Kein Frieden auf Kosten der Zukunft – Das ukrainische Grundgesetz als Grenze des Verhandelbaren

Der Kreml nennt seit Monaten als Vorbedingung für Verhandlungen die Beseitigung der „ursprünglichen Ursachen“ des Krieges. Dahinter verbirgt sich der Versuch, an den Grundpfeilern des ukrainischen Staatswesens zu rütteln, der Verfassung von 1996. Sollte Kyjiw unter Zwang das Grundgesetz umschreiben müssen, ist eine nachhaltige Destabilisierung vorprogrammiert. Europäische Länder müssen das Einhalten der ukrainischen Verfassung zur Voraussetzung jeglicher Verhandlungen machen.
Zu den Kernforderungen Putins gegenüber der Ukraine gehören ein Ende der euroatlantischen Integration Kyjiws, das Abtreten von Territorium und immer wieder auch einen offiziellen Status für die russische Sprache in der Ukraine. All diese Fragen sind in der ukrainischen Verfassung geregelt.
Die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, braucht für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit. Für eine Änderung jener Kapitel, in denen das Staatsterritorium und die Staatssprache geregelt sind, braucht es zusätzlich noch eine Volksabstimmung. Es ist schwer vorstellbar, dass solch breite politische Mehrheiten für Vorhaben gewonnen werden können, die das Land auf Jahrzehnte hinaus schwächen würden.
Nachhaltigkeit eines Friedenschlusses entscheidend
Es stimmt: Je länger der Krieg dauert, desto eher zeigen sich Ukrainerinnen und Ukrainer in Meinungsumfragen bereit, Abstriche bei den Kriegszielen zu machen. Entscheidend für diese Bereitschaft ist aber, wie nachhaltig ein durch solche Zugeständnisse geschlossener Frieden überhaupt wäre. Wenn die Zugeständnisse Putin in Zukunft erlauben würden, am offenen Herzen des ukrainischen Staatswesens zu operieren, dann wäre dies nicht das Ende, sondern der Beginn einer möglicherweise langanhaltenden Destabilisierung der Ukraine sowie weiterer Länder. Der Kreml würde sich bestärkt fühlen, auch in Zukunft und auch über die Ukraine hinaus Gewalt anzudrohen, um politisches Mitspracherecht bei seinen Nachbarn zu erzwingen.
Putins wohl gewichtigste Forderung ist, die Ukraine müsse „neue Realitäten“ anerkennen und Territorium an die Invasoren abtreten. Russland hält die ganze Krim besetzt und kontrolliert außerdem große Teile von vier ukrainischen Gebieten im Osten und Süden: Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Putin behauptet, diese Regionen im September 2022 per Referendum komplett annektiert zu haben, obwohl sein Militär die Gebiete nur teilweise kontrolliert. Das Weiße Haus unter Donald Trumps zweiter Amtszeit ist die erste westliche Regierung, die signalisierte, sie könnte die Annexion der Krim anerkennen. Das ist mit der ukrainischen Verfassung nicht zu vereinbaren: Dort werden die Bestandteile des ukrainischen Staatsgebietes aufgelistet, es zählt 26 Oblaste, die Hauptstadt Kyjiw und die autonome Republik Krim.
Seit 2019 sind auch die Beitrittsbestrebung zu EU und NATO ein in der Verfassung verankerter Regierungsauftrag. Putins Forderung, einen NATO-Beitritt dauerhaft auszuschließen– wofür Washington seit Trumps zweitem Amtsantritt immer öfter Zustimmung signalisiert –, bedürfte daher auch einer Verfassungsänderung.
Putins Forderungen könnte Kyjiw nicht umsetzen
Der Kreml weiß, dass Verfassungsänderungen mit vorgehaltener Waffe den Politikbetrieb in Kyjiw lähmen können. Schon die Minsk-II-Vereinbarungen von 2015, welche unter dem Eindruck eines drohenden Kollapses des ukrainischen Militärs im Eiltempo verhandelt wurden, enthielten solche verfassungsrechtlichen Giftpillen. Damals forderte Russland einen Sonderstatus für die von moskautreuen Separatisten kontrollierten Teile der Gebiete Donezk und Luhansk. Der damalige Präsident Petro Poroshenko hatte unter Zugzwang einer solchen Verfassungsänderung zunächst zugestimmt. Als es um die Umsetzung ging, fand er aber keine politischen Mehrheiten dafür und sah sich heftigen Straßenprotesten ausgesetzt.
Die heutigen Forderungen haben trotz Kriegsmüdigkeit das Potenzial, die Ukraine noch tiefer zu spalten. Würde die Kyjiwer Regierung dazu gezwungen, einem Diktatfrieden zuzustimmen, für dessen Umsetzung sie anschließend keine politischen Mehrheiten fände, schlüge der Kreml zwei Fliegen mit einer Klappe: Er hat den Kriegsgrund für die nächste Runde in der Hand und liefert den Beweis, dass Demokratie in der Ukraine nicht funktioniert und nur die eiserne Hand Moskaus klare Verhältnisse schaffen kann.
Eine zweite wichtige Diskussion betrifft die Reihenfolge, in der russische Forderungen in der Ukraine umgesetzt werden könnten: Verfassungsänderungen sind in der Ukraine nur in Friedenszeiten erlaubt – eine wichtige Absicherung, wenn eines Tages ein Möchtegern-Diktator das Grundgesetz per Kriegsrecht würde aushebeln wollen. Deshalb müssen sich Russland und die Ukraine erst auf eine belastbare Waffenruhe einigen. Für tragfähige politische Richtungsentscheidungen sollten dann zunächst Wahlen stattfinden, bevor das Parlament mit einem erneuerten Mandat über die zukünftige Verfassung entscheidet.
Russland schiebt freilich auch verfassungsrechtliche Hürden gegen die Widerherstellung der völkerrechtlich anerkannten Grenzen von 1991 vor. 2022 änderte Russland sein Grundgesetz, um die beanspruchten ukrainischen Regionen als unveräußerlichen Teil des russischen Staatsgebiets zu behaupten. Das betraf auch die weiterhin unter Kyjiws Kontrolle verbleibenden Teilgebiete. Hier müssen Kyjiws europäische Partner zeigen, dass sie den Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Autokratie ernst nehmen. Wenn Putin will, lässt sich die russische Verfassung im Handumdrehen ändern – so geschehen, als er sich 2020 die Verfassung umschreiben ließ, um seine Amtszeitbeschränkung aufzuheben.
Die US-Regierung ist um den Willen eines schnellen Verhandlungserfolgs bereit, in Putins Forderungen nach Aufgabe von Territorium und euroatlantischer Integration einzuschwenken. Für Europa ist es in dieser Situation besonders wichtig, nicht die Orientierung zu verlieren. Selenskyjs Macht ist durch den Krieg gewachsen, aber allmächtig ist der Präsident nicht. Im Unterschied zu seinem russischen Pendant ist der ukrainische Staatschef von echten verfassungsrechtlichen Hürden eingeschränkt. Sie sind die innenpolitische Verteidigungslinie gegen autoritäre Übergriffe.
Diese Linie sollte für die europäischen Partner Kyjiws gegenüber Russland eine Grenze darstellen, die nicht überschritten werden darf. Bei all den verwirrenden Signalen, welche das russisch-amerikanische Verhandlungstheater in den letzten Monaten produziert hat, könnten die europäischen Partner ein starkes Zeichen setzen, in dem sie fordern, die ukrainische Verfassung bereits jetzt aus der Verhandlungsmasse auszuschließen.
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