„Odessa Clas­sics“ – Das Salz­burg des Ostens

Marieluise Beck, Festival "Das Odessa Classics"

Das Fes­ti­val „Odessa Clas­sics“, einst Sinn­bild der kul­tu­rel­len Blüte der Stadt, erlebte einen kome­ten­haf­ten Auf­stieg. Doch seit dem rus­si­schen Über­fall ist Odesa wieder in Dun­kel­heit gestürzt. Marie­luise Beck über die bewegte Geschichte des Fes­ti­vals und die tra­gi­schen Folgen des Krieges.

Im Mai 2014 erleb­ten wir Odesa als eine Stadt in Angst. Die Stadt sprach über­wie­gend Rus­sisch, der Bür­ger­meis­ter war der ver­län­gerte Arm einer kor­rup­ten Mafia, deren Chef in London saß. Es war unklar, ob der Bür­ger­meis­ter die Stadt schon an rus­si­sche Dun­kel­män­ner aus der Ost­ukraine ver­kauft hatte.

Meine rus­si­sche Beglei­te­rin und ich trafen in einem „Hub“ auf die „Intel­li­gen­zia“ der Stadt, die oft jüdisch ist: Pro­fes­so­ren und Pro­fes­so­rin­nen, Muse­ums­di­rek­to­ren und den Pia­nis­ten Oleksij Bot­wi­now. Das war der Beginn einer musi­ka­li­schen Part­ner­schaft zwi­schen dem Rath­sChor aus Bremen und der Phil­har­mo­nie von Odesa. Und aus dieser Part­ner­schaft erwuchs das groß­ar­tige Fes­ti­val im Osten Europas: Das Odessa Clas­sics.

Wir ent­deck­ten erst beschä­mend spät, dass in Odesa etwa 25 000 Juden von deut­schen und rumä­ni­schen Scher­gen in auf­ge­las­sene Muni­ti­ons­ba­ra­cken vor die Tore der Stadt getrie­ben worden waren. Nach einem Angriff auf das Offi­ziers­quar­tier der Besat­zer wurden diese Men­schen bei leben­di­gem Leibe ver­brannt. Der Bremer Rath­sChor hat gehol­fen, dieses ode­si­ti­sche „Babyn Jar“ sicht­bar zu machen.

Odesa wurde frei und die Stadt blühte auf. Oleksij Bot­wi­now und seine Frau Lena wurden zu einem Motor der Sicht­bar­keit des Erbes von Odesa: einer großen odes­si­tisch-jüdi­schen Tra­di­tion der Stadt. Sie stell­ten ein Fes­ti­val auf die Beine, die „Odessa Clas­sics“.  Odesa sollte zum “Salz­burg des Ostens” werden. Und in der Tat erlebte das Fes­ti­val fast einen kome­ten­haf­ten Auf­stieg. Große Namen wie David Ois­trach stehen für die musi­ka­li­sche Tra­di­tion der Stadt.

Wer „Der Hase mit den Bern­stein­au­gen” liest, ver­steht, was das Juden­tum für die Stadt bedeu­tet hat. Viele inter­na­tio­nale Künst­ler waren sich der jüdi­schen Tra­di­tion von Odesa sehr wohl bewusst.  Zahl­rei­che unter ihnen – selbst jüdi­scher Her­kunft und aus unter­schied­li­chen Natio­nen – traten mit Stolz und Ehr­furcht vor den Großen aus der Stadt Odesa auf: Daniel Hope, Sebas­tian Knauer, Jewgeni Kissin, Mischa Maisky, Michael Gutt­mann, Joshua Bell und Pinchas Zukerman.

An einem Abend des Fes­ti­vals gab es ein Open-Air-Konzert auf der berühm­ten Potem­kin­schen Treppe. Der Ein­tritt war frei. Und so saßen die Bür­ge­rin­nen und Bürger der Stadt auf den Stufen und es gab ein Gefühl von Frei­heit und Rück­kehr. Rück­kehr in die kul­tu­relle Viel­falt jen­seits der sowje­ti­schen Herr­schaft. Auch das war ein Stück Maidan.

Der Über­fall Russ­lands hat Odesa wieder in die Dun­kel­heit gestürzt. Deutsch­land hat sich an die Seite der Ukraine gestellt, aber seine Unter­stüt­zung immer an dem gemes­sen, was Putin pro­vo­zie­ren könnte und was nicht. Für dieses Zögern zahlen ukrai­ni­sche Men­schen jeden Tag mit ihrem Leben. Die, die in den Städten von den rus­si­schen Raketen ange­grif­fen werden und die, die an der Front ihr Leben lassen, weil sie schlecht aus­ge­rüs­tet und schlecht geschützt sind.

Ihr Kampf wird immer ver­zwei­fel­ter, die Opfer­zah­len immer größer.

Putin ist es egal, wie viele Russen an der Front sterben. Zumal er eher die nicht russ­län­di­schen (weißen) Russen an die Front schickt.

Nun sagen wir in Deutsch­land gerne: Dann ist es doch besser, Frieden zu schlie­ßen. Das klingt freund­lich, fried­lich – ver­tuscht aber eine grau­en­hafte Wahr­heit: In jede Stadt, die die rus­si­schen Truppen ein­neh­men, ziehen Willkür, Folter, Fil­tra­ti­ons­la­ger, Depor­ta­tion von Kindern und sexua­li­sierte Gewalt ein. Vor einem Jahr besuchte ich Isjum. Nach der Befrei­ung der Stadt, also dem Abzug des rus­si­schen Mili­tärs, nahm sich eine nicht uner­heb­li­che Zahl junger Frauen das Leben. Vor so einem Frieden haben die Ukrai­ner zu Recht Angst.

Es gibt eine große Scheu des Westens, die Ukrai­ner mili­tä­risch aus­zu­stat­ten, so dass sie dieses Schick­sal für andere Orte in ihrem Land abwen­den können.

Wir sollten auf die Litauer, die Esten und die Letten hören. Sie sagen uns: Wir werden die Nächs­ten sein.

Warum tun gerade wir in Deutsch­land uns so schwer damit, anzu­er­ken­nen, dass das Böse in der Welt exis­tent ist und dass es eben nicht ver­han­deln will, sondern statt­des­sen mili­tä­risch nie­der­ge­run­gen werden muss? Warum ver­ste­hen aus­ge­rech­net wir in Deutsch­land das nicht? Es wirkt wie eine Ver­drän­gung unserer eigenen Geschichte.

Die Ukrai­ner wollen diesen Krieg nicht, sie wollen nichts mehr als Frieden und Freiheit.

Sie wollen auch weiter kul­tu­relle Begeg­nun­gen, ohne dass sie die Sirenen des Luft­alarms in die Bunker hetzt. Daher gas­tiert das Musik­fes­ti­val „Odessa Clas­sics“, das in diesem Jahr sein zehn­jäh­ri­ges Bestehen feiert, seit Kriegs­be­ginn in ver­schie­de­nen Städten Westeuropas.
Im Sep­tem­ber reisten rund 50 ukrai­ni­sche, im Exil lebende Musi­ke­rin­nen und Musiker nach Bremen, um dort drei Kon­zerte zu geben. Ver­an­stal­tet wurde das Fes­ti­val im Rahmen der lang­jäh­ri­gen musi­ka­li­schen Part­ner­schaft Bremen-Odesa, die Fes­ti­val­grün­der Oleksij Bot­wi­now zusam­men mit dem Bremer Rath­sChor 2016 ins Leben gerufen hatte.

Als das Bun­des­land Bremen 2023 eine Part­ner­schaft mit der Oblast Odesa ver­ein­barte, lag es für den Chor nahe, die gemein­same Kon­zert­tra­di­tion auf­zu­grei­fen und Oleksij Bot­wi­now und sein „Odessa Clas­sics“ Fes­ti­val einzuladen.

Ich hoffe, dass das „Odessa Clas­sics“ eines Tages aus dem Exil nach Odesa zurück­keh­ren kann. Und ich bete dafür, dass das Leiden der Ukrai­ner endlich beendet wird.

Odessa Clas­sics. Das 10. inter­na­tio­nale Musik­fes­ti­val 2024

Porträt Beck

Marie­luise Beck ist eine über Par­tei­gren­zen hinaus geach­tete Außen­po­li­ti­ke­rin mit dem Schwer­punkt Ost- und Südosteuropa.

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