Presseschau (14. bis 27. September 2023)
Wolodymyr Selenskyj in den USA +++ Prozess gegen Ihor Kolomojskyj und Kampf gegen Korruption +++ Anhörung in Den Haag – die Ukraine gegen Russland
Der Besuch Wolodymyr Selenskyjs in den USA
Über den Besuch des ukrainischen Präsidenten bei seinem Amtskollegen Joe Biden am 21. September 2023 wurde in den ukrainischen Medien sehr intensiv diskutiert. Selenskyj war in die Vereinigten Staaten gereist, um weiter für die Unterstützung der Ukraine zu werben. Während er vor einem Jahr im Kongress noch euphorisch begrüßt wurde, herrschte jetzt Skepsis.
Aljona Hetmantschuk, eine bekannte ukrainische Analystin, schreibt in der Ukrajinska Prawda, der Besuch sei nicht nur für die Ukraine, sondern auch für den amerikanischen Präsidenten sehr wichtig gewesen:
„Wie bereits im vergangenen Jahr brauchte das Weiße Haus Selenskyj, um den Kongress, der bekanntlich ‚die Macht der Brieftasche‘ hat, davon zu überzeugen, das vorgeschlagene zusätzliche Hilfspaket für die Ukraine zu verabschieden – es geht um 24 Milliarden Dollar. […] Das von der Biden-Administration propagierte Prinzip, die Ukraine ‚so lange wie nötig‘ zu unterstützen […], stößt bei den Amerikanern zunehmend auf Ablehnung, da es automatisch Assoziationen mit den endlosen Kriegen hervorruft, die Amerika jahrzehntelang im Nahen Osten geführt und finanziert hat. […] Das Ausbleiben einer nuklearen Eskalation seitens Russlands und einer Eskalation des Krieges zwischen Russland und der Ukraine in einen Dritten Weltkrieg scheint für die Strategen der Administration eine höhere Priorität zu haben als der Sieg der Ukraine.“
Dserkalo Tyschnja betont, Selenskyj habe aus den USA Vereinbarungen mitgebracht, die die Luftverteidigungskapazitäten der Ukraine angesichts der zu erwartenden russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur, insbesondere im Energiebereich, im Winter erheblich stärken würden:
„Der Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in den Vereinigten Staaten brachte das bestmögliche Ergebnis in einem sich ständig verschlechternden Umfeld.” Für die USA würden folgende Ziele eine Rolle spielen: „Verhinderung einer Eskalation seitens des Kremls (ein Euphemismus für den Einsatz von Massenvernichtungswaffen), Vermeidung des Zerfalls Russlands, Aufrechterhaltung der für die Verteidigung Taiwans erforderlichen Kapazitäten und Überwindung des Widerstands der wachsenden Opposition von Trump-Anhängern.“
In einem Kommentar für NV hebt der ukrainische Politologe Wolodymyr Fesenko konkrete Probleme in den Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine nach dem Besuch Selenskyjs hervor:
„Während wir früher oft Forderungen gestellt und Druck auf unsere Partner ausgeübt haben – und das hat funktioniert –, sollten wir meiner Meinung nach diesen Ansatz jetzt ändern. Direkter Druck wird keine Resultate erzielen und kann manchmal sogar negative Auswirkungen haben. […] Ja, wir benötigen Waffen, und zwar so viele wie möglich, aber wir müssten flexibler vorgehen. […] Natürlich gehen wir von unseren eigenen Interessen aus und wir versuchen, sie zu erreichen. Aber wir müssen auch die Interessen unserer Partner und die Besonderheiten der politischen Situation in ihren Ländern berücksichtigen.“
Der Prozess gegen Ihor Kolomojskyj und der Kampf gegen Korruption
Anfang September 2023 wurde einer der reichsten ukrainischen Oligarchen, Ihor Kolomojskyj, verhaftet. Ihm wurden Betrug und Geldwäsche vorgeworfen.
NV interviewt den ukrainischen Analysten Oleksij Koschel, nachdem bekannte ukrainische Medienvertreter – wie der Journalist und ehemalige ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko und die ukrainische Fernsehmoderatorin Natalija Mosejtschuk – den Oligarchen bei einer Anhörung verteidigt hatten.
„Einige ukrainische Medien sind in Wirklichkeit einfach Spielzeuge in den Händen reicher Leute. […] Das bedeutet, dass wir keine freien Medien haben. Genauer gesagt, es gibt sie, aber sie sind keine einflussreichen Akteure auf dem Informationsmarkt, jene sind eindeutig von ihren Eigentümern abhängig. Das ist ein riesiges Problem. […] Und wenn wir hochtrabend davon sprechen, dass wir zu 99,9 Prozent für Europa bereit sind, dass wir fast für die NATO bereit sind, dass es uns gut geht, dann sagen sie [die westlichen Staaten, Anmerkung der Redaktion] zu uns: ‚Hört auf! Ihr habt Probleme mit den Medien, ihr habt Probleme mit der Meinungsfreiheit.‘ Für den Westen ist das eines der Schlüsselkriterien.“
Dserkalo Tyschnja weist seine Leserinnen und Leser auf ein anderes Detail hin:
„Als Spitze des Eisberges sehen wir Verdächtigungen, Festnahmen, die Hafteinrichtung des Inlandsgeheimdienstes der Ukraine (SBU) und eine Rekordkaution in Höhe von 3,8 Milliarden Hrywnja. Es gibt jedoch ein weiteres verborgenes Ziel, und zwar den Versuch, Kolomojskyj vor den Antikorruptionsbehörden fernzuhalten. Deshalb wurde der Oligarch in einem SBU-Gefängnis eingesperrt, damit er nicht bei den Verhören in einer Hafteinrichtung des Nationalen Antikorruptionsbüros aussagt. Schließlich verfügt Kolomojskyj über viele Kenntnisse über die ukrainische Korruption, auch in Bezug auf Personen aus den höchsten Ämtern dieser Regierung.“
Anhörung in Den Haag – die Ukraine gegen Russland
Am 18. September begann in Den Haag vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) die Anhörung zur Klage gegen Russland, die die Ukraine am 26. Februar 2022 eingereicht hatte. Die Ukraine wirft Russland vor, unter dem Vorwand der Verhinderung eines angeblichen Völkermords einen Angriffskrieg zu führen.
Sergij Sydorenko analysiert den Beginn der Anhörung in der Ukrajinska Prawda:
„Man muss gestehen, dass sich Moskau viel grundsätzlicher vorbereitet hat, als es der Ukraine lieb sein kann. […] Im März 2022 trat Russland in Den Haag mit dem Wissen an, dass es dort niemanden gab, der es verteidigen wollte. Doch ein Jahr später hat Moskau eine Alternative gefunden. […] Seit Kurzem arbeitet ein Team von Experten aus den Ländern der ‚Achse des Bösen‘ für die russische Regierung. Es stützt sich auf einen iranischen und einen chinesischen Professor – beide regierungsnah – für Völkerrecht. […] Die Juristen und Rechtsberater des ukrainischen Außenministeriums müssen so überzeugend wie möglich mit Zitaten belegen, dass die russische Behauptung eines ‚Völkermordes an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas‘ eindeutig mit dem russischen Angriff zusammenhängt. Dass es sich bei Letzterem um einen realen und nicht um einen imaginären Verstoß handelt. – Und die Trumpfkarte der Ukraine wird die Hilfe der zivilisierten Welt sein.“
Babel unterstreicht, dass sich 32 Länder der Klage der Ukraine angeschlossen haben, und beschäftigt sich mit der Frage der Zulässigkeit des Verfahrens:
„Warum es wichtig ist, dass 32 Länder die Ukraine unterstützt haben? Erstens stellt das eine politische Unterstützung dar. […] Zweitens sind die Länder, die sich an den Gerichtshof gewandt haben, Vertragsparteien und Mitverfasser der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Sie können die Auslegung der Konvention beeinflussen. Wenn sie sagen, dass sich dieser Fall von anderen unterscheidet und dass das Gericht diesen Fall prüfen soll, wird es Letzterem schwerer fallen zu verkünden, dass der Fall außerhalb seiner Zuständigkeit liegt.“
Gefördert durch:
Ukrainische Medien
Die Online-Zeitung Ukrajinska Prawda veröffentlicht als regierungskritisches Medium investigative Artikel und deckte auch Korruptionsfälle innerhalb der ukrainischen Regierung auf. Sie zählt zu den meistgenutzten Nachrichtenportalen der Ukraine.
Die Ukrajinska Prawda wurde im Jahr 2000 vom ukrainisch-georgischen Journalisten Heorhij Gongadse gegründet, der im darauffolgenden Jahr – angeblich auf Veranlassung des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma – ermordet wurde. Die heutige Chefredakteurin ist die bekannte ukrainisch-krimtatarische Journalistin Sevgil Musaieva.
Im Mai 2021 verkaufte die damalige Eigentümerin Olena Prytula 100 Prozent der Anteile an Dragon Capital, eine ukrainische Investment-Management-Gesellschaft, die vom tschechischen Unternehmer Tomáš Fiala geleitet wird.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 69,6 Millionen
Das Online-Nachrichtenportal und ‑Fernsehen Hromadske finanziert sich über Crowdfunding bei seinen Leserinnen und Lesern, Spenden, Werbung und über für andere Medien aufgenommene Videos.
Hromadske wurde als NGO mit dazugehörigen Online-Medien im November 2013 mit Beginn des Euromaidan gegründet. Die jetzige Chefredakteurin ist die ukrainische Journalistin Jewhenija Motorewska, die sich zuvor mit dem Thema Korruption in ukrainischen Strafverfolgungsbehörden befasst hat.
Die Weiterentwicklung von Hromadske wird von einem Vorstand vorangetrieben, der aus sieben prominenten ukrainischen Persönlichkeiten besteht, darunter Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 2,8 Millionen
Der ukrainische Fernsehsender mit Online-Nachrichtenportal, dessen Chefredakteurin die ukrainische Journalistin Chrystyna Hawryljuk ist, wird finanziell von der ukrainischen Regierung unterstützt. In diesem Zusammenhang hat sich die Website einer ausgewogenen Berichterstattung verpflichtet.
Das renommierte Institute of Mass Information führte Suspilne.Novyny im September 2021 auf der sogenannten „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die ein sehr hohes Niveau an zuverlässigen Informationen bieten.
Suspilne.Novyny wurde im Dezember 2019 gegründet und gehört zur Nationalen öffentlichen Rundfunkgesellschaft der Ukraine. Im Januar 2015 war die zuvor staatliche Rundfunkanstalt entsprechend europäischen Standards in eine öffentliche Rundfunkgesellschaft umgewandelt worden.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 7,4 Millionen
NV ist eine Print- und Online-Zeitschrift, deren Schwerpunkt auf Nachrichten aus dem Ausland und der ukrainischen Politik liegt. Zu den Hauptthemen zählen die internationale Unterstützung der Ukraine, Korruption sowie die künftige Entwicklung des Landes. Die Online-Ausgabe veröffentlich oft Artikel renommierter ausländischer Medien wie The Economist, The New York Times, BBC und Deutsche Welle. Die Zeitschrift erscheint freitags als Druckausgabe auf Ukrainisch, die Website ist auf Ukrainisch, Russisch und Englisch verfügbar. NV gilt als eine der zuverlässigsten Nachrichtenquellen in der Ukraine.
NV wurde im Jahr 2014 – ursprünglich unter dem Namen Nowjoe Wremja („Die neue Zeit“) – vom ukrainischen Journalisten Witalij Sytsch gegründet, der die Chefredaktion übernahm. Zuvor arbeitete Sytsch bei dem ebenfalls populären Magazin Korrespondent. Er verließ Korrespondent, nachdem es an Serhij Kurtschenko – einen Janukowytsch nahestehenden Oligarchen aus Charkiw – verkauft worden war. NV gehört zum Verlagshaus Media-DK, dessen Eigentümer der tschechische Unternehmer Tomáš Fiala ist.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 27,1 Millionen
Dserkalo Tyschnja liefert Hintergrundberichte und Analysen; das Themenspektrum umfasst politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Themen. Die Zeitung betrachtet die ukrainische Politik und deren Akteure in einem internationalen Zusammenhang. Dserkalo Tyschnja steht auf der „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die zuverlässige Informationen liefern.
Dserkalo Tyschnja ist eine der ältesten ukrainischen Zeitungen und erschien zuerst 1994. Seit 2020 ist die Zeitung nur noch online verfügbar: auf Ukrainisch, Russisch und Englisch. Chefredakteurin ist die bekannte ukrainische Journalistin Julija Mostowa, Ehefrau des ehemaligen ukrainischen Verteidigungsministers Anatolij Hrysenko.
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Das ukrainische Online-Magazin Babel wurde im September 2018 gegründet. Das Themenspektrum umfasst soziale und politische Themen; besonderes Augenmerk gilt aber auch Nachrichten aus der Wissenschaft und über neue Technologien.
Nach dem 24. Februar 2022 wurde die zuvor ebenfalls angebotene russische Version der Website geschlossen. Stattdessen wird nun eine englische Version angeboten. Babel finanziert sich über Spenden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Babel engagieren sich in zahlreichen Projekten, die darauf abzielen, die ukrainischen Streitkräfte während des Krieges zu unterstützen.
Die Eigentümer des Online-Magazins sind der erste Chefredakteur Hlib Husjew, Kateryna Kobernyk und das slowakische Unternehmen IG GmbH. Heute ist der ukrainische Journalist Jewhen Spirin, der aus dem besetzten Luhansk stammt, Chefredakteur von Babel.
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Das Online-Magazin Liwyj Bereh gehört zum Horschenin-Institut, einer ukrainischen Denkfabrik, die sich mit politischen und gesellschaftlichen Prozessen in der Ukraine und der Welt beschäftigt. Liwyj Bereh hat sich auf Interviews spezialisiert; häufige Themen sind die ukrainische Innen- und internationale Politik sowie soziale Fragen in der Ukraine.
Liwyj Bereh wurde im Juni 2009 gegründet, Chefredakteurin Sonja Koschkina hat seit 2018 einen eigenen Youtube-Kanal „KishkiNA“, auf dem sie Interviews mit verschiedenen Personen veröffentlicht.
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Im Fokus des ukrainischen im Jahr 2000 gegründeten Online-Nachrichtenportals LIGA stehen wirtschaftliche, politische und soziale Themen. Seit 2020 steht LIGA auf der „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die stets präzise Informationen und zuverlässige Nachrichten anbieten.
Chefredakteurin ist die ukrainische Journalistin Julija Bankowa, die davor eine leitende Position bei dem Online-Magazin Hromadske hatte.
Der Eigentümer des Nachrichtenportals ist die ukrainische unabhängige Mediaholding Ligamedia, deren Geschäftsführer Dmytro Bondarenko ist.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 8,5 Millionen
Censor präsentiert sich als Website mit „emotionalen Nachrichten“. Der Fokus liegt vor allem auf innenpolitischen Entwicklungen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind viele Beiträge den Ereignissen an der Front und den ukrainischen Streitkräften gewidmet. Censor ist auf drei Sprachen verfügbar: Ukrainisch, Russisch und Englisch.
Das Nachrichtenportal Censor wurde 2004 vom bekannten ukrainischen Journalisten Jurij Butusow gegründet und zählt zu den populärsten Nachrichtenseiten des Landes. Butusow gilt als scharfer Kritiker von Präsident Selenskyj. Er erhebt schwere Vorwürfe in Bezug auf Korruption innerhalb der ukrainischen Regierung, schlechte Vorbereitung auf den Krieg gegen Russland und unbefriedigende Verwaltung der Armee. Butusow wird von über 400.000 Menschen auf Facebook gelesen. Seine Posts auf dem sozialen Netzwerk haben enormen Einfluss und lösen hitzige Diskussionen aus.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 59 Millionen
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