Zwischen Exil, Erinnerung und Engagement: Krimtataren in Deutschland

Die russische Besatzung der Krim im Jahr 2014 und die Vollinvasion der Ukraine im Jahr 2022 vertrieb viele Menschen aus ihrer Heimat. Insbesondere die indigene Bevölkerung der Krim, die Krimtataren: Ihre Geschichte ist geprägt von Verfolgung, Deportation und jahrzehntelanger brutaler Unterdrückung durch das sowjetische Regime. Elnara Nuriieva-Letova und Elvis Çolpuh, zwei krimtatarischen Aktivist:innen in Deutschland, berichten über ihre Flucht aus der Heimat, die bleibenden Wunden der Vergangenheit und ihr politisches Engagement im Aufnahmeland.
Elnara: Von der IT-Welt an die Informationsfront
Elnara war viele Jahre als IT-Projektmanagerin tätig – bis zur Eskalation des Krieges im Jahr 2022. Die Invasion war ein Wendepunkt: „Ich habe beschlossen, meinen Beruf zu wechseln“, sagt sie. Gemeinsam mit Emil Ibrahimov und Muslim Umerov gründete sie unter der Leitung des ukrainischen Journalisten Osman Pashayev, das unabhängige Medienprojekt CEMAAT (Krimtatarisch für „Volk“, „Gemeinschaft“). Das Projekt hat sich der Sichtbarkeit krimtatarischer Stimmen verschrieben. Elnara ist dort als Projektleiterin und Autorin tätig. Bei CEMAAT werden gesellschaftlich relevante Nachrichten aus der Ukraine, insbesondere von der Krim, veröffentlicht – und das gleich in mehreren Sprachen, vor allem aber in der vom Aussterben bedrohten Sprache der Krimtataren selbst. Zudem bietet CEMAAT eine Plattform für den Austausch von Ideen und sorgt für Sichtbarkeit und ein repräsentatives Bild der krimtatarischen Gemeinschaft.
Gleichzeitig leitet Elnara ein crossmediales Projekt über krimtatarische Artefakte in Deutschland. Das Projekt wird durchgeführt zusammen mit der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und mit dem Institut für Caucasica‑, Tatarica- und Turkestan-Studien (ICATAT). Es umfasst eine Anthologie, eine Dokumentarfilmreihe und die Digitalisierung von Archiven.
Elvis: Geflohen, um die eigene Meinung äußern zu können
Der Tag 24. Februar 2022, der Tag des russischen Großangriffs gegen die gesamte Ukraine, war für Elvis ein Schlüsselmoment: Schon 2014, nachdem russische Truppen die Krim besetzt hatten, dachte Elvis darüber nach, aus seiner Heimat zu fliehen. Doch er blieb, auch wegen seiner Familie, mit der zusammen er sein Recht auf Heimat nicht aufgeben wollte. Acht Jahre lang versuchte er, sich mit der Situation zu arrangieren. Doch die Verhaftung des krimtatarischen Politikers und Journalisten Nariman Dzhelyal im September 2021 sowie zunehmende Repressionen gegen die Krimtataren auf der Krim ließen das Schweigen unerträglich werden. Der 24. Februar 2022 brachte das Fass schließlich zum Überlaufen: Kurz darauf floh Elvis aus seiner Heimat, er verließ die von Russland besetzte Halbinsel.
Heute organisiert Elvis im deutschen Exil Ausstellungen, Konzerte, Gedenkveranstaltungen. Er will auf die Geschichte der Krimtataren aufmerksam machen:
„Wir organisieren kulturelle Veranstaltungen in ganz Deutschland. Damit machen wir die wahre Geschichte der Krim und die Existenz ihrer indigenen Bevölkerung, der Krimer (Krimtataren), für die Europäer sichtbar. Wir zerstören die russischen Mythen von einer angeblich „ursprünglich russischen“ Krim und geben ihr ihre wahre Stimme zurück.“
Und sein Engagement hat ein weiteres, sehr konkretes, Ziel: Die Anerkennung der Deportation von 1944 als Völkermord – durch den Bundestag und das Europäische Parlament. In der Anerkennung der Vergangenheit liegt der Schlüssel für den Umgang mit der Gegenwart, betont Elvis, denn: „Straflosigkeit für Verbrechen der Vergangenheit ist die Grundlage für Verbrechen der Gegenwart.“
18. Mai – ein Tag kollektiver und persönlicher Erinnerung
Der 18. Mai 1944 ist für die indigene Bevölkerung der Krim ein historisches Trauma, das bis heute nachwirkt: Es markiert die Deportation der Krimtataren durch das sowjetische Regime. Ein Tag, der für Elvis mit der sehr persönlichen Tragödie seiner Familie verbunden ist:
„Meine Urgroßmutter verlor ihre Tochter während der Deportation, sie starb. Die Leiche des Kindes wurde von Soldaten der Roten Armee daraufhin einfach aus einem Waggon irgendwo in der kasachischen Steppe geworfen. Der Sohn meiner Urgroßmutter, mein Großvater, war damals erst sieben Jahre alt war. Auf dem Weg, während der Deportation, erkrankte er schwer. Seine Mutter hatte sich bereits mit dem Gedanken abgefunden, auch ihn zu verlieren. Ihr einziger Wunsch war es, dass seine Leiche nicht auch aus dem Zug geworfen würde, damit sie ihn wenigstens begraben könnte.
Als sie in Usbekistan ausgesetzt wurden, wusch meine Urgroßmutter seinen Körper und bat einen alten Mann aus der Gegend, ein Gebet für den noch lebenden Jungen zu sprechen. Aber er überlebte. Und nach einem halben Jahrhundert der Verbannung kehrte er in seine Heimat zurück. Doch als er sein Elternhaus besuchen wollte, wurde ihm der Zutritt verwehrt.“
Verbrechen, wie sie in zahlreichen Familien der Krimtataren erlebt wurden. Und die bis heute folgenlos blieben. Für Elnara ist es daher wichtig, am 18. Mai an die vergangenen Verbrechen zu erinnern und zugleich auf die Kontinuität zum heutigen Russland hinzuweisen:
„Der 18. Mai ist für mich ein Tag, an dem wir uns an die Verbrechen erinnern, die die sowjetische Regierung 1944 begangen hat. Wir mahnen, dass die Sowjetunion weder Verantwortung dafür übernommen noch ihre Schuld anerkannt hat. Und genau diese Straflosigkeit erlaubt es Russland, heute noch größere Verbrechen zu begehen. Der 18. Mai ist ein Anlass, daran zu erinnern, dass das Böse bestraft werden muss. Andernfalls wird es weiterwachsen.“
„Nichts über die Krim ohne die Krimtataren“
Elnara und Elivs: Zwei Aktivist:innen, die mit ihrer Arbeit Brücken zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland bauen. „Wir haben ein gemeinsames Ziel: Die Krim so schnell wie möglich zu befreien.“ – sagt Elvis. Seit Jahren verbreitet die russische Propaganda kolonialistische Narrative zur Geschichte der Krim. Die indigene krimtatarische Bevölkerung wird darin als Feinde dargestellt. Insbesondere in Deutschland verfängt dieses faktisch falsche Narrativ. Aufklärungsarbeit ist daher umso wichtiger: über die wahre Geschichte und Gegenwart der Krim. Dafür muss die Perspektive der Krimtataren unbedingt mit einbezogen werden, betonen Elvis und Elnara und fordern: „Nichts über die Krim ohne die Krimtataren.“
Die Aktivitäten der krimtatarischen und ukrainischen Aktivist:innen haben bereits viel bewirkt: Das Wissen über und das Interesse an der Krim und ihrer indigenen Völker sind in Deutschland heute viel stärker spürbar als noch im Jahr 2014. Und doch braucht es weitere finanzielle und personelle Ressourcen für ihre Arbeit, erklärt Elnara: „Wir brauchen personelle Verstärkung, finanzielle Unterstützung, Übersetzer:innen und deutschsprachige Aktivist:innen.“
Die Stimmen aus dem Exil werden lauter und hörbarer
Die Geschichten von Elnara und Elvis zeigen eindrucksvoll, wie Engagement im Exil trotz der schmerzhaften Erfahrungen von Krieg und Vertreibung aussehen kann: Kreativ, politisch, historisch, aufklärerisch. Ihre Arbeit ist weit mehr als eine bloße Reaktion auf aktuelle Ereignisse, sie ist Teil eines langen Kampfes um Wahrheit, um Identität und um kulturelle Selbstbestimmung. In Deutschland bauen sie Brücken, sie schaffen Öffentlichkeit – und sie fordern, was längst überfällig ist: Gerechtigkeit.
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