Die schleichende Krise
Neben den zahlreichen Problemen und Herausforderungen, mit denen die Ukraine konfrontiert ist, wird häufig eine problematische Entwicklung übersehen: Die schleichende demografische Krise des Landes.
Selbst die Ukrainische Nationalbank schlug jetzt Alarm: Laut offiziellen Angaben haben allein im Zeitraum von 2008–2017 rund 3,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land verlassen. Das birgt der Bank zufolge enorme Risiken für den heimischen Arbeitsmarkt und die öffentlichen Finanzen und macht einen neuen Zensus erforderlich. Denn angesichts des Krieges in der Ostukraine, der Krim-Annexion und der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Lage weiß niemand wirklich, wie viele Menschen derzeit eigentlich im Land leben.
Demografische Entwicklung seit der Unabhängigkeit
Bereits der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu einem spürbaren Demografieknick. Einerseits nutzen viele den Fall des Eisernen Vorhangs, um wegen besserer Zukunfts- und Berufsperspektiven in den Westen zu gehen – dieser brain drain hatte Auswirkungen insbesondere auf den Bildungsbereich, da viele Akademiker das Land verließen.
Gleichzeitig führte der wirtschaftliche Niedergang des Landes, der für Millionen von Menschen in kürzester Zeit ein Leben in Armut, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit bedeutete, zu einem drastischen Geburtenrückgang: Lag die Geburtenrate der Sowjetukraine im Zeitraum von 1980–1985 laut UN bei 2,0 Geburten pro Frau, halbierte er sich in der Zeit von 1995–2000 fast auf 1,2 Geburten und liegt derzeit mit rund 1,5 Geburten pro Frau unter dem EU-Durchschnitt von 1,6. Dabei kamen 2016 laut Ukrainischer Statistikbehörde auf eine Geburt durchschnittlich 1,5 Todesfälle, was einen Teil des drastischen Bevölkerungsrückgangs erklärt.
Lebten 1991 laut Weltbank noch 52 Millionen Menschen in der Ukraine, waren es 2014 nur noch 45,3 Millionen – ein Rückgang von knapp sieben Millionen Menschen. Aktuell wird die Gesamtbevölkerung auf 42,3 Millionen Menschen geschätzt (die de facto unter russischer Kontrolle stehende Krim nicht eingerechnet). Einige Experten gehen davon aus, dass selbst diese Zahl zu hoch gegriffen ist.
Worin sich jedoch alle einig sind, ist die zukünftige Entwicklung, und die kennt nur eine Richtung: nach unten. Die Internationale Organisation für Migration geht davon aus, dass 2050 nur noch 33 Millionen Menschen in der Ukraine leben werden. Das würde im Vergleich zu 1991 einen Bevölkerungsschwund von 19 Millionen Menschen bzw. 36% bedeuten – ein demografischer Rückgang in bisher kaum gekanntem Ausmaß.
Fehlende Perspektiven als Ursache für Emigration
Neben der niedrigen Geburtenrate ist die Emigration das zweite große Problem. Aktuellen Schätzungen zufolge verlassen bis zu einer halben Million Menschen jährlich das Land. Da es vor allem die jungen und gut ausgebildeten Menschen sind, hinterlassen sie eine eklatante Lücke in Bildung, Wirtschaft und Behörden. Schlechte Perspektiven auf dem heimischen Arbeitsmarkt, die Hoffnung auf ein besseres Leben in Westeuropa sowie der Krieg im Ostteil des Landes lassen die Menschen ihre Koffer packen. Aktuellen Umfragen zufolge geben rund 30% der Abiturienten an, ins Ausland gehen zu wollen, um dort zu studieren und zu arbeiten.
Warschau oder Prag – Hauptsache EU
Eine beliebte Zielregion sind die osteuropäischen EU-Staaten, die wiederum selbst aufgrund niedriger Geburtenraten und der Öffnung des EU-Arbeitsmarkts, die Millionen Menschen in den Westen zog, eine schwierige demografische Entwicklung durchlaufen. Die große Lücke auf den boomenden Arbeitsmärkten der östlichen EU-Länder wird unter anderem von ukrainischen Arbeitnehmern gefüllt.
Vor 2014 war Russland noch ein zentrales Ziel ukrainischer Arbeitsmigranten. Doch der Krieg in der Ostukraine hat die Migrationsströme nicht nur intensiviert, sondern auch geografisch verlagert: Während die Emigration nach Russland ab 2014 um rund ein Drittel sank, stieg die Migration nach Polen um 40%. Polen, das der Ukraine historisch, kulturell, geografisch und auch sprachlich nah ist, hat laut dem polnischen Wirtschaftsminister allein im letzten Jahr rund 1.7 Mio. Arbeitsgenehmigungen für Ukrainer erteilt. Und die Nachfrage werde noch steigen, so der Minister. Hinzu kommt eine Vielzahl illegal Beschäftigter, so dass von rund zwei Millionen in Polen lebenden Ukrainern ausgegangen wird. Damit stellt die Migration von Ukrainern nach Polen in jüngerer Zeit den größten Migrationsstrom von einem europäischen Land in ein anderes dar.
In Italien leben Schätzungen zufolge derzeit rund 300.000 Ukrainer, in Spanien 100.000 und in Portugal 45.000. In Tschechien, wo Ukrainer bereits die größte Minorität darstellen, verdoppelte die Regierung die Quote für ukrainische Arbeitsmigranten gerade erst im Januar. Während sich viele (ost-)europäische Staaten gegen den Zuzug von Flüchtlingen von außerhalb Europas aussprechen, werden Ukrainerinnen und Ukrainer gerne als billige Arbeitskräfte willkommen geheißen.
Die Arbeitsmigration in die EU-Länder wird sich durch die vor einem Jahr in Kraft getretene Visaliberalisierung vermutlich noch intensivieren, da es nun deutlich einfacher geworden ist, in die EU einzureisen und dort für bis zu 90 Tage zu arbeiten.
Eine jüngst veröffentlichte Studie geht davon aus, das etwa 16% der arbeitenden Ukrainer (rund vier Millionen Menschen) Arbeitsmigranten sind. Ein großer Teil arbeitet dabei nur temporär (oft saisonal im Agrar‑, Dienstleistungs- oder Bausektor) im Ausland und kehrt anschließend wieder zurück in die Ukraine. Viele versuchen jedoch sich auch dauerhaft im Ausland zu etablieren.
Auswirkungen für die Ukraine
Die Folgen sind bereits jetzt deutlich spürbar. Wenn ein beträchtlicher Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung nicht für die ukrainische Wirtschaft zur Verfügung steht, führt das zu einem Mangel an Humankapital und hemmt die wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land. So hat sich z. B. im Westen des Landes dank der Nähe zur EU und den günstigen Lohnkosten ein Cluster von Automobilzulieferern entwickelt, dem es inzwischen jedoch an Fachkräften mangelt.
Die ökonomisch weniger prosperierenden ländlichen Räume stehen vor der großen Herausforderung, ihre Regionen zu entwickeln und eine Abwärtsspirale aus wirtschaftlicher Regression und Wegzug junger Menschen zu verhindern. Besonders gilt das für die östlichen Industriegebiete des Donbas‘: Diesen steht nicht nur eine immense Restrukturierung der von Schwerindustrie geprägten Region bevor. Sie müssen auch mit dem andauernden Krieg leben, der Ressourcen bindet, die Infrastruktur beschädigt, Investoren abschreckt und die Menschen zum Wegziehen zwingt.
Selbst die Rücküberweisungen der im Ausland tätigen Ukrainer – 2017 wurden mehr als 9 Mrd. USD von Ukrainern in ihre Heimat überwiesen – sind nicht unproblematisch: Sie sind zwar wichtig für ukrainische Haushalte, gehen jedoch am Fiskus vorbei und spülen keine Steuereinnahmen in die Staatskassen, die so dringend für Renten, Bildung oder für die öffentliche Verwaltung benötigt werden.
Wenn sich die politischen Eliten des Landes der schleichenden Demografiekrise nicht bewusst werden und Lösungen finden, wird sich das Land wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch auf absehbare Zeit nicht erholen – was die kriselnde Ukraine weiter destabilisieren würde.
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