Wie der Showman Selenskyj zu einem typischen ukrainischen Politiker wurde
Ein Jahr ist vergangen seit Wolodymyr Selenskyj gewählt wurde. Er war der Hoffnungsträger vieler Wähler, die eine andere Ukraine wollten. Doch mit den Monaten gibt es immer mehr Parallelen zwischen Selenskyj und seinem Amtsvorgänger Petro Poroschenko. In ihrer neuen Kolumne blickt Oksana Hrytsenko zurück.
Am 22. April veröffentlichte das Büro von Präsident Wolodymyr Selenskyj einen 50-minütigen Film über sein erstes Jahr an der Spitze des Landes. Selenskyj saß in einem dunklen Zimmer mit zugezogenen Vorhängen und redete mit monotoner Stimme zu einem unsichtbaren Publikum.
Er sprach über zukünftige Änderungen, als wenn er gerade neu gewählt worden wäre. Selenskyj erwähnte den Kampf gegen Korruption, gleiche Regeln für alle und andere Dinge, die die Nation schon seit Jahrzehnten von ihrer Führung hört.
Es handelte sich größtenteils um Unsinn, an den niemand, auch nicht der Redner selbst, glaubt. Videoausschnitte aus Nachrichtensendungen und Selenskyjs früheren Reden, die dem Film mehr Dynamik verleihen sollten, unterstrichen nur den eher schläfrigen Stil des Interviews.
Es ist schwer zu glauben, dass Selenskyj, ein bekannter politischer Satiriker und Schauspieler, vor nur einem Jahr den gesamten Präsidentschaftswahlkampf zu einer faszinierenden und lebhaften Show gemacht hatte. Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln und auf den Straßen schauten und diskutierten über seine Videoeinladung an den damaligen Präsidenten Petro Poroschenko zur politischen Debatte in einem Fußballstadion.
Dann gewann er die Debatte und errang bei den Präsidentschaftswahlen einen deutlichen Wahlsieg mit 73 Prozent der Stimmen in der Stichwahl – ein Schock, der Hoffnung sowie Ängste schürte.
Viele fürchteten Selenskyj aufgrund seines fehlenden politischen Hintergrunds, seiner unverblümten Art und der kaum bekannten Leute, die er mit sich ins Amt holte. Viele andere mochten ihn aus genau denselben Gründen und hofften, dass der politische Neuling Veränderungen im weitgehend dysfunktionalen und tief korrupten Regierungssystem der Ukraine bewirken würde. Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt, dass beide Seiten falsch lagen.
Neuer Präsident, gleiche Fehler?
Nach einem Jahr im Amt gleicht Selenskyj eher seinem Vorgänger Poroschenko als sich selbst. Damit meine ich natürlich nicht ihre Wahlsprüche. Poroschenkos konservatives Motto „Armee, Sprache, Glaube“ unterscheidet sich von Selenskyjs Bemühen, sich von Nationalismus zu distanzieren und den libertären Ideen seiner Partei, die den Staat auf einige „Servicefunktionen“ beschränken will. Ich meine damit die Handlungsweise beider Präsidenten.
Nachdem Poroschenko im Mai 2014 zum Präsidenten gewählt worden war, versuchte er, seine Macht durch Parlamentswahlen zu festigen. Im November 2014 ernannte er eine Regierung unter dem jungen Politiker Arsenij Jazenjuk, und bezog auch Reformer*innen mit ein. Achtzehn Monate später wurde Jazenjuk entlassen und durch den weniger charismatischen, aber loyaleren Wolodymyr Hrojsman ersetzt; die meisten Reformer*innen waren draußen.
Selenskyj verfuhr ganz genauso – in einem kürzeren Zeitraum. Er hielt nach nur zwei Monaten im Amt Parlamentswahlen ab und ernannte im August 2019 einen noch jüngeren Politiker, Olexij Hontscharuk, zum Ministerpräsidenten. Hontscharuks Regierung, zu der ebenfalls Reformer*innen gehörten, bestand nur etwas mehr als sechs Monate und wurde im März von Denys Schmyhals Kabinett abgelöst.
Die Regierungen Jazenjuks, Hrojsmans, Hontscharuks und Schmyhals hatten alle eines gemeinsam: Arsen Awakow war in ihnen Innenminister. Awakow hat trotz zahlreicher Korruptionsvorwürfe und angeblicher Sabotage der Polizeireform sein Amt behalten. Ihn trotz aller negativen Schlagzeilen zu halten ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Selenskyj und Poroschenko.
Selenskyj sagt im Film, genau wie Poroschenko vor ihm, dass das Justizsystem der Ukraine „komplett reformiert“ werden muss, da das jetzige ungerecht sei.
Beide Präsidenten haben großspurig Justizreformen begonnen. Poroschenkos Pseudoreform führte jedoch zur Ernennung belasteter und korrupter Richter*innen und Selenskyjs Reform wurde gestoppt, noch bevor sie umgesetzt werden konnte.
In beiden Fällen konnten die meisten Richter*innen im Amt bleiben und ihren unrechtmäßig erworbenen Wohlstand im Austausch für ihre Loyalität gegenüber dem Präsidentenamt behalten.
Wird die Korruption wirklich bekämpft?
Sowohl Poroschenko als auch Selenskyj beteuerten, bei Korruption absolut keine Toleranz zu kennen. Aber in beiden Fällen deckten die Medien Mauscheleien ihrer Spießgesellen auf.
Der berüchtigste Korruptionsskandal zu Poroschenkos Zeiten ereignete sich, als Enthüllungsjournalisten Daten zum Betrug bei Beschaffungsverträgen im Verteidigungshaushalt veröffentlichten, in die der Sohn von Oleh Gladkowskyj, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, verwickelt war.
Für Selenskyj kam Anfang April der erste größere Korruptionsskandal, als in den Medien geleakte Videos veröffentlicht wurden, in denen zu hören war, wie der jüngere Bruder Andrij Jermaks, Chef des Präsidialamtes, Regierungsjobs verkaufte.
Poroschenko musste Gladkowskyj unter dem Druck des Präsidentschaftswahlkampfs 2019 entlassen. Selenskyj hat sich bisher zum Jermak-Gate und den Rufen nach Entlassung seines Stabschefs ausgeschwiegen.
Vor einem Jahr war „Frühlingszeit – Gefängniszeit“ einer der beliebtesten Slogans während Selenskyjs Präsidentschaftskampagne. So wurde impliziert, dass korrupte Beamte schon im Frühling 2019 inhaftiert werden würden. Ein Jahr später allerdings ist trotz einiger Anklagen und Festnahmen noch kein korrupter Beamter verurteilt worden. Und nun ist es Jermak – jemand aus Selenskyjs eigenem Team – gegen den wegen Korruption ermittelt werden sollte, der sich aber wahrscheinlich einer Strafverfolgung entziehen wird.
Das erste Jahr von Selenskyjs Präsidentschaft brachte eine Menge Enttäuschungen. Diejenigen, die gedacht hatten, er würde das Land ins Unglück führen, waren enttäuscht, dass ihre Prognosen falsch waren. Sie sahen schließlich ein, dass es kaum einen Unterschied gibt zwischen den Regimes Selenskyjs und Poroschenkos. Diejenigen, die gedacht hatten, Selenskyj würde Veränderungen bringen, wurden noch schwerer enttäuscht. Aus genau demselben Grund.
Aus dem Englischen übersetzt von Meike Temberg.
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