Die Ukraine und China: Kom­plexe Beziehungen

Schild an der kana­di­sche Bot­schaft in Peking mit der Auf­schrift „We are tog­e­ther with Ukraine“, Foto: Simon Song /​ Imago Images

Die wirt­schaft­li­chen und diplo­ma­ti­schen Bezie­hun­gen zwi­schen China und der Ukraine sind komplex. China will sich als Frie­dens­ver­mitt­ler posi­tio­nie­ren, gleich­zei­tig aber als „pro-rus­sisch neutral“ wahr­ge­nom­men werden. Die Ukraine reagiert diplo­ma­tisch, aber ein „Busi­ness as usual“ wird in nächs­ter Zukunft nicht möglich sein.

Ende April 2023 kam es zu tief­grei­fen­den Ver­än­de­run­gen im diplo­ma­ti­schen Dialog zwi­schen der Ukraine und China. Ein Tele­fo­nat zwi­schen dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj und dem Staats­ober­haupt der Volks­re­pu­blik China Xi Jinping und die anschlie­ßende Ernen­nung des neuen ukrai­ni­schen Bot­schaf­ters in China, Pawlo Rja­bi­kin, brach­ten einige Beob­ach­ter zu der Über­zeu­gung, dass die bila­te­ra­len Bezie­hun­gen zwi­schen den beiden Ländern endlich eine Bele­bung erfahren.

Der nächste über­ra­schende Schritt war die Zustim­mung Chinas zur Reso­lu­tion A/77/L.65 der UN-Gene­ral­ver­samm­lung vom 26. April 2023. Hoff­nun­gen kamen auf, dass China seine Meinung zur Rolle Russ­lands im Krieg in der Ukraine geän­dert haben könnte. Viele führten dies auf einen Durch­bruch in der Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen den beiden Führern der Länder zurück. Die Rea­li­tät ist jedoch viel kom­ple­xer. Beide Seiten sind sich durch­aus bewusst: Die aktu­elle Phase ihrer Bezie­hung gleicht einem vor­sich­ti­gen Spa­zier­gang zwi­schen Regen­trop­fen, bei dem alle so tun, als würden sie einen son­ni­gen Tag genießen.

Keine neue Etappe in den Beziehungen

Ein Dämpfer für die Glück­se­lig­keit kam nach der Abstim­mung in der Gene­ral­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen, als die Stän­dige Ver­tre­tung Chinas sagte, dass „Chinas Posi­tion in der Ukrai­ne­frage sich nicht geän­dert hat und die Abstim­mungs­po­si­tion nichts mit dem Tele­fo­nat zwi­schen den beiden Staats­chefs zu tun hat“. Es ist also ein­deu­tig nicht an der Zeit, vor­schnell eine neue Etappe in den Bezie­hun­gen zu preisen, ins­be­son­dere mit Blick auf das kom­plexe Umfeld, in dem sich die jüngs­ten Ent­wick­lun­gen abge­spielt haben.

Chi­ne­si­sche Sprach­wahl: „Krise der Ukraine“

In seinen zahl­rei­chen Erklä­run­gen seit Aus­bruch des Krieges hat es China stets vor­ge­zo­gen, sich hinter „kon­struk­ti­ver Zwei­deu­tig­keit“ zu ver­ste­cken und sich an diplo­ma­ti­sche Flos­keln wie die „fried­li­che Lösung durch Ver­hand­lun­gen“ zu halten. Die ersten offi­zi­el­len Erklä­run­gen Chinas zum Krieg ähneln auf­fal­lend den Argu­men­ten Russ­lands. Zur Freude Russ­lands hatte sich China auch bei den UN-Reso­lu­tio­nen, die die rus­si­sche Aggres­sion in der Ukraine ver­ur­tei­len, der Stimme ent­hal­ten oder sogar dagegen gestimmt, außer bei der jüngs­ten Abstimmung.

Ukrai­ni­sche Beamte waren ver­är­gert über die chi­ne­si­sche Sprach­wahl, den Krieg als „Problem der Ukraine“, oder „Krise der Ukraine“ und die „Ukraine als Brücke“ zu bezeich­nen. Letz­te­rem wider­sprach der ukrai­ni­sche Spit­zen­di­plo­mat Dmytro Kuleba aus­drück­lich: „Das ukrai­ni­sche Volk wird nicht bereit sein, die Rolle eines Puffers zwi­schen Ost und West zu spielen. Die Ukraine liegt zwar an der Grenze zwi­schen Ost und West, aber die Ukraine ist keine Brücke, die jeder nach Belie­ben über­que­ren kann.“  Diese Äuße­run­gen führten aller­dings nicht zu einer Ände­rung der chi­ne­si­schen Haltung: In der jüngs­ten offi­zi­el­len Pres­se­er­klä­rung Chinas zu dem Tele­fo­nat zwi­schen Selen­skyj und Xi Jinping wird der Krieg wei­ter­hin als „Ukraine-Krise“ bezeichnet.

Tele­fo­nat erfolgte auf Ersu­chen der Ukraine

Die Kon­takt­auf­nahme mit dem ukrai­ni­schen Staats­chef dauerte mehr als einen Monat. Sie erfolgte erst, als Xi auf die For­de­run­gen der EU-Staats- und Regie­rungs­chefs ein­ge­hen musste und kurz nach dem Besuch des fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten Macron und der EU-Kom­mis­si­ons­che­fin Ursula von der Leyen in China Anfang April ver­sprach, mit Selen­skyj in Kontakt zu treten.

Das Gespräch kam schließ­lich auf Ersu­chen der ukrai­ni­schen Seite zustande, nicht auf chi­ne­si­sche Initia­tive hin. Prä­si­dent Selen­skyj bezeich­nete das Gespräch als dennoch „langes und bedeu­tungs­vol­les“ Gespräch und zeigte sich opti­mis­tisch, dass es „der Ent­wick­lung unserer bila­te­ra­len Bezie­hun­gen einen kräf­ti­gen Impuls ver­lei­hen wird“.

Nach zwei Jahren Pause wieder ein ukrai­ni­scher Bot­schaf­ter in China

Nach mehr als zwei Jahren Pause gelang es der Ukraine endlich, wieder einen Bot­schaf­ter der Ukraine in China, Pawlo Rja­bi­kin, zu ernen­nen. Rja­bi­kin verfügt über umfang­rei­che Erfah­run­gen im diplo­ma­ti­schen Dienst. Er war von 2009 bis 2010 als Bot­schaf­ter der Ukraine in Däne­mark tätig. Zu seinen frü­he­ren Posi­tio­nen gehören auch die des Gene­ral­di­rek­tors des inter­na­tio­na­len Flug­ha­fens Borys­pil (2017–2020), des Leiters des Zoll­diens­tes der Ukraine (2020–2021) und des Minis­ters für stra­te­gi­sche Indus­trien der Ukraine (2021–2023). Die Ernen­nung eines solch hoch­ran­gi­gen ukrai­ni­schen Beamten ist zwei­fel­los ein Gewinn für die bila­te­ra­len Bezie­hun­gen und wird den Weg für eine Kom­mu­ni­ka­tion auf höherer Ebene mit den chi­ne­si­schen Behör­den ebnen.

Balan­ce­akt zum chi­ne­si­schen Positionspapier

Mit der Ver­ab­schie­dung seines Stand­punkts zur poli­ti­schen Bei­le­gung der „Ukraine-Krise wollte China ver­mut­lich sein Enga­ge­ment für Objek­ti­vi­tät und Fair­ness demons­trie­ren und seine Rolle als geeig­ne­ter Ver­mitt­ler in inter­na­tio­na­len Kon­flik­ten unterstreichen.

Die Vor­schläge Chinas zur Ukraine wurden von der Ukraine und ihren west­li­chen Ver­bün­de­ten jedoch ver­hal­ten auf­ge­nom­men. Mycha­jlo  Podol­jak, der Berater des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten, erklärte, dass „jeder ‚Frie­dens­plan‘, der ledig­lich einen Waf­fen­still­stand und damit eine neue Tei­lungs­li­nie und die fort­ge­setzte Beset­zung des ukrai­ni­schen Ter­ri­to­ri­ums vor­sieht, keinen Frieden bedeu­tet, sondern ein Ein­frie­ren des Krieges, eine Nie­der­lage der Ukraine und die Fort­set­zung des rus­si­schen Völ­ker­mords an den Ukrainern“.

Ange­sichts der Tat­sa­che, dass Russ­land die chi­ne­si­sche Initia­tive offen lobte und erklärte, es „teile die Ansich­ten Pekings“ und schätze „den auf­rich­ti­gen Wunsch unserer chi­ne­si­schen Freunde, zur Lösung des Kon­flikts in der Ukraine mit fried­li­chen Mitteln bei­zu­tra­gen“ bestehe Grund zu Misstrauen.

„China hat seine Über­le­gun­gen dargelegt“

Prä­si­dent Selen­skyj äußerte sich zu den Vor­schlä­gen diplo­ma­tisch: „China hat seine Über­le­gun­gen dar­ge­legt. Ich glaube, dass die Tat­sa­che, dass China begon­nen hat, über die Ukraine zu spre­chen, nicht schlecht ist. Aber die Frage ist, was auf die Worte folgt. Was sind die Schritte und wohin sollen sie führen?” Auf die „Worte“ des Posi­ti­ons­pa­piers folgte nach einem Tele­fo­nat zwi­schen Selen­skyj und Xi Jinping die Ent­schei­dung Chinas, den Son­der­be­auf­trag­ten der chi­ne­si­schen Regie­rung für eura­si­sche Ange­le­gen­hei­ten in die Ukraine und in andere Länder zu ent­sen­den, um mit allen Par­teien ein­ge­hende Gesprä­che über die poli­ti­sche Lösung des Kon­flikts zu führen.

Es folgten auf­fal­lend schnell Taten. Bereits am 15. Mai begann Chinas Son­der­be­auf­trag­ter für eura­si­sche Ange­le­gen­hei­ten, Li Hui, seine aus­ge­dehnte Euro­pa­reise mit Besu­chen in der Ukraine, Polen, Frank­reich, Deutsch­land und in der EU-Zen­trale und endete mit einem Besuch in Russ­land am 26. Mai. Die Rei­hen­folge ist hier wichtig. Der Besuch stif­tete mehr Ver­wir­rung, ins­be­son­dere in der Ukraine, als dass er die Situa­tion geklärt hätte. Aber ein Signal ist kris­tall­klar: China will sich als wich­ti­ger Ver­mitt­ler in diesem inter­na­tio­na­len bewaff­ne­ten Kon­flikt pro­fi­lie­ren. Diese Rolle kann jedoch kaum als unpar­tei­isch ange­se­hen werden, wenn sie jeman­dem über­tra­gen wird, der zehn Jahre lang als Bot­schaf­ter der VR China in Russ­land tätig war.

Neue Dynamik in den Bezie­hun­gen zwi­schen Kiew und Taipeh

Auch wenn die Ukraine offi­zi­ell die „Ein-China-Politik“ unter­stützt, kann die Regie­rung die Unter­stüt­zung durch Taiwan im Krieg nicht igno­rie­ren. Das wie­derum hat die Dynamik der bila­te­ra­len Bezie­hun­gen zwi­schen Kiew und Taipeh seit Februar 2022 ver­än­dert. Taiwan steht aus­drück­lich auf der Seite der Ukraine und ver­ur­teilt das Vor­ge­hen Russ­lands mit einer Par­la­ments­re­so­lu­tion und stren­gen Sank­tio­nen. Zugleich schickt es in großem Umfang huma­ni­täre Hilfe in die Ukraine.

Es ist kein Wunder, dass diese Maß­nah­men der tai­wa­ne­si­schen Behör­den in der Ukraine auf große Zustim­mung stießen. Im Herbst 2022 wurde in der Wer­chowna Rada, dem höchs­ten Rat der Ukraine, eine par­la­ments­über­grei­fende Gruppe zur För­de­rung engerer Freundschafts‑, Handels- und Kul­tur­be­zie­hun­gen mit Taiwan ein­ge­rich­tet, und ukrai­ni­sche Abge­ord­nete stat­te­ten Taiwan Besuche ab. Diese Inten­si­vie­rung der Bezie­hun­gen zu Taipeh ist ein wei­te­rer sen­si­bler Faktor, der die kom­pli­zier­ten Bezie­hun­gen zwi­schen der Ukraine und China noch schwie­ri­ger gestaltet.

Route der Neuen Sei­den­straße betroffen

Von der nach dem 24. Februar 2022 ver­än­der­ten geo­po­li­ti­schen Lage ist auch die Eura­si­sche Land­brü­cke der „Neuen Sei­den­straße“ stark betrof­fen, denn die Haupt­route des „China-Europe Railway Express” nach Westen führte durch Russ­land, Weiß­russ­land, Polen oder die Bal­ti­sche Küste. Die Route ist durch die Ukraine unter­bro­chen und sie führt auch nicht mehr durch Litauen.

Dras­ti­scher Rück­gang des chi­ne­sisch-ukrai­ni­schen Handelsvolumens

Die Kämpfe im Osten und Süden der Ukraine machen inter­na­tio­nale Han­dels­ak­ti­vi­tä­ten in der Region nahezu unmög­lich. Die inter­na­tio­na­len Akteure, dar­un­ter auch China, mussten ihre Aus­sich­ten auf weitere Geschäfts­tä­tig­kei­ten in der Ukraine neu kal­ku­lie­ren. Chi­ne­si­sche Inves­ti­ti­ons­pro­jekte in der Ukraine kamen zum Still­stand oder wurden beeinträchtigt.

Im Jahr 2022 ging der Gesamt­um­satz der Ukraine mit China um 60 Prozent zurück. China verlor zum ersten Mal seit 2017 seine füh­rende Rolle als Ziel­land für ukrai­ni­sche Exporte und wurde im ersten Quartal 2023 von Polen als Haupt­im­por­teur ukrai­ni­scher Waren über­holt. Das Land behielt aber wei­ter­hin die Spit­zen­po­si­tion als Impor­teur in die Ukraine.

Schwie­rige Per­spek­ti­ven für die Zukunft

Vor einem solchen poli­ti­schen Hin­ter­grund wird es sehr schwie­rig sein, mit China selbst rein wirt­schaft­li­che Bezie­hun­gen als „Busi­ness as usual“ wieder auf­zu­neh­men, wenn der Krieg vorbei ist. Da der Krieg noch nicht beendet ist, weiß man nicht genau, wie sich die Posi­tio­nen zu gege­be­ner Zeit ver­än­dern und wie sich dies auf die wei­te­ren Bezie­hun­gen zwi­schen der Ukraine und China aus­wir­ken könnte.

Chinas geo­öko­no­mi­sche Stra­te­gie, sich stärker in Europa zu enga­gie­ren, deutet jedoch darauf hin, dass das Land nach Mög­lich­kei­ten suchen wird, sich nach dem Krieg aktiv am Wie­der­auf­bau der Ukraine zu betei­li­gen, indem es billige und schnelle staat­li­che Kredite anbie­tet oder Inves­ti­tio­nen in Infra­struk­tur und Bau­dienst­leis­tun­gen verspricht.

Kein attrak­ti­ver Wirtschaftspartner

Dadurch, dass es sich als „pro-rus­sisch neutral“ bezeich­net, wird China für die Ukraine jedoch kein attrak­ti­ver Wirt­schafts­part­ner werden. Die Ukraine wird sich mit Blick auf die natio­nale Sicher­heit hüten, bei­spiels­weise in China her­ge­stellte Sen­so­ren für das Ver­kehrs­ma­nage­ment oder Video­über­wa­chungs­an­la­gen zu kaufen, da diese ein poten­zi­el­les Mittel zum Sammeln von Infor­ma­tio­nen sind, die unter anderem den Stand­ort ukrai­ni­scher Truppen und Waffen ver­ra­ten könnten.

Diese Über­le­gun­gen schrän­ken – zusätz­lich zur Ambi­va­lenz der Bezie­hun­gen und den anderen Fak­to­ren, die Anlass zur Besorg­nis geben – die wirt­schaft­li­chen Aus­sich­ten Chinas in der Ukraine zumin­dest in nächs­ter Zukunft erheb­lich ein.

Portrait von Osmolovska

Iuliia Osmo­lovska ist geschäfts­füh­rende Direk­to­rin des GLOBSEC Kyiv Office und ehe­ma­lige ukrai­ni­sche Diplomatin.

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