Die zweite Belagerung von Mariupol
Seit der Eröffnung der Krim-Brücke erhöht Moskau systematisch den Druck auf Mariupol. Die Seeblockade im Asowschen Meer ist deshalb nichts weniger als eine Fortsetzung der militärischen Eroberungsversuche mit anderen Mitteln. Von Gustav Gressel
Der Krieg im Donbas rückte Mariupol, eine ukrainische Hafenstadt am Asowschen Meer mit etwa 450.000 Einwohnern, in den Blick der internationalen Öffentlichkeit. Nach Donezk ist Mariupol die zweitgrößte Stadt des Donezker Oblasts, wichtiges Zentrum der Stahlverarbeitung (einst eines der Hauptexportgüter der Ukraine) sowie auch der bedeutendste Tiefseehafen des Donbas, über den die Erzeugnisse der Region verladen und verschifft wurden. Schon im April und Mai 2014 stand Mariupol im Visier russischer Spezialkräfte. Mit Hilfe panrussischer Aktivisten, die durch den russischen Armeegeheimdienst GRU organisiert wurden, suchten sie einen Anschluss an die Volksrepublik Donezk herbeizuführen. Die Stadt wurde auch kurzzeitig durch Rebellen besetzt, aber schon im Juni 2014 wieder von der ukrainischen Armee befreit.
Die Bevölkerung ist überwiegend russischsprachig. Wie alle Städte des Donbas wurde die Stadt von 1941 bis 1943 durch die Wehrmacht quasi entvölkert. Nach 1945 wurden Neuansiedler aus allen Teilen der Sowjetunion herangekarrt, um die industrielle Produktion wieder anzuwerfen. Allerdings hatte Sprache in der Ukraine kaum identitätsstiftende Funktion – in den Umlandgemeinden werden ukrainische Dialekte gesprochen, Bewohner sind von klein auf zweisprachig sozialisiert. Daher blieb auch der von Russland erhoffte Aufstand aus. Im Gegenteil, nachdem die Bewohner von Mariupol dem Treiben der russischen Separatisten zusehen mussten, versteifte sich die Ablehnung gegenüber der russischen Okkupation zusehends. Nach der Befreiung erlebten Freiwilligenbatallione der ukrainischen Nationalgarde hohen Zuspruch aus der Bevölkerung. Insbesondere das im Westen kritisch beäugte Azow-Batallion ist aus dem Straßenbild der Stadt kaum wegzudenken. Es hat bei der Verteidigung der Stadt eine maßgebliche Rolle gespielt und rekrutiert sich vorwiegend aus der Region.
Russische Versuche, Mariupol zu erobern, scheiterten 2014
Seit Juni 2014 unternahm die russische Armee mehrere Versuche, die Stadt zu nehmen oder zumindest einzuschließen. Im August erfolgte ein von Rostow angeführter Vorstoß der russischen Armee entlang des Asowschen Meeres bis an die Außenbezirke der Stadt. Die russische Armee kontrollierte damit die Höhenlagen im Osten der Stadt und konnte das gesamte Stadtgebiet gezielt unter Artilleriebeschuss nehmen. Artillerie- und Mehrfachraketenwerfer beschossen Wohnanlagen und öffentliche Gebäude (die weitgehende Verschonung von Industrieanlagen geht vermutlich auf „Freikaufen“ durch deren Besitzer, insbesondere Achmetow zurück) um den Widerstandswillen der Bevölkerung zu brechen. Sie bewirkten allerdings das Gegenteil. Erst im April 2015 konnte die ukrainische Armee diese Höhen und die dahinter liegende Ortschaft Shirokine nach blutigen Gefechten zurückerobern und so die Stadt aus der unmittelbaren Schusslinie nehmen. Dennoch erfolgten im Juni 2015 nochmals ein Versuch der russischen Armee, die Stadt im Norden zu umfassen. Der Angriff scheiterte, und in Teilen konnte die ukrainische Armee auch weitere Höhenlage zurückgewinnen. Seitdem herrscht Stellungskrieg rund um die Stadt. Nach Einbruch der Dunkelheit, wenn auch die Geräusche der Stadt leiser werden, hört man das dumpfe Grollen der Artillerie. Nacht für Nacht.
„Russland in dieser Frage widerspruchslos gewähren zu lassen, leistet einer weiteren Eskalation des Konflikts Vorschub. Angesichts der angespannten militärischen Lage um Mariupol ist es grob fahrlässig, untätig zu bleiben und zu hoffen, dass sich die Spannungen von alleine legen.“
Das wirtschaftliche Überleben Mariupols ist ein Wunder
Die Stadtverwaltung von Mariupol hat seither keinen einfachen Stand. In den Wahlen 2014 setzte sich der „Oppositionsblock“ als stärkste Kraft durch. Daher hat der Bürgermeister bei der Regierung in Kiew kein gutes Ohr. Allerdings besteht seine Mannschaft aus jungen, meist unter 40 jährigen Quereinsteigern, die mit den alten Apparatschiks der Partei der Regionen wenig gemein haben. Sie standen vor der nicht leichten Aufgabe, Mariupol zur neuen Hauptstadt des Donezker Obasts zu machen – präziser jener Teile des Oblasts die nicht von der russischen Armee besetzt sind. Eine zentrale Herausforderung war es, die entsprechende Infrastruktur aufzubauen: neben Verwaltung und Sicherheitsbehörden auch ein Ausbau der Universität, der weiterführenden Schulen, Ausbau der Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen (die kriegsbedingt dringend gebraucht werden) und der Verkehrsinfrastruktur. Hinzu kommt ein Wohnbauprogramm für die zahlreichen Kriegsflüchtlinge, die heute etwa 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Schließlich galt es den Mariupoler Großbetrieben durch eine schwierige Zeit der Umstellung zu helfen. Während die Stahlwerke weltweit exportieren, waren vor allem der Maschinbau sowie die Lokomotiv- und Wagonbauwerke auf Kunden im postsowjetischen Raum ausgerichtet, der nun durch den Krieg und die Transitblockade Russlands (ukrainische Güter dürfen nicht durch Russland nach Kasachstan oder andere postsowjetische Staaten exportiert werden) wegfiel. Dennoch konnten die sozialen Auswirkungen der Auftragseinrüche weitestgehend abgefedert werden. Ab Herbst 2016 begannen sich die Auftragsbücher wieder zu füllen und man belieferte Kunden in Asien, dem mittleren Osten, der Türkei, und Lateinamerika. Angesichts der gewaltigen Schwierigkeiten, vor denen die Stadt steht, ist das wirtschaftliche Überleben Mariupols ein kleines Wunder.
Karte des Schwarzen Meers
Militärische Überlegenheit Russlands ermöglicht Schikanen
Vor diesem Hintergrund ist die nun durch Russland ins Leben gerufene Seeblockade Mariupols eine Fortsetzung der militärischen Eroberungsversuche mit anderen Mitteln. Bereits die Errichtung der Brücke über die Straße von Kertsch hatte für Mariupol einschneidende Wirkung. Es können nur Schiffe bis zu einer Höhe von 35m über der Wasserlinie durch die Brücke passieren. In Mariupol werden vor allem Rohstahl und Großmaschinen hergestellt, deren Verladung auf Schwergutfrachtern erfolgt. Die Einschränkung in der Höhe führt dazu, dass nur noch wenige dieser Schiffe den Hafen anlaufen können. Zudem begann die russische Marine im Herbst 2017 die Straße von Kertsch verstärkt zu kontrollieren und gelegentlich für Übungen komplett zu sperren. Seit Juni 2018 hält Russland Schiffe, die Mariupol und den Nachbarhafen Berdjansk anlaufen, tagelang unter dem Vorwand von Inspektionen fest.
Die Ukraine hat diesbezüglich bereits 2016 Klage in Den Haag wegen Verstoß gegen die internationale Seerechtskonvention von 1982 eingebracht. Aus ukrainischer Sicht ist das Azowsche Meer ein Binnenmeer, und die Ukraine hat somit das Recht auf freien Zugang zur hohen See. Untermauert wird dieses Argument durch den ukrainisch-russischen Kooperationsvertrag zur gemeinsamen Nutzung des Asowschen Meeres aus dem Jahr 2003. Darin erklärten beide Staaten das Asowsche Meer zu einem Binnenmeer. Russland hingegen vertritt seit 2014 die Ansicht, das Asowsche Meer sei eine Meeresbucht. Russland könne deshalb über seine territorialen Gewässer frei verfügen und dementsprechend Schiffe willkürlich festhaltern oder diesen die Durchreise verwehren. Das russische Vorgehen stützt sich allerdings weniger auf rechtliche Argumente als auf die enorme militärische Überlegenheit der russischen Schwarzmeerflotte.
Erhöhter russischer Druck als Vorspiel größerer russischer Operationen?
Russland will durch diese Blockade den wirtschaftlichen Druck auf Mariupol erhöhen und seine Einschüchterungs- und Ermattungstaktik durch eine maritime Komponente ergänzen. Gleichzeitig mit der Seeblockade kam es auch zu mehreren militärischen Zwischenfällen um den Vorort Schirokine. Der Artilleriebeschuss durch russische Streitkräfte nahm im Juli und August 2018 erheblich zu. Auch übte die russische Schwarzmeeflotte im Sommer amphibische Operationen im Asowschen Meer und in der Straße von Kertsch. Die ukrainische Armee befürchtet durch einen russischen Angriff von See aus umfasst zu werden. Auch kam es im Sommer zu einer erhöhten Tätigkeit von Störsendern, Propagandaaktionen und Tätigkeiten subversiver russischer Organisationen. Der ukrainische Geheimdienst SBU ist damit beschäftigt, in einem ständiges Katz- und Maus-Spiel mit seinem Donezker „Gegenstück“ MGB nach Mariupol eingeschleuste Agenten und Provokateure zu enttarnen. Sowohl der SBU als auch die ukrainische Armee gehen davon aus, dass diese erhöhten Aktivitäten zur Vorbereitung größerer russischer Operationen gegen Mariupol dienen könnten.
Reaktion des Westens ist zurückhaltend
Aus dem Westen ist derzeit wenig über die Lage am Asowschen Meer zu hören. Sich zumindest der völkerrechtlichen Sicht der Ukraine anzuschließen und auf einen freien Zugang für die zivile Schifffahrt zu pochen, würde die Europäer nicht viel kosten und sich auch mit der Position der EU zu anderen strittigen Auslegungen der internationalen Seerechtskonvention decken. Das Verhalten Russlands stellt einen weiteren Völkerrechtsbruch dar, der durch eine Verschärfung der Sanktionen gegen Moskau beantworten werden sollte. Leider ist in dieser Frage die EU weit gespaltener als 2014. So konnte man sich auch nach dem Giftgas-Anschlag von Salisbury nicht auf eine gemeinsame Antwort einigen.
„Der einzige NATO-Staat, der hier wirklich einen Hebel gegenüber Moskau in der Hand hat, ist die Türkei.“
Einzig die Türkei hätte Einfluss auf Russlands Handeln
Der einzige NATO-Staat, der hier wirklich einen Hebel gegenüber Moskau in der Hand hat, ist die Türkei. Denn das Schwarze Meer ist auch ein Binnenmeer, dessen Zugang ausschließlich durch territoriale Gewässer der Türkei erfolgt. Dass die Türkei die Dardanellen offenhält, ist für den russischen Nachschub für Syrien strategisch wichtig. Würde sich die Türkei mit der Ukraine solidarisieren und sich reziprok verhalten, müsste Moskau seine Haltung umgehend ändern. Doch die Chancen, dass Erdogan sich dazu bewegen lässt, stehen gegen Null. Im Gegenteil, die strategische Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei ist seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 sehr eng geworden. Erdogan koordiniert seine militärischen Operationen in Syrien eng mit Moskau und hat kein Interesse, Russland im Weg zu stehen. Es benutzt die Konvention von Montreux eher dazu, die US Navy und die verbündeten Flotten von NATO-Staaten aus dem Schwarzen Meer heraus zu halten und sichert damit indirekt der russischen Marine volle Handlungsfreiheit gegen die Ukraine.
Russland in dieser Frage widerspruchslos gewähren zu lassen, leistet einer weiteren Eskalation des Konflikts Vorschub. Angesichts der angespannten militärischen Lage um Mariupol ist es grob fahrlässig, untätig zu bleiben und zu hoffen, dass sich die Spannungen von alleine legen. Abgesehen von den erheblichen ökonomischen Kosten, die der Ukraine durch den Ausfall von Mariupol als Exporthafen entstehen, wird Russland seinen militärischen Druck auf die ukrainische Küste weiter verschärfen. Man muss davon ausgehen, dass der Kreml das Ziel beharrlich weiterverfolgt, Mariupol und den Südosten der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Es wird höchste Zeit, diesen Plänen einen Riegel vorzuschieben, bevor es zu neuem Blutvergießen kommt.
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