llo­wa­jsk – Land­karte einer Invasion

Das Lon­do­ner Recher­che­kol­lek­tiv Foren­sic Archi­tec­ture hat Belege für die Teil­nahme rus­si­scher Streit­kräfte an der Schlacht von Ilo­wa­jsk zusam­men­ge­tra­gen und in Form einer inter­ak­ti­ven Inter­net­platt­form ver­öf­fent­licht. Von Jakob Hauter

Heute vor fünf Jahren, am 29. August 2014, erlebte die Ukraine die größte mili­tä­ri­sche Kata­stro­phe seit Beginn ihrer Unab­hän­gig­keit. Beim Versuch aus feind­li­cher Umzin­ge­lung zu ent­kom­men wurden ukrai­ni­sche Ein­hei­ten süd­west­lich der Stadt Ilo­wa­jsk nahezu völlig auf­ge­rie­ben. Min­des­tens 350 ukrai­ni­sche Sol­da­ten kamen ums Leben. Eine ähnlich hohe Anzahl wurde ver­wun­det oder geriet in feind­li­che Gefan­gen­schaft. Die Schlacht von Ilo­wa­jsk wurde zum Wen­de­punkt des Krieges im Donbas. Schnell wurde der Ver­dacht laut, dass regu­läre Ein­hei­ten der rus­si­schen Streit­kräfte für die Nie­der­lage ukrai­ni­scher Truppen ver­ant­wort­lich waren. Moskau aber bestrei­tet dies bis heute kategorisch.

Foren­sic Archi­tec­tures Auftrag

Im Februar 2019 reichte eine Gruppe ehe­ma­li­ger Sol­da­ten des ukrai­ni­schen Frei­wil­li­gen­ba­tail­lons „Donbas“ eine Klage vor dem euro­päi­schen Men­schen­rechts­ge­richts­hof in Straß­burg ein. Die Sol­da­ten waren beim Versuch aus Ilo­wa­jsk zu ent­kom­men in Gefan­gen­schaft geraten. Ihren Angaben zufolge wurden sie von Ein­hei­ten der rus­si­schen Streit­kräfte ange­grif­fen, gefan­gen­ge­nom­men und dann an Kämpfer der soge­nann­ten „Volks­re­pu­blik Donezk“ über­ge­ben, welche sie miss­han­del­ten und unter men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen gefan­gen hielten. Russ­land trage somit eine Mit­ver­ant­wor­tung an der Ver­let­zung ihrer Men­schen­rechte. Beim Ein­rei­chen ihrer Klage erhiel­ten die Sol­da­ten Unter­stüt­zung vom Lon­do­ner Euro­pean Human Rights Advo­cacy Centre (EHRAC) und der Kyjiwer Ukrai­nian Legal Advi­sory Group.

EHRAC wie­derum beauf­tragte Foren­sic Archi­tec­ture damit, Beweise für die Präsenz rus­si­scher Truppen in der Region um Ilo­wa­jsk zusam­men­zu­tra­gen und damit die Zeu­gen­aus­sa­gen der Kläger zu unter­stüt­zen. Foren­sic Archi­tec­ture (FA) ist eine unab­hän­gige For­schungs­stelle, ange­sie­delt an der Lon­do­ner Golds­miths-Uni­ver­si­tät. FA recher­chiert Akte poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Gewalt und prä­sen­tiert ihre Recher­che­er­geb­nisse dann in visuell zugäng­li­cher Form – sowohl vor Gericht als auch für die breite Öffent­lich­keit. In Deutsch­land ist FA bekannt für ihr Projekt zum Brand in der Fabrik eines KiK-Zulie­fe­rers in Karat­schi mit 259 Toten sowie für die Rekon­struk­tion des NSU-Mordes an Halit Yozgat.

Manu­elle Recherche

FAs Recher­che der Ereig­nisse von Ilo­wa­jsk bestand vor allem aus dem sys­te­ma­ti­schen Sammeln, Abglei­chen und Veri­fi­zie­ren von Infor­ma­tio­nen aus öffent­lich zugäng­li­chen Quellen. Diese Arbeit wird oft auch als Open Source Intel­li­gence (OSINT) Analyse bezeich­net. Im Falle der Schlacht von Ilo­wa­jsk exis­tier­ten bereits einige Studien, die Aspek­ten der Ereig­nisse auf dieser Basis nach­gin­gen. Ein Bericht des Recher­che­kol­lek­tivs Bel­ling­cat unter­suchte Spuren, die Mili­tär­kon­vois in der rus­sisch-ukrai­ni­schen Grenz­re­gion südlich von Ilo­wa­jsk auf frei ver­füg­ba­ren Satel­li­ten­bil­dern hin­ter­las­sen hatten. Eine Recher­che des ukrai­ni­schen Blog­gers @Askai707 fand in sozia­len Netz­wer­ken Hin­weise auf Akti­vi­tä­ten der 6. Pan­zer­bri­gade der rus­si­schen Streit­kräfte in der Gegend um Ilowajsk.

FAs Arbeit begann mit diesen Berich­ten. Wir lasen jedes Detail und jede Fußnote und kata­lo­gi­sier­ten alle Quellen, auf die sie sich berie­fen. Das gleiche machten wir mit zahl­rei­chen Repor­ta­gen über die Schlacht, die in ukrai­ni­schen und inter­na­tio­na­len Medien erschie­nen waren. Auf Basis dieses vor­läu­fi­gen Quel­len­ka­ta­logs erstell­ten wir eine Liste von Such­be­grif­fen – Ört­lich­kei­ten in der Umge­bung von Ilo­wa­jsk, Bezeich­nun­gen rus­si­scher Mili­tär­fahr­zeuge und Namen an der Schlacht betei­lig­ter Sol­da­ten und Ein­hei­ten. Mit diesen Such­be­grif­fen durch­fors­te­ten wir dann das Inter­net nach zusätz­li­chen Quellen.

In einem zweiten Schritt über­prüf­ten wir dann die Ver­läss­lich­keit der gefun­de­nen Quellen. Mit­hilfe kar­to­gra­phi­scher Daten­ban­ken wie Google Earth Pro und Wiki­ma­pia konnten wir den Ursprungs­ort vieler Videos und Fotos sehr präzise fest­stel­len. Gleich­zei­tig gaben uns die Berichte rus­si­scher Staats­me­dien und mili­tär­be­geis­ter­ter rus­si­scher Blogger einen detail­lier­ten Über­blick über die Erken­nungs­merk­male rus­si­scher Mili­tär­fahr­zeuge. Augen­zeu­gen­be­richte über­prüf­ten wir auf ihre Plau­si­bi­li­tät und ihre Über­ein­stim­mung mit dem rest­li­chen Mate­rial. Am Ende umfasste unser Katalog 209 aus­sa­ge­kräf­tige Quellen.

In einem dritten Schritt ord­ne­ten wir diese Quellen 135 Ereig­nis­sen zu. Diese Ereig­nisse wie­derum sor­tier­ten wir in 13 „Nar­ra­tive“ – Hand­lungs­stränge, die wich­tige Teil­aspekte der Schlacht beleuchten.

Maschi­nel­les Lernen

Par­al­lel zu dieser manu­el­len Arbeit suchte ein Team von Com­pu­ter­ex­per­ten nach einem Weg, Recher­chen dieser Art durch Auto­ma­ti­sie­rung zu unterstützen.

Mit­hilfe von You­Tubes Pro­gram­mier­schnitt­stelle (API) und einer Liste Ilo­wa­jsk-spe­zi­fi­scher Such­be­griffe erstell­ten wir einen Daten­satz von etwa 2500 Videos. 

Dann nutzten wir maschi­nel­les Lernen, um einem Com­pu­ter­pro­gramm bei­zu­brin­gen, in diesen Videos Panzer zu erken­nen. Das Pro­gramm erstellte eine Liste von Videos, in dem es beson­ders viele Panzer gefun­den hatte und zeigte, an welchen Stellen in den Videos diese Panzer erschie­nen. Theo­re­tisch traf das Pro­gramm damit eine auto­ma­ti­sierte Vor­auswahl zur näheren manu­el­len Unter­su­chung. In der Praxis ist die Soft­ware aber erst in einer frühen Ent­wick­lungs­phase. Die Feh­ler­quote ist noch relativ hoch, sodass eine par­al­lele manu­elle Suche uner­läss­lich ist. Außer­dem lief die Ent­wick­lung des Pro­gramms par­al­lel zu unserer manu­el­len Recher­che. Als der Pro­to­typ betriebs­be­reit war, hatten wir das meiste rele­vante Video­ma­te­rial bereits ent­deckt. Dennoch fand das Pro­gramm einige zusätz­li­che rele­vante Videos, die wir ansons­ten wohl nicht gefun­den hätten. Gleich­zei­tig ist sein Poten­zial für zukünf­tige Recher­chen riesig. FA hat es bereits in einem wei­te­ren Projekt zur Erken­nung von Trä­nen­gas­gra­na­ten ein­ge­setzt. Es ist außer­dem frei ver­füg­bar via github und kann von anderen Recher­che­teams mit ent­spre­chen­dem Knowhow ein­ge­setzt und wei­ter­ent­wi­ckelt werden.

Com­pu­ter­ani­ma­tio­nen und die Internetplattform

Auf Basis der von unserer Recher­che ent­deck­ten Quellen erstell­ten FAs Ani­ma­ti­ons­exper­ten eine Reihe von Videos. Diese Videos zeigen, wie wir nach­wei­sen konnten, dass bestimm­tes Film- und Foto­ma­te­rial mit rus­si­schen Panzern und Sol­da­ten tat­säch­lich aus der Umge­bung von Ilo­wa­jsk stammt. Mit­hilfe eines 3‑D-Com­pu­ter­mo­dells zeigen sie außer­dem, dass ein bestimm­ter rus­si­scher Pan­zer­typ, der T‑72B3, in der Umge­bung von Ilo­wa­jsk zum Einsatz kam. Dieser neue Pan­zer­typ war erst kurz zuvor in den Dienst der rus­si­schen Streit­kräfte gestellt worden und wurde zum Zeit­punkt der Schlacht von Ilo­wa­jsk aus­schließ­lich von ihnen benutzt.

Die Ergeb­nisse unserer Unter­su­chung haben wir in Form einer inter­ak­ti­ven kar­to­gra­phi­schen Inter­net­platt­form ver­öf­fent­licht. Die Platt­form zeigt alle von uns iden­ti­fi­zier­ten Ereig­nisse und Nar­ra­tive als Punkte auf einer Karte und einer Zeit­leiste. Durch das Klicken auf einen Punkt gelangt man zu einer Beschrei­bung des ent­spre­chen­den Ereig­nis­ses und allem zuge­hö­ri­gen Quel­len­ma­te­rial mitsamt eng­li­scher Über­set­zung. Die ange­zeig­ten Ereig­nisse können nach ver­schie­de­nen Kate­go­rien gefil­tert werden. FAs ani­mierte Videos sind eben­falls Teil der Platt­form. Wie auch das Pro­gramm zur Objekt­iden­ti­fi­ka­tion in Videos, ist die der Platt­form zugrunde lie­gende Soft­ware zur ander­wei­ti­gen Nutzung und Wei­ter­ent­wick­lung frei verfügbar.

Rus­si­sche Inter­ven­tion – Es gibt Beweise

Das Haupt­ziel unseres Pro­jekts war es, die erdrü­ckende Beweis­lage für einen Ein­marsch regu­lä­rer rus­si­scher Truppen in die Ost­ukraine während der Schlacht von Ilo­wa­jsk zu veranschaulichen. 

Auf Satel­li­ten­bil­dern, Videos und Fotos konnten wir allein in der Umge­bung von Ilo­wa­jsk 150 rus­si­sche Mili­tär­fahr­zeuge auf ukrai­ni­schem Ter­ri­to­rium iden­ti­fi­zie­ren. Dar­un­ter sind vier zer­störte T‑72B3 Panzer, sowie zwei zer­störte Panzer eines älteren Typs, der sich eben­falls nicht im Arsenal der ukrai­ni­schen Streit­kräfte befand. Außer­dem ist die Gefan­gen­nahme von 17 Sol­da­ten der rus­si­schen Streit­kräfte in der Umge­bung von Ilo­wa­jsk dokumentiert.

Ver­wert­bare Google Earth Satel­li­ten­bil­der der Region um Ilo­wa­jsk im zeit­li­chen Umfeld der Schlacht gibt es nur vom 26. und 31. August sowie vom 3. Sep­tem­ber 2014. Es ist also davon aus­zu­ge­hen, dass der Groß­teil der rus­si­schen Ver­bände, die in Ilo­wa­jsk inter­ve­nier­ten, nicht auf öffent­lich zugäng­li­chen Satel­li­ten­bil­dern fest­ge­hal­ten wurde. Da die ukrai­ni­schen Streit­kräfte ver­nich­tend geschla­gen wurden, ist eben­falls davon aus­zu­ge­hen, dass sich die pro­zen­tua­len Ver­luste der rus­si­schen Streit­kräfte in Grenzen hielten. Es ist somit sehr wahr­schein­lich, dass die zer­stör­ten Panzer nur einen Bruch­teil des von Russ­land ein­ge­setz­ten schwe­ren Mili­tär­ge­räts reprä­sen­tie­ren und die gefan­ge­nen Sol­da­ten nur einen Bruch­teil der ein­ge­setz­ten Streit­kräfte. Die tat­säch­li­che Stärke der rus­si­schen Inter­ven­ti­ons­streit­kräfte liegt daher mit hoher Wahr­schein­lich­keit bei meh­re­ren hundert Fahrzeugen.

Die Schluss­fol­ge­rung, dass Russ­land in der Schlacht von Ilo­wa­jsk in großem Maßstab inter­ve­nierte, beruht nicht auf „Kyjiws Anschul­di­gun­gen, welche Moskau abstrei­tet“ oder auf „Quellen, deren Authen­ti­zi­tät sich nicht über­prü­fen lässt,“ wie es in Medi­en­be­rich­ten zum Krieg in der Ost­ukraine oft heißt. Sie beruht auf Beweis­ma­te­rial, das zwar aus den Weiten des Inter­nets kommt, aber nichts­des­to­trotz einer gründ­li­chen Über­prü­fung stand­hält. So mag zum Bei­spiel ein YouTube-Video auf den ersten Blick ledig­lich einen unbe­kann­ten Panzer an einem unbe­kann­ten Ort zeigen. Mit etwas Recher­che lassen sich häufig jedoch sowohl der Pan­zer­typ als auch der Ort sehr über­zeu­gend bestim­men. Genau dies wollten wir durch unsere Videos und unsere Inter­net­platt­form veranschaulichen.

Wir hoffen, dass unsere Arbeit sowohl dem euro­päi­schen Men­schen­rechts­ge­richts­hof als auch der brei­te­ren Öffent­lich­keit einen bes­se­ren Ein­druck davon ver­mit­telt, was vor fünf Jahren in Ilo­wa­jsk pas­siert ist. Gleich­zei­tig hoffen wir, dass unsere Soft­ware zur Objekt­iden­ti­fi­ka­tion in Videos und unsere Soft­ware zur kar­to­gra­phi­schen Dar­stel­lung von Ereig­nis­sen, in Zukunft wich­tige Bei­träge zu vielen wei­te­ren Recher­chen leisten werden.

Textende

Portrait von Dr. Jakob Hauter

Dr. Jakob Hauter pro­mo­vierte am Uni­ver­sity College London zu Russ­lands Rolle im Krieg in der Ostukraine. 

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