Kriegs­pro­pa­ganda: Böse Mächte sind humorlos

Foto: Vuk Valcic /​ Imago Images

Im Krieg Russ­lands gegen die Ukraine ver­brei­ten beide Seiten Pro­pa­ganda, heißt es immer wieder. Lügen Russen und Ukrai­ner im glei­chen Maße? Wird der Gegner ver­leum­det oder nur ver­spot­tet? Ein Essay von Chris­toph Brumme.

Wie Russ­lands Pro­pa­ganda die Köpfe ver­ne­belt – dafür gibt es seit Jahren unzäh­lige Bei­spiele. Viele Ukrai­ner machen sogar die Erfah­rung, dass ihre Ver­wand­ten in Russ­land den Pro­pa­gan­dis­ten im Fern­se­hen mehr glauben als ihren eigenen Müttern oder Brüdern. Obwohl die Russen ihrer Regie­rung sonst nichts glauben – keine Sta­tis­tik, keine Erfolge, wie etwa im Gesund­heits­we­sen. Auf die Ukraine pro­ji­zie­ren sie, was sie über ihre eigene Macht min­des­tens denken müssten, wenn nicht sagen sollten.

Denn nicht in Kyjiw regiert eine „faschis­ti­sche Junta“, eine ille­gi­time tota­li­täre Macht mit einer völ­kisch-ras­sis­ti­schen Staats­ideo­lo­gie – wie Russ­lands Pro­pa­ganda Tag und Nacht behaup­tet – sondern in Moskau. Nicht die ukrai­ni­sche Armee führt einen geno­zi­da­len Krieg, sondern die rus­si­sche. Die rus­si­sche Armee „befreit“ rus­sisch­spra­chige Ukrai­ner, indem sie sie tötet. Die ukrai­ni­sche Armee wird auch von rus­sisch­spra­chi­gen Ukrai­nern als Befreie­rin begrüßt. In der Ukraine leben rus­sisch­spre­chende Men­schen nicht gefähr­lich, aber in Russ­land ukrainischsprechende.

Ein kürz­lich vom ukrai­ni­schen Geheim­dienst abge­hör­tes Gespräch zwi­schen einem rus­si­schen Front­sol­da­ten und seiner Mutter zeigt exem­pla­risch, zu welcher Ver­wir­rung die Pro­pa­ganda führen kann und welche Art von Schi­zo­phre­nie sie erzeugt. Diese Mutter bestärkt ihren Sohn, in der Ukraine wei­ter­zu­kämp­fen, obwohl der ihr von der schwie­ri­gen Lage an der Front bei Cherson berich­tet. Drei seiner Kame­ra­den wurden von “Fri­endly Fire” stark ver­letzt, und sie haben nur alte Waffen, die schon im Krieg der Sowjet­union gegen Afgha­ni­stan benutzt wurden. Doch die Mutter erklärt ihrem Sohn, wie schlecht es den Feinden Russ­lands geht.

„Europa leidet schon, das Brot kostet dort bereits das Zwan­zig­fa­che, man ver­bie­tet überall, das Licht ein­zu­schal­ten, sie haben keinen Strom, nichts zu essen, Son­nen­blu­menöl kostet so viel wie ein halbes Auto, deshalb gibt es in Russ­land kein Son­nen­blu­menöl mehr. Das Inter­es­sante ist aber: In der Ukraine ist Krieg, aber bei uns in Russ­land sind die Preise so hoch, als wäre bei uns Krieg. Butter und Son­nen­blu­menöl sind so teuer, als würden wir im Westen leben“.

Die Wahr­heit spricht für sich

Die Ukrai­ner müssen ihren Feind nicht dämo­ni­sie­ren und ihm keine bösen Absich­ten unter­stel­len, denn alle Welt sieht seine Ver­bre­chen und hört seine Lügen. Die Wahr­heit spricht eigent­lich für sich selbst. Selen­skyjs „Chef­be­ra­ter“ Andrej Smirnow hat im Gespräch mit dem WELT-Chef­re­por­ter Steffen Schwarz­kopf die Frage „wütend“ zurück­ge­wie­sen, ob die ukrai­ni­sche Regie­rung Pro­pa­ganda betreibe. „Warum sollten wir lügen? Das macht doch gar keinen Sinn! Die Russen nutzen Pro­pa­ganda, aber nicht wir. Aus ganz Europa waren Poli­ti­ker hier, sie haben mit eigenen Augen gesehen, was hier pas­siert. Die Bom­bar­de­ments, die toten Zivilisten!“

Smirnow ist stu­dier­ter Jurist, er defi­niert Pro­pa­ganda als Lüge. Der deut­sche Repor­ter aber bewer­tet es schon als Pro­pa­ganda, dass der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj in seinen täg­li­chen Anspra­chen kaum das Wort Angst benutze. Er rufe statt­des­sen „zum Kämpfen und Durch­hal­ten auf“. Aber ukrai­ni­sche Sol­da­ten haben sehr wohl Angst, das haben einige ihm erzählt, so Schwarz­kopf in seiner Repor­tage „Bilder, die die Welt (nicht) sehen soll“. In Kyjiw höre man ungern, was bei­spiels­weise der Soldat Olek­sandr sagt. „Ich will nicht sterben, ich will, dass das vor­bei­geht. Um ehrlich zu sein: Nur ein Idiot würde behaup­ten, er habe keine Angst.“

Für Ukrai­ner ist die Angst keine Sen­sa­tion und kein Geheim­nis. Wahr­schein­lich hatten alle in diesem Krieg schon mal Angst, bei­spiels­weise bei Luft­alarm, in Sorge um Ange­hö­rige und natür­lich umso mehr bei direk­tem Beschuss. Es ist ganz normal, dass Sol­da­ten im Urlaub Ver­wand­ten und Freun­den von ihrer Angst erzäh­len, von zit­tern­den Händen beim Aus­wech­seln eines Gewehr­ma­ga­zins bei­spiels­weise. Es ist auch ein Stan­dard­ver­fah­ren bei der Armee, dass Sol­da­ten nach langen Front­ein­sät­zen psy­cho­lo­gisch begut­acht werden und je nach Wunsch und Bedarf The­ra­pien erhal­ten. Das habe ich unter anderem bei Gesprä­chen mit Front­kämp­fern erfahren.

Aber Angst ist auch ein scham­be­setz­tes Gefühl. Es kostet Kraft, darüber zu reden kann – ins­be­son­dere, wenn sich dieses Gefühl über Monate hinweg wie­der­holt. Die Kraft wird jedoch zum Über­le­ben gebraucht, für andere wich­tige Auf­ga­ben. Würde man dieses Gefühl der Schwä­che jetzt aus­gie­big beleuch­ten und poli­tisch zu bewer­ten, würde das nur dem Feind helfen. Deshalb soll der Prä­si­dent keine öffent­li­chen The­ra­pie­sit­zun­gen abhal­ten, sondern seine Gefühle beherr­schen, Mut machen, Opti­mis­mus ver­brei­ten und mit kühlem Ver­stand kluge Ent­schei­dun­gen treffen. So, wie die Sol­da­ten an der Front und Ärzte und Kran­ken­schwes­tern beim Ampu­tie­ren zer­fetz­ter Glied­ma­ßen. Oder frei­wil­lige Helfer, die Brot und Wasser in umkämpfte Gebiete bringen.

Pro­pa­ganda vs. Kriegslist

Mora­lisch gesehen hat der deut­sche Chef­re­por­ter natür­lich recht, der für seine Kriegs­be­richte aus der Ukraine für den 23. Deut­schen Fern­seh­preis in der Kate­go­rie „Beste per­sön­li­che Leis­tung: Moderation/​Information“ nomi­niert wurde. Es stimmt, Prä­si­dent Selen­skyj sagt nicht immer die Wahr­heit. Manch­mal „lügt“ er sogar, bei­spiels­weise indem er eine Offen­sive der Armee im Süden ankün­digt, diese dann aber im Norden viel stärker angreift. So etwas nennt man auch Kriegs­list oder psy­cho­lo­gi­sche Kriegsführung.

„Viel­leicht ist es eine Frage der For­mu­lie­rung“, merkt der deut­sche Repor­ter nach dem Gespräch mit dem Prä­si­den­ten­be­ra­ter Smirnow an. „Die ukrai­ni­sche Regie­rung mag viel­leicht nicht lügen. Sie ist nur mit der Wahr­heit zurück­hal­tend.“ Richtig, es ist eine Frage der For­mu­lie­rung bezie­hungs­weise der Defi­ni­tion, was man eigent­lich unter Pro­pa­ganda ver­steht. Das Wort stammt vom latei­ni­schen Wort „pro­pa­gare“, das „aus­brei­ten, ver­brei­ten“ bedeu­tet. Im umgangs­sprach­li­chen Gebrauch wird es oft als Synonym für poli­ti­sche Lügen, falsche Behaup­tun­gen oder stark ver­zerrte Halb­wahr­hei­ten genutzt, für Über- und Unter­trei­bun­gen. Zusätz­lich könnte man noch zwi­schen absicht­li­chen und unbe­ab­sich­tig­ten Ver­zer­run­gen unter­schei­den, weil letz­tere „im Eifer des (rhe­to­ri­schen) Gefechts“ pas­sie­ren können, etwa wenn Mel­dun­gen über Mas­sen­grä­ber in den befrei­ten Gebie­ten nicht sorg­fäl­tig genug geprüft werden (das ist leider auch Prä­si­dent Selen­skyj einmal passiert).

Moderne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­rien defi­nie­ren den Begriff Pro­pa­ganda „im wei­tes­ten Sinn als Technik, die Hand­lun­gen der Men­schen durch Mani­pu­la­tion von Dar­stel­lun­gen zu beein­flus­sen“  – so bei­spiels­weise der US-ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Harold Lass­well (1902 – 1978)¹. Auch in der Werbung werden solche Tech­ni­ken benutzt, aller­dings richten sie dort meis­tens keinen großen Schaden an. Inter­na­tio­nal ver­bo­ten ist seit 1976 laut dem von 173 Staaten rati­fi­zier­ten Inter­na­tio­na­len Pakt über bür­ger­li­che und poli­ti­sche Rechte (UN Zivil­pakt) nur Kriegs- und Hasspropaganda.

Zwi­schen Patrio­tis­mus und Spott

Je mora­lisch gerecht­fer­tig­ter eine Kriegs­par­tei handelt und je erfolg­rei­cher sie dabei ist, desto weniger denun­zie­rende, nega­tive Pro­pa­ganda wird sie wahr­schein­lich betrei­ben. Die ukrai­ni­sche Pro­pa­ganda hat in diesem Krieg die Aufgabe, den Patrio­tis­mus zu stärken, Mut und Zuver­sicht zu ver­brei­ten, den Men­schen die Angst zu nehmen. Dies geschieht tat­säch­lich auf viel­fäl­tige Weise, bei­spiels­weise durch patrio­ti­sche Lieder oder auch mar­tia­li­sche Videos, welche die Stärke der ukrai­ni­schen Armee zeigen und durch die Inten­si­tät der Bilder sicher­lich auch über­trei­ben, nahezu Unbe­sieg­bar­keit sug­ge­rie­ren. „Wir werden leben, und dem kol­lek­ti­ven Putin wird es nicht gelin­gen, uns alle zu ver­trei­ben und zu töten!“, lautet die zen­trale Botschaft.

Weil die Ukrai­ner für eine gerechte Sache kämpfen, ist ihre Pro­pa­ganda oft witzig. Böse Mächte sind humor­los. Der anfangs viel stär­kere Gegner wird von den Ukrai­nern gerne ver­lacht und dem Spott der Welt­öf­fent­lich­keit preis­ge­ge­ben. Man zeigt damit auch, dass man keine Angst vor ihm hat, obwohl das manch­mal viel­leicht nicht stimmt. Das lächer­lich gierige Ver­hal­ten des Feindes liefert aus­rei­chend Anlässe für Spott, etwa wenn dieser Wasch­ma­schi­nen klaut und auf Panzern nach Hause fährt. Auch Prä­si­dent Selen­skyj spottet gern und betreibt Pro­pa­ganda, indem er den Russen etwa zuruft, sie sollten über den Dnipro nach Hause schwim­men, solange das Wasser des Flusses noch warm sei. Oder indem er nach dem Anschlag auf die Krim-Brücke sagt, das Wetter in der Ukraine sei an diesem Tag schön gewesen, während auf der Krim der Himmel bedeckt und es dort unge­wöhn­lich heiß gewesen sei.

Es ist also zwei­fel­los richtig, dass beide Seiten Pro­pa­ganda betrei­ben, auch als Teil der psy­cho­lo­gi­schen Kriegs­füh­rung. Aber wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht das­selbe. Die unschul­di­gen Ukrai­ner kämpfen für ihr Recht auf Leben. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie einen gerech­ten Ver­tei­di­gungs­krieg führen. Die schul­di­gen Russen müssen nicht nur alle Welt, sondern auch sich selbst sys­te­ma­tisch belügen, um ihren Angriffs- und Ver­nich­tungs­krieg zu recht­fer­ti­gen. Sie sind Opfer ihrer eigenen Pro­pa­ganda und erleben in diesem Krieg ein böses Erwachen.

¹ Lass­well, Harold Dwight (1937): Pro­pa­ganda Tech­ni­que in the World War. ISBN 0–262-62018–9, S. 214–222. „Pro­pa­ganda in the broa­dest sense is the tech­ni­que of influen­cing human action by the mani­pu­la­tion of repre­sen­ta­ti­ons. These repre­sen­ta­ti­ons may take spoken, written, pic­to­rial or musical form.“

Geför­dert durch

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

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