Am Ende des Spiels
Mit dem Champions League-Finale kehrt der große Fußball für einen Moment zurück in die Ukraine. Der heimische Fußball aber befindet sich in einer schweren Krise, die immer mehr Traditionsvereinen die Existenz kostet.
Hier oben über der Stadt spürt man ihn besonders gut, den zugigen Wind des Dnjepr, der wie ein Meer an Dnipro vorbeifließt. Man geht vorbei an den fliegenden Händlern, die Schals, Semetschki (Sonnenblumenkerne) und Bier verkaufen, und lässt sich mittreiben in den Horden von Fans, die sich singend und grölend ihren Weg durch die schmale Gasse entlang der rechts aufragenden Wohnhäuser drängen. An den rohen Wänden sieht man Graffitis, die unmissverständlich klar machen, wessen Fußballstadt das hier ist. Und dann hat man sie schon im Blick: die Dnipro-Arena, die wie eine Raumstation vor einem aufragt.
Der FK Dnipro symbolisiert die Probleme im ukrainischen Fußball
In Dnipro, dieser fast 400 Kilometer südöstlich von Kyjiw gelegenen Stadt, die bis Mai 2016 Dnipropetrowsk hieß, wird Fußball gelebt. Und wohl nirgendwo sonst in der Ukraine kann man der Tragik, die auch den Fußball des Landes mit dem Krieg im Osten seit 2014 und der grassierenden Wirtschaftskrise ereilt hat, besonders gut nachfühlen. Die Zeiten, als Tausende für die Heimspiele des altehrwürdigen, im Jahr 1918 gegründeten Vereins FK Dnipro zum Stadion strömten, sind vorerst vorbei. 2008 wurde die moderne, Millionen-schwere Arena erbaut. Sie war das Symbol eines aufstrebenden Klubs mit einer langen Geschichte, der immerhin zweimal die sowjetische Meisterschaft gewann und der noch 2015 im Finale der Europa-League stand. Mittlerweile spielt der Verein in der Druha Liha, der dritthöchsten Klasse im ukrainischen Profifußball. In der kommenden Saison wird er nur noch im Amateurfußball antreten. Der Verein musste zwangsabsteigen: wegen Schulden und ausstehenden Gehälterzahlungen.
Mittlerweile wurde der Traditionsverein sogar von dem Klub SC Dnipro‑1 überholt, der erst 2017 gegründet wurde und der gerade den Aufstieg in die zweithöchste Klasse geschafft hat. Auch dank Fußballern, Trainern und Funktionären, die vom einstigen Lokalmatador zum Neuling gewechselt sind. Präsident des Vereins ist Jurij Bereza, Politiker und Kommandant des Battalions Dnipro. Die Fans beider Lager stehen sich indes in harter Rivalität gegenüber. Trotz des „Friedensabkommens“, welches die führenden Ultra-Gruppen des Landes im Frühjahr 2014 vereinbart hatten. In Zeiten von Konflikt und Krieg sollte die fußballerische Feindschaft keine Rolle mehr spielen. Tatsächlich hatten Ultra-Gruppen die Demonstranten der Euromajdan-Proteste vor den Schlägertrupps des Janukowytsch-Regimes beschützt. Viele Fans waren in den Krieg gezogen, haben in den Freiwilligenbatallionen gemeinsam gekämpft. Auch trotz ihrer politischen Animositäten, die sich zumindest bei ultranationalistischen und rechtsextremen bzw. militanten und antifaschistischen Ultras in einer Anhängerschaft von Dynamo Kyjiw bzw. Arsenal Kyjiw ausdrücken kann.
Das sowjetische Erbe und der Einfluss der Oligarchen sind schwer abzuschütteln
Der Absturz des FK Dnipro ist der vorläufige Tiefpunkt einer besorgniserregenden und traurigen Entwicklung, die auch andere Vereine erwischt hat. Ukrainische Journalisten sprechen spätestens seit 2015 von „der Krise des ukrainischen Fußballs“. Diese spiegelt in gewisser Weise auch die gesellschaftspolitische Krise einer Gesellschaft wider, die sich aufgemacht hat, sich von den postsowjetischen autokratischen Strukturen zu entledigen, die den Wandel im Land immer noch torpedieren und vor allem den Fußball nach wie vor kontrollieren. Das sowjetische Erbe, als der Fußball von oben durch den Staat und seine Unternehmen gefördert und finanziert wurde, und das in den 90er Jahren entstandene Oligarchentum wiegen schwer im ukrainischen Fußball.
Die aktiven Fanszenen und Verbands- und Vereinsstrukturen stehen sich mehr oder weniger feindlich gegenüber
Mitgliedervereine, wie wir sie aus Deutschland kennen und in denen Bürger für Bürger Sport nach demokratischen Spielregeln organisieren, gibt es in der Ukraine nicht. Fans als eigenständig denkende und mündige Subjekte, die sich im Interesse ihres Vereins, des Fußballs und ihrer Rechte organisieren, werden nicht unterstützt, sondern als Bedrohung angesehen. Entsprechend stehen sich die aktiven Fanszenen, die in der Ukraine weitgehend von Ultranationalisten bis hin zu Rechtsextremen dominiert werden, und Verbands- und Vereinsstrukturen mehr oder weniger feindlich gegenüber – was es auch schwierig macht, Fans für eine entsprechende Eigenverantwortung und Selbstkontrolle auf den Rängen einzuspannen.
Gerade die Vereine im Profigeschäft gehören bis heute schwerreichen Geschäftsmännern, die Vereine auch dazu nutzen, um Zugang zum Herzen der Menschen zu bekommen – eine machtvolle Ware, die zumindest bis zum Euromajdan auch den Einfluss in der Politik sicherte. Das berühmteste Beispiel ist Rinat Achmetow, der Oligarch aus dem Donbas, der Mitte der Neunziger die Kontrolle über den einstigen Bergarbeiterklub Schachtar Donezk erlangte, hunderte von Millionen in den damals nicht sehr erfolgreichen Verein steckte und ihn zum Aushängeschild des heutigen ukrainischen Fußballs machte. Achmetow war auch Abgeordneter der Werchowna Rada und Unterstützer Janukowytschs. Mit mittlerweile zehn Meisterschaften, zehn Pokal-Siegen, dem Gewinn des UEFA-Cups im Jahr 2009 und Erfolgen in der Champions League seit Beginn der 2000er haben die „Maulwürfe“ Dynamo Kyjiw als erfolgreichsten und populärsten Klub den Rang abgelaufen. Auch in der aktuellen Saison der Premjer Liha liefern sich die beiden Vereine mal wieder ein einsames Duell. Andere Vereine haben kaum eine Chance, zu den beiden Platzhirschen aufzuschließen.
Der Krieg und die Wirtschaftskrise haben die Stadien geleert und die Profiliga dezimiert
Von der Euphorie, die den ukrainischen Fußball mit der EM 2012 im eigenen Land befeuerte, ist nicht mehr viel geblieben. Der Qualitätsverlust des Fußballs, der Krieg und die Wirtschaftskrise haben die Stadien geleert. Wenn nicht Schachtar gegen Dynamo spielt – ein Aufeinandertreffen, bei dem immerhin rund 38.000 Zuschauer im 70.000 Plätze fassenden Kyjiwer Olympiastadion zusammen kommen können – sind Spiele mit 800 bis 1.200 Besuchern keine Seltenheit. Während in der Saison 2012/13 noch durchschnittlich 12.495 Zuschauer zu jedem Spiel der höchsten Spielklasse kamen, waren es 2016/17 nur noch 4.117. Internationale Legionäre finden ohnehin kaum noch den Weg in die schwach besetzte Premjer Liha. Wie lange Schachtar seinen Erfolg mit Hilfe immer neuer brasilianischer Talente wird aufrecht erhalten können, steht in den Sternen.
Ohnehin besteht die oberste Spielklasse nur noch aus zwölf Vereinen. Vor dem Beginn des Krieges waren es 16. Unsichere Finanzierungsmodelle, Bankrotterklärungen und Oligarchen, die aufgrund der veränderten wirtschaftlichen und politischen Lage mittlerweile unwillig sind, viele Millionen in die Vereine zu stecken, setzen den Strukturen im Profigeschäft zu. Zwar ist der Oligarch Ihor Kolomojskyj nach wie vor Inhaber des FK Dnipro, aber Geld fließt offensichtlich kaum noch von seinem einst fußballbegeisterten Eigner. Sein Vermögen wurde von einem Londoner Gericht eingefroren. Zudem wurde der einstige Eigentümer der PrivatBank auch in der Ukraine wegen Veruntreuung von Bankvermögen angeklagt.
Mit Metalist Charkiw hat auch ein anderer Traditionsverein das Zeitliche gesegnet, weil sein Eigner Sergej Kurtschenko – der „König des Gases“ – nach Russland floh (mittlerweile wurde der Verein als Metalist Charkiw 1925 wiederbelebt). Auch die Vereine FK Metalurh Saporischschja, Arsenal Kyjiw oder FK „Kriwbas“ Krywyj Rih gingen pleite. Nachrichten von Klubs, die ihre Spieler nicht mehr bezahlen können, gehören zum Alltag in der Premjer Liha. Wegen des Krieges im Donbas und der Annexion der Krim mussten Klubs ihre Existenz aufgeben bzw. ihre Heimat verlassen. Sie spielen nun an fremden Orten, in fremden Stadien – abseits ihrer Erinnerungsorte, die der Fußball braucht, abseits ihrer Fans, die zwar teilweise auch geflohen sind, die sich aber die weiten Anreisen von ihren neuen Wohnorten zu den Heimspielen ihrer Vereine in Charkiw, Lwiw oder Saporischschja nicht immer leisten können. Mit Schachtar, Olimpik Donezk und FK Zorya Luhansk spielen sogar drei Exil-Vereine aus den sog. „Volksrepubliken” in der aktuellen Premjer Liha.
Das Oligarchentum ist kein Zukunfts‑, sondern ein Auslaufmodell
Es ist schwerlich zu prognostizieren, ob sich der ukrainische Profifußball erholen wird. Solange der Krieg andauert, solange ein demokratischer Wandel von der alten postsowjetischen Elite behindert wird, solange wird es auch der Fußball schwer haben, zu seiner alten Qualität zurückzufinden bzw. sich neu zu erfinden. Solange wird es auch schwierig sein, die radikalen Tendenzen in den Fanszenen an den Rand zu drängen. Das Oligarchentum ist jedenfalls kein Zukunftsmodell, sondern ein Auslaufmodell, wie die aktuelle Krise zeigt. Der Fußball müsste sich – wie es die Gesellschaft bereits getan hat – für die Dynamik der Eigeninitiative öffnen, um denen die Möglichkeit zu geben, Fußball zu organisieren, denen es nicht um Macht und Geld geht, sondern um die Seele des Fußballs: um die über Grenzen hinweg schaffende Kraft der Gemeinschaft. Aber dahin ist es noch ein weiter Weg.
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