Sün­den­bock für Stromausfälle?

Wolodymyr Kudryzkyj
Foto: IMAGO /​ Avalon.red

Im Schat­ten der jüngs­ten Ent­hül­lun­gen droht es fast unter­zu­ge­hen – doch der Fall von Wolo­dymyr Kudryz­kyj schlug jüngst hohe Wellen. Ohne dass stich­hal­tige Beweise vor­la­gen, wurde gegen den eins­ti­gen Chef des staat­li­chen Strom­netz­be­trei­bers Ukren­erho ein Straf­ver­fah­ren eröff­net, der Vorwurf: Ver­un­treu­ung und Amts­miss­brauch. Nam­hafte Akteur:innen der Zivil­ge­sell­schaft ver­mu­ten poli­ti­sche Motive und stell­ten sich hinter den Beschuldigten.

Die Lage der Ener­gie­ver­sor­gung in der Ukraine war schon vor Beginn des Winters schwie­rig: Seit dem 10. Oktober greift die rus­si­sche Armee Kraft­werke und Strom­netze gezielt und massiv an. Längere Strom­aus­fälle gehören seither erneut zum Alltag der Men­schen – vor allem in Kyjiw und den Gebie­ten nahe der Front.

In diese ange­spannte Zeit platzte Ende Oktober eine Nach­richt, die das poli­ti­sche Kyjiw erschüt­terte: Der ehe­ma­lige Geschäfts­füh­rer des staat­li­chen Strom­netz­be­trei­bers Ukren­erho, Wolo­dymyr Kudryz­kyj, wurde kurz­zei­tig in Unter­su­chungs­haft genom­men. Zwar kam er wenig später gegen Zahlung einer Kaution vorerst wieder auf freien Fuß – doch die Wellen schlu­gen hoch. Das Staat­li­che Ermitt­lungs­büro wirft Kudryz­kyj vor, beim Abschluss von Ver­trä­gen mit einer pri­va­ten Firma für den Bau von Zäunen für Umspann­werke umge­rech­net fast 300.000 Euro ver­un­treut zu haben – und zwar schon 2018, vor sieben Jahren also, als er noch stell­ver­tre­ten­der Chef von Ukren­erho war.

Vor­ge­hen gegen Kri­ti­ker „poli­tisch motiviert“?

Kor­rup­ti­ons­ver­dacht in der ukrai­ni­schen Ener­gie­bran­che – das wäre an sich kaum über­ra­schend. Doch in diesem Fall traten gleich mehrere Par­la­ments­ab­ge­ord­nete und Vertreter:innen von Anti­kor­rup­ti­ons­or­ga­nen für den Beschul­dig­ten ein. Sie erklär­ten, gebe es kei­ner­lei begrün­de­ten Vorwurf gegen Kudryz­kyj und äußer­ten die Ver­mu­tung, hier werde ein Sün­den­bock für den pre­kä­ren Zustand der Ener­gie­ver­sor­gung im Land gesucht.

Man erin­nerte sich daran, wie Kudryz­kyj im Sep­tem­ber 2024 nach damals schon schwe­ren rus­si­schen Angrif­fen auf die Ener­gie­ver­sor­gung über­ra­schend als Chef von Ukren­erho ent­las­sen worden war – eine Ent­schei­dung, die heftig kri­ti­siert wurde: Zwei Mit­glie­der des Auf­sichts­rats legten damals aus Protest ihre Ämter nieder und bezeich­ne­ten die Ent­las­sung als „poli­tisch moti­viert“. Immer wieder hat Kudyz­kyj seither öffent­lich die Kor­rup­tion bei Ukren­erho kritisiert.

Selen­skyj weist Ver­ant­wor­tung von sich

Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj betonte auf einer Pres­se­kon­fe­renz am 7. Novem­ber, er stehe in kei­ner­lei per­sön­li­cher Bezie­hung zu Kudryz­kyj, der Fall sei eine reine Ange­le­gen­heit der Ermitt­lungs­or­gane. Der Beschul­digte habe „an der Spitze eines großen Systems“ gestan­den, „welches die Sicher­heit unserer Ener­gie­ver­sor­gung gewähr­leis­ten sollte. Das hätte er tun müssen, hat es aber nicht getan“, so der Prä­si­dent.

Kudryz­kyj selbst weist die Vor­würfe zurück: „Es gab kei­ner­lei Vorsatz oder Betrug“, sagte er bei der Anhö­rung im Gerichts­saal. „Ich hatte keinen Kontakt zu dem Unter­neh­men, das den Zuschlag erhielt – bis auf das übliche Ver­fah­ren zur Unter­zeich­nung solcher Ver­träge.“ Laut dem Staat­li­chen Ermitt­lungs­büro, dem ukrai­ni­schen Pendant zum US-ame­ri­ka­ni­schen FBI, sei der Lwiwer Unter­neh­mer Ihor Hryn­ke­vych in den Fall invol­viert – ein zwie­lich­ti­ger Geschäfts­mann, der bereits im Ver­dacht steht, für Unsum­men min­der­wer­tige Klei­dung für die ukrai­ni­schen Streit­kräfte gekauft zu haben.

Vor­gänge liegen sieben Jahre zurück

Beide Par­teien sollen zwei Ver­träge in Höhe von umge­rech­net 1,4 Mil­lio­nen Euro abge­schlos­sen haben. Dabei hat Ukren­erho der Firma von Hryn­ke­vych eine Vor­aus­zah­lung von rund 300.000 Euro gewähr­leis­tet, ohne dass die Arbei­ten je aus­ge­führt wurden. Das Ermitt­lungs­büro sieht darin Vorsatz. Im Fall einer Ver­ur­tei­lung drohen Kudryz­kyj und seinem ver­meint­li­chen Kom­pli­zen Frei­heits­stra­fen von bis zu zwölf Jahren.

„Ich kannte Ihor Hryn­ke­vych weder damals noch heute“, sagte Wolo­dymyr Kudryz­kyj in einem aus­führ­li­chen Inter­view mit dem öffent­li­chen Sender Sus­pilne. Ihm sei „ledig­lich bekannt, dass [dessen] Name mit Ver­un­treu­ung im Ver­tei­di­gungs­be­reich in Ver­bin­dung gebracht wird.“ Zum frag­li­chen Zeit­punkt 2018 habe es eine öffent­li­che Aus­schrei­bung gegeben, die die Firma gewon­nen habe, die den nied­rigs­ten Preis bot.

Dar­auf­hin sei er als Direk­tor für Inves­ti­tio­nen von Ukren­erho ver­pflich­tet gewesen, die de facto schon abge­schlos­se­nen Ver­träge zu unter­schrei­ben – zumal deren Nicht­un­ter­zeich­nung deut­lich mehr Fragen auf­ge­wor­fen hätte. Ukren­erho habe eine Vor­aus­zah­lung an die Firma von Ihor Hryn­ke­vych getä­tigt, die in solchen Fällen voll­kom­men üblich sei. Das Unter­neh­men habe seine Ver­pflich­tun­gen nicht erfüllt, also habe die Bank, die für den Vertrag bürgte, die Vor­aus­zah­lung samt einer ent­spre­chen­den Strafe zurückgezahlt.

Alles ord­nungs­ge­mäß zurückgezahlt

Diese Sicht­weise teilt auch Yaros­lav Zhe­lez­niak, oppo­si­tio­nel­ler Abge­ord­ne­ter der Partei Stimme, der sich inten­siv mit Wirt­schafts­the­men und dem Kampf gegen Kor­rup­tion beschäf­tigt. Die Bank habe die frag­li­che Summe zurück­ge­zahlt, Ukren­erho sei kein Schaden ent­stan­den. „Was hat das mit Kudryz­kyj zu tun?“, fragt der Abge­ord­nete, der die Gerichts­ver­hand­lun­gen vor Ort beob­ach­tete. „Ja, formell hat er den ent­spre­chen­den Vertrag nach der Aus­schrei­bung unter­schrie­ben – das war fak­tisch das einzig Mög­li­che, was er in dieser Situa­tion tun konnte.“

Auch der Invest­ment­ban­ker und Finanz­ex­perte Serhii Fursa ver­mu­tet hinter dem Vor­ge­hen gegen Kuryz­kyj eine poli­ti­sche Moti­va­tion. Die Frage sei: „Ist dies der Versuch, einen Sün­den­bock für die Pro­bleme mit der Strom­ver­sor­gung zu finden – oder eher poli­ti­sche Ver­fol­gung auf­grund klein­li­cher Rache[gefühle]?“. Beides sei denkbar, so Fursa.

Große Teile der Ener­gie­ver­sor­gung zerstört

Tat­säch­lich leiden schon vor Beginn des Winters viele Men­schen in der Ukraine unter den Schäden, die durch rus­si­sche Luft­an­griffe am Ener­gie­ver­sor­gungs­sys­tem ent­stan­den sind. Bereits während des mas­si­ven Beschus­ses in der Nacht zum 10. Oktober sollen die beiden wich­tigs­ten Wär­me­kraft­werke in Kyjiw emp­find­lich getrof­fen worden sein. Inzwi­schen leben die Einwohner:innen der Haupt­stadt den größten Teil des Tages ohne Strom. Plan­mä­ßig Strom­aus­fälle dauern nicht mehr nur drei oder vier, sondern regel­mä­ßig sieben bis acht Stunden.

Neben den Ermitt­lun­gen gegen Kudryz­kyj löste dies eine erneute Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Wolo­dymyr Selen­skyj und Kyjiws Bür­ger­meis­ter Vitali Klit­schko aus, in der der Prä­si­dent Klit­schko zumin­dest indi­rekt vorwarf, die Kraft­werke in der Haupt­stadt nicht aus­rei­chend geschützt zu haben – etwa durch Beton­an­la­gen, die Zer­stö­run­gen durch Drohnen abmil­dern könnten.

Regie­rung steht in schlech­tem Licht da

Der Gedanke, in dieser Situa­tion werde nach einem Sün­den­bock gesucht, den man für die Schwie­rig­kei­ten im Strom­be­trieb ver­ant­wort­lich machen kann, ist deshalb nicht voll­kom­men abwegig. Schließ­lich waren frühere Pro­gno­sen für den kom­men­den Winter ver­hal­ten opti­mis­tisch aus­ge­fal­len. Mög­li­cher­weise erschien Kudryz­kyj hier als nahe­lie­gen­des Opfer: Seit seinem Amts­an­tritt als Geschäfts­füh­rer von Ukren­erho 2020 hatte er im Dau­er­kon­flikt mit Herman Haluscht­schenko gelegen, der damals als Ener­gie­mi­nis­ter die Zen­tra­li­sie­rung vor­an­trieb, während Kur­dyz­kyj für eine Libe­ra­li­sie­rung der Ener­gie­bran­che eintrat und mehr private Inves­ti­tio­nen for­derte. 2024 soll sich Haluscht­schenko für die Ent­las­sung von Kudryz­kyj stark gemacht haben – seit diesem Sommer war er Justizminister.

Dass wenig später ein Ver­fah­ren gegen Kudryts­kyj eröff­net wurde, mag Zufall sein – oder auch nicht. Was der Regie­rung in Kyjiw jedoch sehr zu denken geben sollte: Nach dem Versuch, die Befug­nisse der Anti­kor­rup­ti­ons­or­gane ein­zu­schrän­ken und der Aus­bür­ge­rung des umstrit­te­nen Bür­ger­meis­ters von Odesa ist dies bereits der dritte Fall in kurzer Zeit, bei dem die Staats­füh­rung in keinem beson­ders guten Licht dasteht. Dass durch die jüngs­ten Ent­hül­lun­gen Bewe­gung in Fragen nach Kor­rup­tion auf höchs­ter Ebene und die Ver­tei­lung von Macht kommt, erscheint da als Schritt in die rich­tige Rich­tung. Herman Haluscht­schenko und seine Nach­fol­ge­rin im Amt des Ener­gie­mi­nis­ters, Swit­lana Hrint­schuk, sind jeden­falls nach der öffent­li­chen For­de­rung des Prä­si­den­ten Selen­skyj bereits von ihren Ämtern zurück­ge­tre­ten. Nächste Woche soll nun das ukrai­ni­sche Par­la­ment über ihre Ent­las­sung formell abstimmen.

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

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