Ein Korridor für die Freiheit
Nur die Kombination zwischen einem starken Staat und einer starken Zivilgesellschaft kann den Sieg der Demokratie über die Autokratie gewährleisten. Die Ukraine hat gezeigt, dass sie diese Voraussetzung erfüllt. Eine Analyse von Ilona Khmeleva
Während die Ukraine weiterhin heldenhaft gegen die russische Aggression kämpft und eine Reihe erfolgreicher Gegenoffensiven durchgeführt hat, beginnen selbst die skeptischsten westlichen Analysten zu erkennen, dass die Ukraine diesem Krieg nicht nur standhalten, sondern ihn auch gewinnen kann. Was ist das Rezept für den ukrainischen Erfolg, der für viele eine Überraschung ist? Der Hauptverdienst gebührt natürlich den Streitkräften der Ukraine. Aber die Ukraine hat noch eine andere Armee, die zu ihrer weniger sichtbaren Supermacht geworden ist: eine Armee der Zivilgesellschaft, die aus Millionen aktiver und patriotischer Bürger besteht.
Daron Acemoglu und James A. Robinson argumentieren in ihrem Bestseller „Der schmale Korridor. Wie Nationen um ihre Freiheit kämpfen“, dass die Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft einen engen Korridor schafft, in dem die Freiheit gedeiht. Daron Acemoglu beschreibt, wie schmal dieser Grad ist: „Wenn die Gesellschaft zu schwach ist, führt das zu Despotismus. Ist die Gesellschaft hingegen zu stark, führt dies zu schwachen Staaten, die nicht in der Lage sind, ihre Bürger zu schützen.”
Diese Theorie kann angepasst werden, um die Rolle von Zivilgesellschaften während eines Krieges zu erklären (siehe Abbildung 1). Wenn die Zivilgesellschaft schwach ist, zentralisiert der Staat unumkehrbar alle Entscheidungsprozesse und reißt sie an sich (was in Kriegszeiten normal ist, aber nicht absolut und von Dauer sein kann). Nur die Kombination aus einem starken Staat und einer starken Zivilgesellschaft kann den Sieg der Demokratie über die Autokratie gewährleisten. Und das ist das wirkliche Ziel der Ukraine.
Erfahrung in der Selbstorganisation
Der bemerkenswerteste Erfolg der ukrainischen Zivilgesellschaft war natürlich die rasche Organisation der Versorgung des Militärs sowie die Bereitstellung humanitärer Hilfe. Dies war besonders in den ersten Tagen der umfassenden russischen Invasion von entscheidender Bedeutung, als viele staatliche Stellen desorientiert oder gelähmt waren. Die ukrainische Zivilgesellschaft hat eine tiefgreifende Erfahrung mit der Selbstorganisation (aus der Revolution der Würde, sowie dem Krieg, der seit 2014 andauert). Daher schlossen sich Hunderttausende Freiwillige der Arbeit an.
Es wurde Geld gesammelt, um Ausrüstung wie kugelsichere Westen, Helme, Verbrennungssets oder Schmerzmittel zu kaufen, Freiwillige leisteten Dienst in Krankenhäusern oder bereiteten Lebensmittel für die Selbstverteidigungseinheiten zu, sie sorgten für die Logistik und standen manchmal stundenlang in Schlangen an der Grenze oder an Kontrollpunkten, um die notwendige Munition zu liefern. Sie bildeten sogenannte Informationstruppen und verbreiteten die Wahrheit über die russische Aggression. Diese schlagkräftige Freiwilligentruppe hat die Ukraine definitiv vor Chaos und Zusammenbruch bewahrt.
Im Allgemeinen lässt sich die Hilfe für die Ukraine in drei große Kategorien einteilen: militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe. Darüber hinaus kann die militärische Hilfe weiter in rein militärische und nicht-letale, aber für das Militär bestimmte Hilfe unterteilt werden. Es mag überraschen, aber Freiwillige arbeiten in all diesen Sparten. Die Come Back Alive Foundation war beispielsweise die erste Wohltätigkeitsorganisation in der Ukraine, die eine Lizenz für den Kauf von militärischen Gütern und Gütern mit doppeltem Verwendungszweck einschließlich tödlicher Waffen erhielt. Diese Lizenz erlaubte es der Stiftung, Güter direkt von den Herstellern ohne Zwischenhändler zu kaufen.
Umfassende Unterstützung in der Gesellschaft
Soziologische Erhebungen zeigen, dass die Ukrainer trotz der schwierigen finanziellen Lage alles tun, um die Streitkräfte und ihre Mitbürger in Not zu unterstützen. 58 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Geld für humanitäre Hilfe gespendet haben. 81 Prozent der Befragten haben Geld für die Streitkräfte gespendet, obwohl 95 Prozent von ihnen angaben, dass ihr Einkommen nicht ausreicht, um komfortabel zu leben. Mehr als die Hälfte der Ukrainer haben Binnenflüchtlingen Schutz oder Hilfe gewährt. In bestimmten Bevölkerungsgruppen kann dieser Wert sogar noch höher sein. So spenden beispielsweise 82 Prozent der befragten IT-Spezialisten an die Streitkräfte und Freiwillige. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass die Come Back Alive Foundation weniger als drei Monate benötigte, um 100 Millionen US Dollar für die Armee zu sammeln.
In einer der Umfragen gaben 51 Prozent der Ukrainer an, dass sie sich an freiwilligen Aktivitäten beteiligt haben, und weitere 37 Prozent wären bereit, sich zu beteiligen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Das bedeutet, dass jeder zweite Bürger der Ukraine aktiv Freiwilligenarbeit leistet. Und die überwiegende Mehrheit derjenigen, die dies nicht tun, lehnt die Möglichkeit, sich gelegentlich freiwillig zu engagieren, nicht ab.
Besonders ist auch die Geschichte der “Volksbajraktar“- eine Reihe von Fundraising-Projekten für den Kauf der türkischen Bayraktar TB2-Drohnen für den Bedarf der Streitkräfte der Ukraine. Am 22. Juni kündigte die Serhiy Prytula Foundation den Beginn einer Spendensammlung an, die eine Woche dauern sollte. Die Ukrainer sammelten jedoch schon innerhalb von drei Tagen 600 Millionen ukrainische Hrywnja, was für vier (und nicht wie geplant für drei) Drohnen ausreichen würde. Während der Drohnenhersteller Baykar ankündigte, drei Drohnen kostenlos in die Ukraine zu schicken, wurde das gesammelte Geld für eine Vereinbarung mit dem finnischen Satellitenhersteller ICEYE verwendet, die dem ukrainischen Verteidigungsministerium den vollen Zugang zu allen Systemen und den vollen Fähigkeiten eines der ICEYE-Satelliten ermöglicht, die sich bereits in der Umlaufbahn über der Region befinden.
Vorantreiber der humanitären Hilfe
Die Zivilgesellschaft half auch in anderen humanitären Bereichen. So hat die East Europe Foundation über ihr Netzwerk aus mehr als 500 lokalen Partner-NGOs in kürzester Zeit das Projekt „Shelter“ ins Leben gerufen, das auf die Unterstützung von Binnenvertriebenen abzielt (sichere Räume, psychosoziale Unterstützung und Wiedereingliederung). Dank der großzügigen Spenden zahlreicher Organisationen und Privatpersonen aus der Ukraine und der ganzen Welt wurden im Rahmen des Projekts in weniger als drei Monaten 30 Unterkünfte für Binnenvertriebene in neun Oblasten der Ukraine unterstützt, komfortable Bedingungen für mindestens 4.946 Binnenvertriebene, darunter 1.336 Kinder, geschaffen und insgesamt 217 Tonnen humanitäre Hilfe in 15 Oblaste der Ukraine geliefert.
Lokale Aktivisten und relativ kleine Organisationen wiederum halfen am meisten bei der Evakuierung der Zivilbevölkerung. Denn es war die Zivilgesellschaft und nicht die großen internationalen Geber, die an schwer zugänglichen Orten Hilfe leistete, insbesondere in Gebieten mit aktiven Feindseligkeiten oder sogar in besetzten Gebieten – das zeigt ein Bericht von Humanitarian Outcomes. Während viele bekannte internationale NGOs abwesend waren und sogar das Internationale Komitee vom Roten Kreuz wegen seiner Untätigkeit kritisiert wurde, halfen ukrainische Freiwillige aktiv der Zivilbevölkerung, leisteten humanitäre Hilfe und boten Evakuierungen an. Außerdem koordinierten sie täglich Rettungseinsätze, um Tausende von Haustieren, Nutz- und Zootieren zu retten.
Eine weitere bemerkenswerte Aktivität ist die Unterstützung im Wirtschaftssektor. Lobbyarbeit für neue Sanktionen gegen Russland und Druck auf Unternehmen, die weiterhin in Russland tätig sind, sind dabei die wichtigsten Aufgaben. In diesem Bereich ist ein neues Phänomen entstanden: die Bildung von Institutionen, die sowohl staatliche als auch privatwirtschaftliche Merkmale aufweisen, die bestimmte staatliche Aufgaben wahrnehmen und ihre Arbeit vollständig mit den öffentlichen Sicherheits- und Verteidigungsbehörden koordinieren. Ein Beispiel dafür ist der Wirtschaftssicherheitsrat (ESCU) der Unternehmen ausfindig macht, die in der kritischen Infrastruktur Russlands tätig sind, die notwendigen Untersuchungen durchführt und öffentliche oder nicht-öffentliche Lobbyarbeit betreibt. Ein Beispiel: Infolge der Aktivitäten des ESCU haben der deutsche Technologieriese SAP und die französische Holding Thales, die für russische Server und Banken von entscheidender Bedeutung waren, den Aggressorstaat verlassen.
Lehren für die Zukunft
Aus dem Erfolg der ukrainischen Zivilgesellschaft während der umfassenden russischen Aggression können wir auch für die Nachkriegszeit einige Lehren ziehen:
Lektion 1: Kontrolle und Überwachung durch die Zivilgesellschaft sind sehr wichtig.
Laut einer gemeinsamen Bewertung schätzen die ukrainische Regierung, die Europäische Kommission und die Weltbank in Zusammenarbeit mit Partnern die derzeitigen Kosten für den Wiederaufbau in der Ukraine auf 349 Milliarden Dollar. Diese Zahl wird voraussichtlich noch steigen. Die Verwendung dieser Mittel erfordert eine sorgfältige Überwachung durch eine Institution, die sowohl das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung als auch der internationalen Geber und Investoren genießt. Aus diesem Grund könnten seriöse zivilgesellschaftliche Einrichtungen eine wichtige Rolle bei der Überwachung des Wiederaufbauprozesses nach dem Krieg übernehmen.
Lektion 2: Eine starke Zivilgesellschaft ist Freund des Staates, nicht sein Feind.
Anfang September forderten öffentliche Aktivisten, Journalisten und Künstler die ukrainischen Behörden auf, die ungerechtfertigte Verfolgung ukrainischer Freiwilliger einzustellen und eine gründliche Untersuchung solcher Fälle durchzuführen. Anlass für diese Erklärung war eine Reihe an Strafverfahren gegen ukrainische Freiwillige, die der Armee systematisch geholfen haben. Nach Ansicht der Strafverfolgungsbehörden waren diese Aktivisten in die Veruntreuung von Geldern aus humanitärer Hilfe verwickelt. Die Anschuldigungen schienen jedoch völlig unbegründet. Natürlich sind diese Verfolgungen nicht systematisch oder weit verbreitet, aber die schnelle Reaktion der Zivilgesellschaft auf diese punktuellen Menschenrechtsverletzungen zeigt, dass sie gelernt hat, sich zu verteidigen. Eine starke Zivilgesellschaft macht den Behörden oft Angst, weil sie das Monopol des Staates auf die öffentliche Entscheidungsfindung aufhebt. In modernen Demokratien ist dieser Prozess jedoch ganz normal.
Lektion 3: Die Zivilgesellschaft sollte mehr Macht und Einflussmöglichkeiten erhalten.
Freiwillige und Aktivisten haben ihre Effizienz und Professionalität unter Beweis gestellt. Sie übernehmen weiterhin Aufgaben und Funktionen, die der Staat aufgrund mangelnder Ressourcen oder bürokratischer Verfahren nicht erfüllen kann. Die Institutionen der Zivilgesellschaft sind flexibler und reagieren schnell auf sich verändernde Gegebenheiten oder neue Herausforderungen. In diesen Institutionen sind auch die aktivsten Ukrainer versammelt, die sich für die Stärkung der Demokratie und die Durchführung der notwendigen Reformen einsetzen.
Nach der Revolution der Würde sind viele integrative Instrumente entstanden. Öffentliche Räte wurden geschaffen, um die Transparenz der staatlichen Organe zu gewährleisten. Viele Experten und Aktivisten waren an der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen und staatlichen Strategien beteiligt. In den letzten Jahren wurde die staatliche Verwaltung jedoch zentralisiert und der Einfluss der Zivilgesellschaft nahm ab. Dieser Ansatz wurde in Kriegszeiten noch deutlicher, als die meisten Entscheidungen von einem kleinen Kreis aus Beamten ohne öffentliche Konsultation getroffen wurden. Die Zivilgesellschaft sollte jedoch nicht länger von der öffentlichen Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden. Es ist notwendig, der Zivilgesellschaft neue wirksame Instrumente an die Hand zu geben, um die Regierung zu beeinflussen und an der Entwicklung der öffentlichen Ordnung teilzunehmen.
Weitere Korridore finden
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Beitrag der Zivilgesellschaft zu einem möglichen Sieg der Ukraine nicht stark genug betont werden kann. Die jüngsten Umfragen über das Vertrauen in staatliche Organe und öffentliche Institutionen zeigen, dass Freiwilligenorganisationen in der Bewertung an vierter Stelle (77 Prozent) stehen – direkt hinter den Streitkräften (91 Prozent), dem staatlichen Notdienst (82 Prozent) und der Nationalgarde (81 Prozent). Ein solch hohes Maß an Vertrauen wird den Institutionen der Zivilgesellschaft helfen, ihren eigenen Einfluss für die Schaffung qualitativ hochwertiger und schneller Reformen zu nutzen.
Obwohl die brutale russische Aggression anhält und noch viele Kämpfe vor uns liegen, scheint es der Zivilgesellschaft gelungen zu sein, einen schmalen Korridor zum Sieg und Frieden in der Ukraine zu finden. Daher kann vorausgesagt werden, dass die Zivilgesellschaft auch einen weiteren schmalen Korridor finden wird – zur europäischen Integration, zum erfolgreichen Wiederaufbau nach dem Krieg und zum Aufbau wirksamer demokratischer Institutionen.
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