Hoffen und Bangen an der Front
Der russische Truppenaufmarsch entlang der ukrainischen Grenze verstärkt das Gefühl der Bedrohung, sorgt aber auch für Entschlossenheit. Freiwillige trainieren wieder. Manche Einheimische denken aber lieber nicht an die Zukunft. Eine Reportage von Oksana Grytsenko
Die Soldaten schauen vorsichtig durch ein Periskop aus ihrem Unterstand und hören auf die Geräusche der anderen Seite. Die Befestigungen der von Russland unterstützten Separatisten sind so nah, dass man ihre Stimmen hören kann. Momentan wird nicht geschossen, aber die ukrainischen Soldaten haben das bedrohliche Gefühl, dass ein Angriff jederzeit beginnen kann.
„Wenn es ruhig ist, machen wir uns noch mehr Sorgen. Man fühlt dann, dass sie etwas vorbereiten“, sagt ein 33-jähriger Soldat, der nur sein Rufzeichen Zybulja verraten will, was auf Deutsch „Zwiebel“ heißt.
Das Gefühl der herannahenden Gefahr ist im umkämpften Donbas weit verbreitet, seit Russland seine Truppen an der ukrainischen Grenze enorm verstärkt hat. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen hat dieser Krieg bereits mehr als 13.000 Menschen das Leben gekostet, darunter mehr als 3.000 Zivilisten.
Der Waffenstillstand gilt nicht mehr
Seit Februar wird an der gesamten Front auch deutlich mehr geschossen, der Waffenstillstand vom vergangenen Sommer ist faktisch beendet. Seit Jahresbeginn wurden mehr als 30 ukrainische Soldaten im Einsatz getötet – im ganzen Jahr 2020 waren es 49. Trotzdem betonen die Soldaten, dass sie keine Angst haben. „Wenn (die Russen) sich entscheiden zu kommen, werden wir sie hier treffen“, sagt Zibulja.
Der Soldat wurde in Melitopol geboren, im Gebiet Saporischschja, das an den Donbas grenzt. Er dient seit Anfang 2015 in der Armee und hat nach eigener Aussage bereits Angriffe russischer Söldner und regulärer Truppen bei Hranitne südlich von Donezk miterlebt.
Nach Zibuljas Worten wurde seine Einheit von ausländischen Ausbildern geschult, auch mit modernen Waffen. Trotzdem bevorzugt er das Kalaschnikow-Sturmgewehr. „Es war für mich schwer, mit amerikanischen Waffen umzugehen – die Kalaschnikow ist dagegen problemlos“, sagt er.
Hoffnung auf US-Hilfe
Soldaten wie Zibulja glauben, dass die Vereinigten Staaten der Ukraine mit bewaffneten Fahrzeugen und sogar Truppen helfen würden, wenn Russland angreift.
„Wir sind in ihrer Interessensphäre“, behauptet er. Als Beleg nennt er einen Betrieb zur Herstellung von Kunststofffenstern und ‑türen, den Amerikaner in Mariupol in Betrieb nehmen wollten, was unmöglich wäre, wenn Russland in die Ukraine einmarschieren würde.
Während westliche Staats- und Regierungschefs versuchen, mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über die Ukraine zu verhandeln, bereiten sich die ukrainischen Soldaten auf den Sommer vor. Sie haben gerade neue Uniformen erhalten und probieren ihre Boonie-Sonnenhüte aus.
Entlang der Schützengräben stehen Schilder mit der Aufschrift „Vorsicht, Scharfschützen“. Das sei eine Warnung, hier nicht aufzustehen. „Scharfschützen sind die ganze Zeit da“, sagt ein 28-jähriger Soldat, der nur seinen Vornamen Serhiy nennt. In einem Krieg, in dem die Frontlinie seit 2015 praktisch unverändert ist, sind Scharfschützen, Mörsergranaten und Landminen die häufigsten Ursachen für Tod und Verletzungen.
Serhiy kommt aus der Stadt Lubny in der Oblast Poltawa und dient seit etwa eineinhalb Jahren in der Armee. In seinem Unterstand hängen Karten, in einer Ecke steht ein altes sowjetisches Festnetztelefon. Die Soldaten benutzen diese Telefone, weil das die sicherste Kommunikation sei. „Funkwellen können abgehört werden, aber mit diesem Telefon können wir offener sprechen“, sagt Serhiy.
In einer Feldküche schält ein Koch Kartoffeln für den Borschtsch, die traditionelle ukrainische Rote-Beete-Suppe. Dazwischen streunen mehrere große Hunde. Einer von ihnen ist ein legendärer Schäferhund namens Patron, was „Patrone“ bedeutet, der seit 2015 bei den Soldaten lebt. Patron ist zweimal verwundet worden und hat eine Gehirnerschütterung erlitten. Um seinen Dienst zu würdigen, haben die Soldaten ihm eine kugelsichere Weste bestellt.
Während sie auf das Abendessen warten, sprechen die Soldaten über die Qualität des Coronavirus-Impfstoffs, den sie bald erhalten werden. Es gibt einen Befehl, alle Frontsoldaten zu impfen. Außerdem treibt sie der heranziehende Frühling um. Das grüne Laub mache Angriffe durch den Wald leichter, sagen die Soldaten.
Kunst für den Frieden
Awdijiwka, eine Stadt mit rund 32.000 Einwohnern, liegt nur 13 Kilometer nördlich von der Separatistenhochburg Donezk. Viele Gebäude in Awdijiwka wurden während schwerer Kämpfe 2014 bis 2017 von Granaten beschädigt.
Auf Hauswänden prangen große Gemälde zu Themen wie Frieden, Religion oder industrieller Fortschritt. Die Stadt ist geprägt von der Kokerei „Awdijiwka“, die Rinat Achmetow gehört, dem reichsten Ukrainer. Überall sind Symbole von Achmetows Stahl- und Bergbauunternehmen zu sehen.
Die Bewohner Awdijikas bereiten sich ebenfalls auf den Sommer vor. Sorge macht ihnen eine mögliche Sperrung der Stadt. Im Gegensatz zur restlichen Oblast Donezk sind hier Schulen geöffnet; Cafés und Restaurants bedienen Gäste auch drinnen.
Der 51-jährige Ihor Pantschuk begrüßt seine Kunden in seinem kleinen Café, in dem er Kaffee, Snacks und Kunst anbietet. 2015 erlitt Pantschuk eine Gehirnerschütterung, als eine Granate neben der Tür seines Geschäfts explodierte und einen Freund verwundete. Weil ihm die Ärzte verboten, Alkohol zu trinken, begann er, Comic-Figuren aus Nadeln zu basteln, um mit dem Stress fertig zu werden. „Wir dürfen uns hier nicht entmutigen lassen“, sagt er trotzig.
Wie viele Einheimische spricht Pantschuk lieber nicht über Politik oder über die Zukunft. „Ich bin Realist. Wir können die Ereignisse nicht beeinflussen. Was bringt es, sich selbst zu quälen und darüber zu sprechen, was kommen wird?“, sagt er über die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs.
Soldaten und Einheimische
Obwohl Soldaten oft in Pantschuks Café kommen und seine Figuren kaufen, sind die Beziehungen zwischen dem Militär und den Einheimischen in Awdijiwka nicht einfach. Die meisten Einwohner bekommen ihre Nachrichten aus dem russischen und separatistischen Fernsehen, das hier dominiert und russische Propaganda verbreitet. Die Einheimischen haben aber Angst, pro-russische Ansichten zu äußern.
Plakate in Awdijiwka zeigen gekreuzte Pässe Russlands und der separatistischen „Volksrepubliken“ mit den Worten „Novoros ist keine Nationalität“ – eine ukrainische Kampagne gegen die Annahme von russischen und separatistischen Pässen. „Novoros“ ist russisch für einen Bewohner von Novorossia – der historische Name für den Süden und Osten der Ukraine, der vom Kreml seit 2014 als Propagandabegriff verwendet wird.
Die Soldaten, sagt Zybulja, bleiben auf Distanz zu den Einheimischen. „Wir vertrauen (ihnen) nicht und versuchen, sie zu meiden“, sagt er und fügt hinzu: „Sie lächeln dich an, haben aber ganz andere Gedanken im Kopf.“
Nicht alle ukrainischen Kombatanten sind derart kategorisch. Ein Kommandeur im Freiwilligenverband des rechtsextremen Rechten Sektors, der mit Rufzeichen Da Vinci heißt, betont, dass 2014 Einheimische die einfahrenden ukrainische Panzer in Awdijiwka mit dem Ruf „Ruhm der Ukraine“ empfingen.
Der heute 25-Jährige Da Vinci, hat seinen Spitznamen während eines Kunst-Studiums im westukrainischen Iwano-Frankiwsk erhalten. Als er sich freiwillig an die Front meldete, war er gerade mal 19.
Jetzt sitzt er in seiner Militärbasis, die mit Slogans der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) geschmückt ist, einer 1929 gegründeten ultranationalistischen Gruppierung. Einer davon lautet: „Du wirst einen ukrainischen Staat schaffen oder im Kampf dafür sterben.“ Auf einem Tisch stehen Büsten von Stepan Bandera und anderer nationalistischer Anführer aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Hinter dem Kommandeur ist eine Fahne mit drei Wölfen, das Symbol der Sturmtruppe des Rechten Sektors. In einem Käfig daneben läuft ein lebender Wolf hin und her. Er ist Da Vincis Haustier, das ihm von Freiwilligen geschenkt wurde.
Der Rechte Sektor ist eines der wenigen ukrainischen Freiwilligenbataillone, die sich weder der Nationalgarde noch der Armee angeschlossen haben. Kämpfer des Rechten Sektors waren an den intensivsten Gefechten beteiligt, auch am Flughafen Donezk.
Heute, sagt Da Vinci, führen seine Kämpfer regelmäßig militärische Aufgaben an der Front aus, und zwar in Abstimmung mit der Armeeführung. Wie viele nationalisten glaubt er, dass die derzeitige Eskalation unvermeidlich ist und die einzige Lösung ein Sieg über Russland ist: „Frieden wird erst nach unserem Sieg möglich sein. Wenn wir diesen Krieg jetzt nicht beenden, müssen meine Kinder ihn führen.“ Er fügt aber hinzu, dass die Ukraine keine Chance für einen NATO- beziehungsweise EU-Beitritt habe, weil „der Krieg unsere Entwicklung verhindert“.
Freiwillige trainieren wieder
Wegen des russischen Truppenaufmarsches haben der Rechte Sektor und andere Freiwilligenverbände kürzlich außerordentliche Treffen für ihre Kämpfer veranstaltet und mit militärischem Training begonnen.
Am 21. April unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Befehl, die Armee bei Bedarf schnell mit Reservisten zu verstärken. Während die Streitkräfte etwa 255.000 aktive Angehörige haben, könnte sie laut Global Firepower Index um bis zu 900.000 Reservisten anwachsen.
Da Vinci sagt, er sei zunächst skeptisch gegenüber Selenskyj gewesen, aber die Entscheidung des Präsidenten, den pro-russischen Politiker und Putin-Freund Wiktor Medwedtschuk zu sanktionieren habe ihm gefallen. Er glaubt, dass dies eine Initiative des neuen US-Regierung gewesen sei. „Seit (Präsident Joseph) Biden an die Macht gekommen ist, haben sich die Dinge schnell geändert“, sagt er. Gleichzeitig glaubt Da Vinci, dass der Westen der Ukraine im Krieg mit Russland nur durch die Lieferung von Waffen helfen kann. „Niemand wird für uns kämpfen“, meint er.
Während Da Vinci sich auf einen großen Krieg vorbereitet, zählt Zibulja die Tage bis zu seinem Dienstende. Es ist nur noch etwas mehr als ein Monat. Er plant, mit einem Partner ein Geschäft zum Altmetall-Sammeln zu eröffnen. Andere Soldaten lachen ihn aus und sagen, dass er sich als Zivilist langweilen werde.
Am 22. April gab Russland bekannt, dass es mit dem Abzug seiner Truppen von der ukrainischen Grenze begonnen hat, und nannte es das Ende von „Übungen“. In Awdijiwka fragen sich sowohl Militärs als auch Zivilisten immer wieder, ob die Gefahr vorbei ist oder ob sie noch bevorsteht.
„Wenn etwas beginnt, werden wir die ersten sein, die es sehen“, sagt Panchuk.
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