Menschenrechtsverletzungen auf der Halbinsel zu begehen. Das Ministerium fordert Brüssel regelmäßig auf, diese Liste bei Sanktionen gegen Russland zu verwenden. Die EU-Vertretung in der Ukraine teilte ZMINA mit, dass die EU-Mitgliedstaaten jedem Sanktionsfall einzeln und nach dem Grundsatz der Einstimmigkeit entscheiden. Die Pressestelle verzichtete auf weitere Kommentare zu der von der Ukraine geforderten Sanktionen.
Der Vorsitzender des Krimtatarischen Volkes Refat Tschubarow bezeichnet die Krimbesetzung als Hauptquelle der grausamen Menschenrechtsverletzungen auf der Halbinsel. Um dem ein Ende zu setzen, muss die Befreiung der Halbinsel thematisiert werden. Davon ist auch die Gemeinschaft der Menschenrechtsaktivisten in der Ukraine überzeugt. Sie erklärt, dass nichts anderes die Bewohner der besetzten Gebiete vor politischer Verfolgung schützt und Russland immer mehr ukrainische Bürger festgenommen werden.
Refat Tschubarow
„Gegenwärtig ist für mich nicht die Hauptfrage, wer in der politischen Verfolgung schuldig ist, sondern wie die territoriale Integrität wiederhergestellt werden kann, damit diese Repressionen aufhören. Die Krimtataren werden auf der Krim als Geiseln genommen. Wir haben kein anderes Land. Wir taten seit Jahrzehnten unser Bestes in der UdSSR, um nach Hause zurückzukehren zu dürfen. Von dem Vielmillionen-Volk sind noch 300 000 Krimtataren geblieben“, sagt Tschurow.
Er verweist auf eines der Hauptprobleme der internationalen Gemeinschaft in der Krim-Frage – nämlich das Fehlen eines Mechanismus, der Russland zwingen würde, die Krim zu verlassen. Das Land hat alle Beschlüsse, Appelle oder Resolutionen der UN-Generalversammlung, des UN-Sicherheitsrates, der OSZE, des Europarats, der EU und des Internationalen Gerichtshofs ignoriert.
„Alle diese Organisationen haben kategorische Entscheidungen auf der Grundlage des Völkerrechts getroffen. Sie forderten die Freilassung des besetzten Gebiets, da die Krim ukrainisches Territorium ist. Wenn diese Institutionen abstimmen und solche Entscheidungen treffen, sind sie für deren Umsetzung auch verantwortlich. Aber internationale Organisationen haben keine geeigneten Maßnahmen dafür“, erläutert Tschubarow. Ihm zufolge ist dies der Grund, der die Mejlis dazu veranlasste, an dem Marsch auf die Krim „Die Welt – Gegen Gewalt und Besatzung. Marsch der Würde“ vorzubereiten.
„Wir beobachten, wie Russland als ständige Vetomacht im UN-Sicherheitsrat einlenkt, wenn die OSZE Konsensentscheidungen trifft. Wir können es nicht selbst erledigen. Wir gehen auch davon aus, dass die Krim ukrainisches Staatsgebiet ist. Lassen Sie uns unsere Entscheidung und unsere Überzeugungen erfüllen. Alle, die auf internationalen Plattformen abgestimmt haben, gehen zusammen von einem durch Unrechtgeteilten ukrainischen Territorium aus. Was sagen Sie? Findet dort eine unrechtmäßige Besatzungsmacht? Dann ergreifen Sie bitte geeignete Maßnahmen, die die Entscheidungen der internationalen Organisationen durchsetzt. Wenn Sie als OSZE-Parlamentarier Angst haben, mit uns auf die besetzte Krim zu gehen, dann ignorieren Sie die durch die OSZE verabschiedeten Entscheidungen. Dasselbe gilt für den UN-Sicherheitsrat. Deshalb bezeichnen wir dieses Vorhaben als Marsch der Würde. Wir alle müssen unsere Würde wiederherstellen. Das Problem ist nicht nur die russische Aggression, sondern auch die Tatsache, dass diese Bedrohung über der ganzen Welt schwebt und die Welt nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Und die Weltgemeinschaft schafft stattdessen nur Aufrufe und Erklärungen“, reagiert RefatTschubarow emotional. Die Mejlis hat die Pläne für den Marsch der Würde nicht aufgegeben. Dieser wird umgesetzt, sobald sich die Coronavirus-Pandemie abschwächt.
Unterdessen haben der ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj und das Außenministerium die Krimplattform initiiert, die an der Befreiung der Krim arbeiten soll. Der erste Gipfel findet am 28. August 2021 statt, zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine.
Diese Plattform wird drei Ebenen haben – die Ebene der Staats- und Regierungschefs, des Parlaments sowie der Experten. Die Ukraine hofft auf eine breite internationale Unterstützung und benennt fünf vorrangige Bereiche: Nichtanerkennungspolitik, Sicherheit, Effizienz der Sanktionen, Schutz der Menschenrechte und die Überwindung der negativen Auswirkungen der temporären Besetzung der Krim auf Wirtschaft und Umwelt. Wolodymyr Selenskyj hat bereits die Nationale Strategie für die Befreiung und Reintegration der Krim unterzeichnet, die darauf hinweist, dass der Kurs der Ukraine zur Wiederherstellung der territorialen Integrität unverändert ist.
Inwieweit die internationale Gemeinschaft jedoch bereit ist, sich an der Befreiung der Krim und der Rückkehr Russlands in die Vorgaben des Völkerrechts anzuschließen, bleibt offen. Russland erklärte unterdessen, es betrachte die Teilnahme der Länder an der Krim-Arbeitsgruppe als „Bedrohung für seine territoriale Integrität“.
Rebat Tschubarow fordert die ukrainischen Behörden auf, den internationalen Partnern entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen. Er spricht unter anderem von einem vollständigen Embargo gegen russische Energieträger.
„Es gibt kaum noch konkrete Ansätze, um Russland an die Einhaltung der Grenzen des Völkerrechts zu zwingen, mit Ausnahme einiger weniger. Sie sind alle in der Wirtschaft, und dann, Gott bewahre, im Militärwesen. Um eine militärische Eskalation zu verhindern, müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um sicherzustellen, dass unsere Partner schärfere Sanktionen gegen Russland ergreifen“, erklärte ein Führer der Krimtataren.
Olha Skrypnyk stimmt auch mit Tschurow überein. Sie ruft dazu auf, nicht zu vergessen, dass die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg so aufgebaut wurde, dass die Menschenrechte der Völkergemeinschaft zugrunde liegen. Ihrer Meinung nach sind Projekte wie Nord Stream 2 nicht die passende Antwort auf die russische Aggression nach der Besetzung der Krim. Skrypnyk ist davon überzeugt, dass Russland sich letztendlich nicht nur auf Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine beschränken wird.
„Russland ist bereits eine Bedrohung für die Wirtschaft auch anderer Länder und eine Gefährdung für die Sicherheit in der Welt. Es führt Hybridoperationen nicht nur auf dem Territorium der Ukraine durch. Ese nähert sich zunehmend auch den europäischen Ländern. Seine Spezialagenten sind in vielen EU-Ländern tätig, die ihre Wirtschaftsbeziehungen zur russischen Föderation aufrechterhalten wollen, oder sie mischen sich in die US-Wahlen ein. Das liegt daran, dass weder Wladimir Putin noch seine Entourage erhebliche wirtschaftliche Verluste erleiden“, betont die Menschenrechtsaktivistin.
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