„Butterfly Vision“
Der Film des jungen ukrainischen Regisseurs Maksym Nakonechnyi zeichnet auf eindrückliche Weise die Narben nach, die die russische Kriegsgefangenschaft auf Seele und Körper einer ukrainischen Soldatin hinterlassen hat. Eine Filmrezension von Julia Schneider
Das Ukrainian Filmfestival findet von 26. – 30. Oktober in Berlin statt. Hier geht es zum Programm.
Das Flugzeug landet, die Heckklappe öffnet sich. Ein Orchester beginnt die ukrainische Nationalhymne zu spielen, ein Offizier salutiert der ersten Person, die das Flugzeug verlässt. Die Menge grölt „Ruhm den Helden“. Eine Livereporterin drängt sich durch die Menschenmenge und erklärt, dass hier fünf Veteranen aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkehren. Unter ihnen befindet sich nur eine Frau, Lilia. Die junge Luftabwehrspezialistin mit dem Decknamen „Schmetterling“ befand sich für knapp zwei Monate in russischer Kriegsgefangenschaft, bevor sie mit ihrem Ehemann und ihrer Familie wiedervereint sein konnte. Im Livestream schreiben die Zuschauer über sie, sie habe „Eier aus Stahl“, andere fragen, was mit ihren schönen Haaren passiert sei. Butterfly Vision ist ein Film über die weibliche Erfahrung des Krieges und der Kriegsgefangenschaft, mit all ihren Widersprüchen und Konsequenzen, die über das Trauma weit hinausgehen.
Regie führte Maksym Nakonechnyi, das Drehbuch schrieb er gemeinsam mit Iryna Tsilyk. Der junge ukrainische Regisseur produzierte zuvor insbesondere Dokumentarfilme, Butterfly Vision ist sein Spielfilmdebüt. Der Film wurde vor der großflächigen russischen Invasion fertiggestellt. Mit dem 24. Februar 2022 wurde das Thema ihres Films zu einem Schicksal, das viele Frauen erleben müssen. Kürzlich wurden in einem Gefangenenaustausch 108 Frauen freigelassen, die im Azov-Stahlwerk in Mariupol gefangen genommen wurden, unter ihnen Soldatinnen wie Zivilistinnen.
Während Lilia mit einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit nach ihrer Rückkehr von einer Gynäkologin auf sexuell übertragbare Krankheiten untersucht wird, drängt sich eine Frage, die unausgesprochen doch omnipräsent den Film begleitet, immer weiter in den Vordergrund: Lilia befürchtet, schwanger zu sein. Ihre Angst bewahrheitet sich. Butterfly Vision zeigt, dass die Kriegsgefangenschaft mit der Freilassung noch lange nicht endet.
Die Kriegsgefangenschaft, sowie die daraus folgende Schwangerschaft, zersprengen Lilias Leben und das ihrer Familie. Die Hauptdarstellerin Rita Burkovska schafft es, die Anspannung, unter der Lilia steht, vom Bildschirm in den Zuschauerraum zu übertragen. In einem Moment wirkt Lilia, als würde das Geschehen um sie herum an ihr vorbeiziehen, im nächsten Moment steht sie mit einer überwältigenden Willenskraft für ihre Entscheidungen und ihre Zukunft ein. Es ist Rita Burkovskas schauspielerische Leistung, die Lilias Zustand zwischen Apathie, Stress, Verletzlichkeit und Lebenswillen vermittelt.
Das Sounddesign verleiht dem Film seine übergeordnete Stimmung. Das intensive Brummen einer Drohne begleitet Lilia stetig und übertönt alle anderen Geräusche in ihrem Leben. Es taucht gepaart mit blitzartigen Störungen auf, die Ausschnitte aus Lilias Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft durchblitzen lassen. Diese Glitches lassen uns die Brutalität ihrer Erfahrungen nur erahnen und zeigen die tiefen psychologischen (und physischen) Narben auf, die die Kriegsgefangenschaft bei ihr hinterlassen hat. Kombiniert werden sie mit Spezialeffekten, wie Schmetterlingen in Übergröße, oder dystopischen Aufnahmen von Kratern im Zentrum von Kyjiw. Gemeinsam zeichnen sie ein zermürbendes Bild. Es wird klar, dass Lilia nicht nur vor der Herausforderung steht, ihr Trauma zu verarbeiten, sondern auch mit den Reaktionen auf ihre Rückkehr umzugehen, die keinesfalls so positiv bleiben wie in der Einstiegssequenz des Filmes.
Butterfly Vision offenbart die Vielschichtigkeit der Herausforderungen und Gewaltformen, mit der weibliche Soldatinnen im Krieg konfrontiert sind. Die Spezialeffekte, das Sounddesign, die schauspielerische Meisterleistung sowie authentische Dialoge und Kameraarbeit machen den Film zu einem nahezu unerträglichen und ergreifenden Filmerlebnis.
Diese Filmkritik ist im Workshop „Young Film Critics“ des Ukrainian Filmfestival Berlin entstanden. Gefördert mit Mitteln für Filmfestivalförderung de⁺ des Goethe-Instituts in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland. Das dritte ukrainische Filmfestival findet vom 26. – 30. Oktober in Berlin statt.
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