Kein Frieden auf Kosten der Zukunft – Das ukrai­ni­sche Grund­ge­setz als Grenze des Verhandelbaren

Werchowna Rada
Foto: wikimedia.org/President.gov.ua

Der Kreml nennt seit Monaten als Vor­be­din­gung für Ver­hand­lun­gen die Besei­ti­gung der „ursprüng­li­chen Ursa­chen“ des Krieges. Dahin­ter ver­birgt sich der Versuch, an den Grund­pfei­lern des ukrai­ni­schen Staats­we­sens zu rütteln, der Ver­fas­sung von 1996. Sollte Kyjiw unter Zwang das Grund­ge­setz umschrei­ben müssen, ist eine nach­hal­tige Desta­bi­li­sie­rung vor­pro­gram­miert. Euro­päi­sche Länder müssen das Ein­hal­ten der ukrai­ni­schen Ver­fas­sung zur Vor­aus­set­zung jeg­li­cher Ver­hand­lun­gen machen.

Zu den Kern­for­de­run­gen Putins gegen­über der Ukraine gehören ein Ende der euroat­lan­ti­schen Inte­gra­tion Kyjiws, das Abtre­ten von Ter­ri­to­rium und immer wieder auch einen offi­zi­el­len Status für die rus­si­sche Sprache in der Ukraine. All diese Fragen sind in der ukrai­ni­schen Ver­fas­sung geregelt.

Die Wer­chowna Rada, das ukrai­ni­sche Par­la­ment, braucht für eine Ver­fas­sungs­än­de­rung eine Zwei­drit­tel­mehr­heit. Für eine Ände­rung jener Kapitel, in denen das Staats­ter­ri­to­rium und die Staats­spra­che gere­gelt sind, braucht es zusätz­lich noch eine Volks­ab­stim­mung. Es ist schwer vor­stell­bar, dass solch breite poli­ti­sche Mehr­hei­ten für Vor­ha­ben gewon­nen werden können, die das Land auf Jahr­zehnte hinaus schwä­chen würden.

Nach­hal­tig­keit eines Frie­denschlus­ses entscheidend

Es stimmt: Je länger der Krieg dauert, desto eher zeigen sich Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner in Mei­nungs­um­fra­gen bereit, Abstri­che bei den Kriegs­zie­len zu machen. Ent­schei­dend für diese Bereit­schaft ist aber, wie nach­hal­tig ein durch solche Zuge­ständ­nisse geschlos­se­ner Frieden über­haupt wäre. Wenn die Zuge­ständ­nisse Putin in Zukunft erlau­ben würden, am offenen Herzen des ukrai­ni­schen Staats­we­sens zu ope­rie­ren, dann wäre dies nicht das Ende, sondern der Beginn einer mög­li­cher­weise lang­an­hal­ten­den Desta­bi­li­sie­rung der Ukraine sowie wei­te­rer Länder. Der Kreml würde sich bestärkt fühlen, auch in Zukunft und auch über die Ukraine hinaus Gewalt anzu­dro­hen, um poli­ti­sches Mit­spra­che­recht bei seinen Nach­barn zu erzwingen.

Putins wohl gewich­tigste For­de­rung ist, die Ukraine müsse „neue Rea­li­tä­ten“ aner­ken­nen und Ter­ri­to­rium an die Inva­so­ren abtre­ten. Russ­land hält die ganze Krim besetzt und kon­trol­liert außer­dem große Teile von vier ukrai­ni­schen Gebie­ten im Osten und Süden: Luhansk, Donezk, Sapo­rischschja und Cherson. Putin behaup­tet, diese Regio­nen im Sep­tem­ber 2022 per Refe­ren­dum kom­plett annek­tiert zu haben, obwohl sein Militär die Gebiete nur teil­weise kon­trol­liert. Das Weiße Haus unter Donald Trumps zweiter Amts­zeit ist die erste west­li­che Regie­rung, die signa­li­sierte, sie könnte die Anne­xion der Krim aner­ken­nen. Das ist mit der ukrai­ni­schen Ver­fas­sung nicht zu ver­ein­ba­ren: Dort werden die Bestand­teile des ukrai­ni­schen Staats­ge­bie­tes auf­ge­lis­tet, es zählt 26 Oblaste, die Haupt­stadt Kyjiw und die auto­nome Repu­blik Krim.

Seit 2019 sind auch die Bei­tritts­be­stre­bung zu EU und NATO ein in der Ver­fas­sung ver­an­ker­ter Regie­rungs­auf­trag. Putins For­de­rung, einen NATO-Bei­tritt dau­er­haft aus­zu­schlie­ßen– wofür Washing­ton seit Trumps zweitem Amts­an­tritt immer öfter Zustim­mung signa­li­siert –, bedürfte daher auch einer Verfassungsänderung.

Putins For­de­run­gen könnte Kyjiw nicht umsetzen

Der Kreml weiß, dass Ver­fas­sungs­än­de­run­gen mit vor­ge­hal­te­ner Waffe den Poli­tik­be­trieb in Kyjiw lähmen können. Schon die Minsk-II-Ver­ein­ba­run­gen von 2015, welche unter dem Ein­druck eines dro­hen­den Kol­lap­ses des ukrai­ni­schen Mili­tärs im Eil­tempo ver­han­delt wurden, ent­hiel­ten solche ver­fas­sungs­recht­li­chen Gift­pil­len. Damals for­derte Russ­land einen Son­der­sta­tus für die von mos­kau­treuen Sepa­ra­tis­ten kon­trol­lier­ten Teile der Gebiete Donezk und Luhansk. Der dama­lige Prä­si­dent Petro Poros­henko hatte unter Zug­zwang einer solchen Ver­fas­sungs­än­de­rung zunächst zuge­stimmt. Als es um die Umset­zung ging, fand er aber keine poli­ti­schen Mehr­hei­ten dafür und sah sich hef­ti­gen Stra­ßen­pro­tes­ten ausgesetzt.

Die heu­ti­gen For­de­run­gen haben trotz Kriegs­mü­dig­keit das Poten­zial, die Ukraine noch tiefer zu spalten. Würde die Kyjiwer Regie­rung dazu gezwun­gen, einem Dik­tat­frie­den zuzu­stim­men, für dessen Umset­zung sie anschlie­ßend keine poli­ti­schen Mehr­hei­ten fände, schlüge der Kreml zwei Fliegen mit einer Klappe: Er hat den Kriegs­grund für die nächste Runde in der Hand und liefert den Beweis, dass Demo­kra­tie in der Ukraine nicht funk­tio­niert und nur die eiserne Hand Moskaus klare Ver­hält­nisse schaf­fen kann.

Eine zweite wich­tige Dis­kus­sion betrifft die Rei­hen­folge, in der rus­si­sche For­de­run­gen in der Ukraine umge­setzt werden könnten: Ver­fas­sungs­än­de­run­gen sind in der Ukraine nur in Frie­dens­zei­ten erlaubt – eine wich­tige Absi­che­rung, wenn eines Tages ein Möch­te­gern-Dik­ta­tor das Grund­ge­setz per Kriegs­recht würde aus­he­beln wollen. Deshalb müssen sich Russ­land und die Ukraine erst auf eine belast­bare Waf­fen­ruhe einigen. Für trag­fä­hige poli­ti­sche Rich­tungs­ent­schei­dun­gen sollten dann zunächst Wahlen statt­fin­den, bevor das Par­la­ment mit einem erneu­er­ten Mandat über die zukünf­tige Ver­fas­sung entscheidet.

Russ­land schiebt frei­lich auch ver­fas­sungs­recht­li­che Hürden gegen die Wider­her­stel­lung der völ­ker­recht­lich aner­kann­ten Grenzen von 1991 vor. 2022 änderte Russ­land sein Grund­ge­setz, um die bean­spruch­ten ukrai­ni­schen Regio­nen als unver­äu­ßer­li­chen Teil des rus­si­schen Staats­ge­biets zu behaup­ten. Das betraf auch die wei­ter­hin unter Kyjiws Kon­trolle ver­blei­ben­den Teil­ge­biete. Hier müssen Kyjiws euro­päi­sche Partner zeigen, dass sie den Unter­schied zwi­schen einer Demo­kra­tie und einer Auto­kra­tie ernst nehmen. Wenn Putin will, lässt sich die rus­si­sche Ver­fas­sung im Hand­um­dre­hen ändern – so gesche­hen, als er sich 2020 die Ver­fas­sung umschrei­ben ließ, um seine Amts­zeit­be­schrän­kung auf­zu­he­ben.

Die US-Regie­rung ist um den Willen eines schnel­len Ver­hand­lungs­er­folgs bereit, in Putins For­de­run­gen nach Aufgabe von Ter­ri­to­rium und euroat­lan­ti­scher Inte­gra­tion ein­zu­schwen­ken. Für Europa ist es in dieser Situa­tion beson­ders wichtig, nicht die Ori­en­tie­rung zu ver­lie­ren. Selen­skyjs Macht ist durch den Krieg gewach­sen, aber all­mäch­tig ist der Prä­si­dent nicht. Im Unter­schied zu seinem rus­si­schen Pendant ist der ukrai­ni­sche Staats­chef von echten ver­fas­sungs­recht­li­chen Hürden ein­ge­schränkt. Sie sind die innen­po­li­ti­sche Ver­tei­di­gungs­li­nie gegen auto­ri­täre Übergriffe.

Diese Linie sollte für die euro­päi­schen Partner Kyjiws gegen­über Russ­land eine Grenze dar­stel­len, die nicht über­schrit­ten werden darf. Bei all den ver­wir­ren­den Signa­len, welche das rus­sisch-ame­ri­ka­ni­sche Ver­hand­lungs­thea­ter in den letzten Monaten pro­du­ziert hat, könnten die euro­päi­schen Partner ein starkes Zeichen setzen, in dem sie fordern, die ukrai­ni­sche Ver­fas­sung bereits jetzt aus der Ver­hand­lungs­masse auszuschließen.

Portrait von Simon Schlegel

Simon Schle­gel leitet seit Anfang 2025 das Ukraine-Pro­gramm beim Zentrum Libe­rale Moderne.

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