Impe­rien werden immer wieder von klei­ne­ren Ländern geschlagen

Emmanuelle Chaze, Timothy Snyder
Foto: Emma­nu­elle Chaze

Der US-ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ker Timothy Snyder ist ein großer Unter­stüt­zer der Ukraine. Während Donald Trump gerade wie ein Ver­bün­de­ter Putins auf­tritt und nicht nur der Ukraine, sondern damit auch Europa und die trans­at­lan­ti­sche Wer­te­ge­mein­schaft verrät, reist Snyder erneut nach Kyjiw und ana­ly­siert in dem Gespräch mit Emma­nu­elle Chaze die aktu­elle Lage. Diese ist ernst, aber nicht hoff­nungs­los. Nun liegt alles an Europa.

Emma­nu­elle Chaze: Timothy Snyder, gerade sind Sie sind wieder zu Besuch in der Ukraine. Es ist Ihr erster Besuch, seit die neue US-Regie­rung im Amt ist – wie fühlt es sich an, unter diesen Umstän­den zurückzukehren?

Timothy Snyder: Das ist meine fünfte Reise in die Ukraine seit Beginn der Voll­in­va­sion. Es fühlt sich defi­ni­tiv anders an, weil es viel unkla­rer ist, was meine Regie­rung der Ukraine anbie­ten wird. Und es fühlt sich auch als Ame­ri­ka­ner anders an, weil das Maß an Chaos und Unsi­cher­heit in meinem eigenen Land viel größer ist. Selt­sa­mer­weise fühlte ich mich beim Über­que­ren der Grenze in die Ukraine plötz­lich viel ruhiger, weil ich das Gefühl habe, hier viel besser zu wissen, was pas­siert, als es derzeit zu Hause der Fall ist.

EC: Wir erleben eine rasche Demon­tage von Insti­tu­tio­nen. Besorgt Sie das als Ame­ri­ka­ner und als Historiker?

TS: Ja, das beun­ru­higt mich als Ame­ri­ka­ner, als His­to­ri­ker und als Beob­ach­ter der Welt. Wenn die Ver­ei­nig­ten Staaten ein Rechts­staat bleiben sollen, müssen Insti­tu­tio­nen exis­tie­ren, die das Recht durch­set­zen. Und wenn die USA eine Rolle in der Welt spielen wollen – wenn wir bei­spiels­weise glauben, dass wir eine posi­tive Rolle in der Ukraine spielen –, dann brau­chen wir funk­tio­nie­rende Insti­tu­tio­nen, um das zu tun.

Es ist genau diese Kom­bi­na­tion, die mir Sorgen berei­tet: Man kann gleich­zei­tig tyran­ni­scher im Inneren und schwä­cher nach außen werden. Als His­to­ri­ker beschäf­tigt mich vor allem die dro­hende Staa­ten­lo­sig­keit. Die USA können natür­lich ver­schie­dene poli­ti­sche Rich­tun­gen ein­schla­gen, aber wenn wir zu weit gehen, ris­kie­ren wir den Zusam­men­bruch großer Institutionen.

Ich glaube nicht, dass die Amerikaner:innen das wirk­lich ver­ste­hen. Wir nehmen als selbst­ver­ständ­lich an, dass unser Land immer exis­tie­ren wird, während wir gleich­zei­tig glauben, dass man den Staat immer weiter ver­klei­nern kann. Doch diese beiden Dinge wider­spre­chen sich.

EC: Hier in der Ukraine sehen wir direkte Kon­se­quen­zen einiger bereits getrof­fe­ner Ent­schei­dun­gen. Wie nehmen Sie das wahr?

TS: Ich bin erst seit ein paar Stunden in der Ukraine, also kann ich das nicht detail­liert beant­wor­ten. Aber in den letzten drei Jahren haben wir es geschafft, eine Reihe wirk­lich guter NGOs und zu unter­stüt­zen – sowohl in der Ukraine als auch weltweit.

Das ist etwas, was die US-Regie­rung ziem­lich gut macht. Diese Hilfe nun ein­zu­frie­ren bedeu­tet, dass einige der besten Leute in der Ukraine plötz­lich keine Unter­stüt­zung mehr haben, um Dinge zu tun, die das Leben der Men­schen ver­bes­sern, Kinder unter­rich­ten und gene­rell eine bessere Gesell­schaft schaf­fen. Es ist scho­ckie­rend, darüber nach­zu­den­ken, jeg­li­che Hilfe ein­zu­frie­ren – und das beson­ders in einem Land, in dem Krieg herrscht.

EC: Die Aus­set­zung der Hilfe betrifft viele NGOs, die in den Berei­chen Gesund­heits­we­sen, Bildung, huma­ni­täre Hilfe und auch im Kampf gegen Des­in­for­ma­tion tätig sind. Zahl­rei­che unab­hän­gige ukrai­ni­sche Medien erhiel­ten eben­falls Zuschüsse aus den USA. Was denken Sie über die Bedeu­tung des Kampfs gegen Des­in­for­ma­tion in unserer Zeit?

TS: Der Abbau der USAID-Hilfen, auf den Sie sich bezie­hen, ist beson­ders scho­ckie­rend. Erstens, aus ame­ri­ka­ni­scher Sicht war USAID eine Insti­tu­tion, die durch einen Akt des Kon­gres­ses geschaf­fen wurde – der Prä­si­dent sollte also nicht in der Lage sein, sie eigen­mäch­tig aufzulösen.

Zwei­tens ist USAID ein per­fek­tes Bei­spiel für das, was ich zuvor ange­spro­chen habe: Es unter­stützt sowohl Insti­tu­tio­nen als auch die welt­weite Wahr­neh­mung, dass die USA Gutes tun können. Dass es plötz­lich ver­schwin­det, ist schreck­lich für die ame­ri­ka­ni­schen Interessen.

USAID war ein Mittel, um Freund­schaf­ten zu schlie­ßen – und Freunde zu haben, ist in der inter­na­tio­na­len Politik ent­schei­dend. Es zeigt auch, dass Regie­run­gen tat­säch­lich Gutes tun können. Die der­zei­tige US-Regie­rung ver­tritt die Posi­tion, dass Regie­run­gen nur Schaden anrich­ten können – aber das ist offen­sicht­lich nicht wahr.

Es gibt bestimmte Dinge, wie etwa Gesund­heits­ver­sor­gung oder Hilfe in Kriegs­zei­ten, die nur eine Regie­rung wirk­lich leisten kann. Wenn man das aufgibt, ver­lie­ren Men­schen nicht nur ihre Arbeit, sondern sie leiden und sterben mög­li­cher­weise auch.

EC: Nach Ihrem Buch Über Tyran­nei haben Sie kürz­lich auch Über Frei­heit ver­öf­fent­licht. Sie schei­nen also Hoff­nung zu haben. In Ihrem Buch schrei­ben Sie: „Do not obey in advance“, also: „Gehor­che nicht im Voraus“. Was genau meinen Sie damit?

TS: Ich meine damit, dass es immer Hoff­nung gibt. Ohne Hoff­nung wären wir keine Men­schen. Hoff­nung ist eines der Dinge, die uns ausmachen.

Die­je­ni­gen, die Demo­kra­tien zer­stö­ren wollen, ver­su­chen zuerst, uns zu ent­mu­ti­gen – darin ist Putin zum Bei­spiel sehr gut. Das Beein­dru­ckende an den Ukrainer:innen ist, dass sie ange­sichts einer exis­ten­zi­el­len Bedro­hung für Demo­kra­tie und Zukunft zeigen, dass es Mög­lich­kei­ten gibt, wenn man nicht in Hoff­nungs­lo­sig­keit verfällt.

Ich glaube, wir im Westen schät­zen nicht genug, dass die Ukrainer:innen nicht nur Russ­land auf­ge­hal­ten haben, sondern auch Mög­lich­kei­ten für uns geschaf­fen haben. Dass wir wei­ter­hin normale Wahlen und Dis­kus­sio­nen führen können, ver­dan­ken wir in großem Maße ihrem Widerstand.

EC: Glauben Sie, dass sich der Westen der täg­li­chen Her­aus­for­de­run­gen der Ukrainer:innen nicht aus­rei­chend bewusst ist? Wie Sie gesagt haben, sie halten durch nicht nur für uns, sondern für die Zivi­li­sa­tion, wie wir sie kennen.

TS: Ja, das denke ich. Ich war gerade in Paris – es war schön, an der Sor­bonne Vor­träge zu halten und mit der fran­zö­si­schen Presse zu spre­chen. Aber ich hatte dieses über­wäl­ti­gende Gefühl, dass wir im Westen auf gelie­he­ner Zeit leben – und wir haben sie von den Ukrainer:innen geliehen.

Die Ukrainer:innen bezah­len mit ihrem Leben und ihrem Blut dafür, dass wir wei­ter­hin unser Paris, unser London oder unser Bar­ce­lona haben können. Doch wir zollen ihrem Mut nicht genug Respekt, weil wir viel­leicht ein wenig ein­ge­schüch­tert sind oder uns einfach nicht vor­stel­len können, wie schnell sich unsere eigene Situa­tion ver­schlech­tern könnte, wenn die Ukraine fällt.

EC: Als His­to­ri­ker könnten Sie einfach an Ihrer Uni­ver­si­tät bleiben, lehren und Bücher schrei­ben. Doch Sie gehen weit über Ihre Rolle als His­to­ri­ker hinaus und unter­stüt­zen die Ukraine aktiv. Können Sie uns von einigen Initia­ti­ven erzäh­len, an denen Sie betei­ligt waren? Warum ist es Ihnen so wichtig, sich auf diese Weise zu engagieren?

TS: Nun, zunächst einmal müssen His­to­ri­ker nicht lang­wei­lig sein. Wir können auch aktiv etwas tun. In diesem Fall war es so: Als ich gefragt wurde, ob ich Geld für die ukrai­ni­sche Regie­rung sammeln könnte, habe ich sofort ja gesagt. Die ersten Vor­schläge betra­fen Dinge wie die Finan­zie­rung einer Biblio­thek. Es han­delte sich tat­säch­lich um eine Biblio­thek in Tscher­ni­hiw, die zer­stört worden war und die ich kannte. Ich dachte darüber nach und fand die Idee mora­lisch sehr einfach zu ver­tre­ten. Aber dann fragte ich meine ukrai­ni­schen Freunde, und sie sagten: „Eigent­lich soll­test du lieber Geld für die Droh­nen­ab­wehr sammeln.“

Also dachte ich mir: Ich werde das tun, was aus ihrer Sicht wirk­lich Sinn ergibt. Die größten Pro­jekte, auf die ich stolz bin, haben sich auf zwei Dinge kon­zen­triert: die Finan­zie­rung der Droh­nen­ab­wehr und – gemein­sam mit Mark Hamill – die Beschaf­fung von Robo­tern zur Minen­räu­mung. In beiden Fällen geht es darum, Men­schen zu schüt­zen und ihr Leben auf ganz prak­ti­sche Weise siche­rer zu machen.

Ich denke, meine Arbeit in Zusam­men­ar­beit mit United24 hat sich auf das kon­zen­triert, was gerade am drin­gends­ten benö­tigt wird. Und wenn die Zeit gekom­men ist, werde ich auch sehr gerne Geld für Biblio­the­ken sammeln – und mich als His­to­ri­ker wieder zurück­zie­hen, um in Biblio­the­ken in Ruhe Bücher zu lesen. Denn das ist natür­lich das­je­nige, was ich am liebs­ten tue.

EC: Ange­sichts der aktu­el­len Debat­ten im Westen über Waf­fen­still­stand und Ver­hand­lun­gen: Wie stehen Sie dazu, ins­be­son­dere wenn Sie mit Ukrainer:innen sprechen?

TS: Zunächst einmal wird es nicht funk­tio­nie­ren – nicht nur aus mora­li­schen Gründen, sondern auch aus rein poli­ti­schen Gründen, wenn die Ukrainer:innen nicht selbst ein­be­zo­gen werden. Das ist ihr Krieg mehr als der Krieg von irgend­je­mand anderem. Jede Art von Waf­fen­still­stands­ab­kom­men muss sie ein­be­zie­hen. Denn wenn es das nicht tut, werden sie einfach gezwun­gen sein, auf die Rea­li­tät zu reagie­ren, so wie sie ist.

Der zweite ent­schei­dende Punkt ist: Jede Art von Abkom­men muss die ukrai­ni­sche Sou­ve­rä­ni­tät respek­tie­ren. Das ist etwas, das Putin nicht will – und was die Ame­ri­ka­ner viel­leicht nicht voll­stän­dig ver­ste­hen. Mit Sou­ve­rä­ni­tät meine ich grund­le­gende Dinge wie: Die Ukrai­ner ent­schei­den selbst, wie ihre Streit­kräfte aus­se­hen und wer ihre Ver­bün­de­ten sind, niemand schreibt der Ukraine vor, welche Truppen ver­bün­de­ter Staaten auf ihrem Ter­ri­to­rium sein dürfen, und niemand kann die Ukraine zwingen, recht­lich auf ihr eigenes Staats­ge­biet zu verzichten.

Ich kann mir auch nur schwer vor­stel­len, dass Putin und Trump gemein­sam ein Frie­dens­ab­kom­men aus­han­deln könnten. Denn ich glaube nicht, dass Putin über­haupt eines will – und ich glaube nicht, dass Trump das intel­lek­tu­elle Format für eine so umfas­sende Ver­hand­lung hat. Was sie viel­leicht errei­chen könnten, ist ein Waf­fen­still­stand. Und wenn es zu einem Waf­fen­still­stand kommt, dann ist das der Moment der Wahr­heit für Europa. Denn ein Waf­fen­still­stand würde Europa die Mög­lich­keit geben, die Ukraine in die EU auf­zu­neh­men, private Inves­ti­tio­nen zu fördern, staat­li­che Inves­ti­tio­nen zu mobi­li­sie­ren und all die Dinge zu tun, die nötig sind, um die Ukraine sicher zu machen. Ein Waf­fen­still­stand wäre eine Chance für Europa.

Meine Sorge ist jedoch, dass Putin einen Waf­fen­still­stand nur als Ablen­kungs­ma­nö­ver nutzen würde. Und Europa hat die Ange­wohn­heit, immer erst abzu­war­ten, was die Ame­ri­ka­ner tun.

Wenn Trump es schafft, einen Waf­fen­still­stand zu errei­chen, dann wird danach wahr­schein­lich kein Frie­dens­ver­trag folgen. Sollte es also zu einem Waf­fen­still­stand kommen, müssen die Euro­päer sofort handeln – aus eigenem Antrieb und in ihrem eigenen Inter­esse – um die Ukraine dau­er­haft sicher und wohl­ha­bend zu machen.

Ich denke hier an Bei­spiele wie Süd­ko­rea oder West­deutsch­land. Dort gab es keinen for­mel­len Frie­dens­ver­trag, sondern nur einen Waf­fen­still­stand. Aber mit Inves­ti­tio­nen und Unter­stüt­zung ent­wi­ckel­ten sich diese Länder rasch zu blü­hen­den Nationen.

EC: Ein Waf­fen­still­stand kann nur funk­tio­nie­ren, wenn sich beide Seiten an die glei­chen Regeln halten. Und wir haben immer wieder gesehen, dass Russ­land keine anderen Regeln respek­tiert als seine eigenen. Wie können wir dieses Problem umgehen?

TS: Worüber ich spreche, ist ein sehr spe­zi­fi­sches Sze­na­rio: Ein offi­zi­ell erklär­ter Waf­fen­still­stand. Wenn wir ver­hin­dern wollen, dass Russ­land den Krieg erneut beginnt, muss Europa handeln. Denn, wie wir bereits bespro­chen haben: Die Ame­ri­ka­ner werden es nicht tun. Der einzige Weg, Russ­land abzu­schre­cken, ist, die Ukraine so schnell wie möglich so stark wie möglich zu machen. Denn wenn es einen Waf­fen­still­stand gibt, bedeu­tet das für Putin nur eines: Die Zeit läuft. Er wird einen neuen Krieg begin­nen –neun, zwölf oder fünf­zehn Monate später.

Der ent­schei­dende Punkt ist, dass die Ukraine wei­ter­hin auch mili­tä­risch unter­stützt werden muss. Denn wenn Putin wieder auf die Ukraine schaut, darf er es nicht ein zweites Mal wagen. Russ­land hat noch nie einen Waf­fen­still­stand mit der Ukraine ein­ge­hal­ten. Sie haben die Minsker Abkom­men von Anfang an ver­letzt und es gibt keinen Grund, ihnen jetzt zu ver­trauen. Deshalb muss Europa aktiv werden.

Es reicht nicht aus, zu sagen: Die Ame­ri­ka­ner sind unzu­ver­läs­sig, die Russen sind unzu­ver­läs­sig. Natür­lich ist das wahr. Aber dann stellt sich die Frage: Was tun die Euro­päer konkret, um die Lage in ihrem eigenen Sinne zu gestalten?

 

Timothy Snyder
Foto: Emma­nu­elle Chaze

EC: Warum ist es für den rus­si­schen Prä­si­den­ten so wichtig, diesen Krieg fort­zu­set­zen, der viele Merk­male eines impe­ria­lis­ti­schen Krieges gegen die Ukraine aufweist?

TS: Es gibt zwei Haupt­gründe. Erstens: Tyran­nen können niemals falsch liegen. Es ist ihm egal, wie viele Ukrai­ner oder Russen sterben – er kann sich nicht ein­ge­ste­hen, dass er falsch lag.

Und zwei­tens glaube ich, dass er zutiefst von der Idee beses­sen ist, dass die Ukraine nicht wirk­lich exis­tiert, und das ist eine dieser ver­rück­ten Ideen, die Tyran­nen und Mil­li­ar­däre haben. Für ihn ist die Ukraine nur eine Illu­sion, die er „ent­lar­ven“ will.

Darüber hinaus gibt es sehr tra­di­tio­nelle, um es mit Ihren Worten zu sagen, impe­riale Attri­bute. Ein Russ­land, das dieses Gebiet kon­trol­liert, ist dann der größte Agrar­pro­du­zent der Welt. Es hat Zugang zu allen Arten von Koh­len­was­ser­stoff­res­sour­cen, allen Arten von sel­te­nen Erden und, trau­ri­ger­weise, letzt­end­lich auch zu den ukrai­ni­schen Arbeits­kräf­ten, da es diese eben­falls als solche betrach­tet. Doch Russ­land kann nur dann Erfolg haben, wenn Europa und Nord­ame­rika es zulas­sen. Sollte das gesche­hen, würde Russ­land jahr­zehn­te­lang Europa dominieren.

EC: Vor einiger Zeit sagten Sie, dass alle Impe­rien dazu neigen, sich zu über­deh­nen und schließ­lich zu kol­la­bie­ren. Glauben Sie, dass das auch auf Russ­land zutrifft, das sich wie ein Impe­rium verhält?

TS: Natür­lich. Alle Impe­rien brechen irgend­wann zusam­men. Sie alle behaup­ten, dass sie für immer bestehen werden – und doch kol­la­bie­ren sie irgend­wann. Das ist eine innere Span­nung, die allen Impe­rien eigen ist.

Aber es gibt noch einen wei­te­ren Punkt: Impe­rien neigen dazu, Kriege zu ver­lie­ren. Wenn ein Krieg beginnt und man nicht his­to­risch denkt, sagt man oft: Das große Land muss doch gewin­nen, das Impe­rium wird sich durch­set­zen. Doch seit 1945 ist das einfach nicht mehr wahr. Kolo­ni­al­mächte ver­lie­ren ihre Kriege in der Regel – und neigen dann dazu, diese Nie­der­la­gen zu ver­drän­gen. Das war bei Frank­reich der Fall. Das war bei den USA der Fall. Wir ver­lie­ren viele Kriege. Deshalb wäre es eigent­lich normal, wenn die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Es wäre normal, wenn Russ­land diesen Krieg verliert.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir his­to­risch denken. Denn nicht nur ver­lie­ren Impe­rien oft ihre Kriege – der einzige Weg für ein Land, normal zu werden, ist der, seine impe­ria­len Kriege zu ver­lie­ren. Es war für Deutsch­land, Frank­reich, Belgien und alle anderen euro­päi­schen Länder ent­schei­dend, ihre impe­ria­len Kriege zu ver­lie­ren. Das ist es, was sie zu den im Grunde genom­men sehr attrak­ti­ven Ländern gemacht hat, die sie heute sind.

Selbst wenn man sich nur für Russ­land inter­es­siert, sollte man sich eine Nie­der­lage für Russ­land wün­schen. Und übri­gens: Viele Men­schen, denen Russ­land am Herzen liegt – ein­schließ­lich Russ:innen selbst – tun das. Denn eine Nie­der­lage ist die einzige Chance, dass sich Russ­land von seinem aktu­el­len System löst und sich in eine andere Rich­tung entwickelt.

EC: Sehen Sie eine Zukunft, in der Russ­land nicht mehr aggres­siv gegen­über seinen Nach­bar­län­dern auftritt?

TS: Lang­fris­tig gesehen, ja. Aber jeder weitere Monat, den dieser Krieg andau­ert, ver­zö­gert eine Ver­än­de­rung um Jahre. Denn jeder Monat bedeu­tet sinn­lo­sen Tod für Russen und schafft gleich­zei­tig die Not­wen­dig­keit eines Mythos darüber, warum das alles „not­wen­dig“ war. Jeder weitere Monat bringt mehr Des­in­for­ma­tion für die Russ:innen. Er trägt dazu bei, dass sie weiter in der Kriegs­pro­pa­ganda indok­tri­niert werden – die sogar noch schlim­mer ist als die Pro­pa­ganda in Friedenszeiten.

Was wir gerade beob­ach­ten, ist nicht nur der sinn­lose Tod, sondern auch die Trau­ma­ti­sie­rung einer wei­te­ren Gene­ra­tion von Russ:innen. Deshalb denke ich, dass eine Ver­än­de­rung möglich ist, aber sie wird sich über Jahr­zehnte hinweg voll­zie­hen. Und sie muss mit uner­war­te­ten Ereig­nis­sen begin­nen – wie einer mili­tä­ri­schen Niederlage.

His­to­risch gesehen hat sich Russ­land immer nach einer Nie­der­lage ver­än­dert: nach der Nie­der­lage im Krim­krieg, nach der Nie­der­lage gegen Japan, nach der Nie­der­lage in Afgha­ni­stan für die Sowjet­union. Solche Momente sind Wen­de­punkte, in denen die Men­schen sich einig sind, dass sich etwas ändern muss.

Ich muss jedoch hin­zu­fü­gen, dass Tyran­nei äußerst unbe­re­chen­bar ist. Sie erscheint immer stabil – bis sie es plötz­lich gar nicht mehr ist. Und genau so wird es mit Russ­land sein.

EC: Im Westen wird zuneh­mend darüber dis­ku­tiert, dass die Ukraine an den Ver­hand­lungs­tisch kommen sollte. Wolo­dymyr Selen­skyj hat sich eben­falls bereit gezeigt, direkt mit Wla­di­mir Putin zu spre­chen. Aber es ist offen­sicht­lich, dass Russ­land kein Inter­esse an solchen Gesprä­chen hat. Gleich­zei­tig äußert der Westen eine Art „Kriegs­mü­dig­keit“ und möchte, dass die Ukrainer:innen verhandeln.

Das ist schwer zu ertra­gen, wenn man sich hier in der Ukraine befin­det und die Men­schen wei­ter­kämp­fen. Man hat manch­mal das Gefühl, dass die Ukraine selbst von ihren Ver­bün­de­ten in ihrer Ent­schei­dungs­frei­heit ein­ge­schränkt wird. Alle dachten, Kyjiw würde keine drei Tage über­le­ben – und nun sind es drei Jahre.

TS: Es gibt keinen anderen Weg als Respekt. Wir müssen die Toten respek­tie­ren. Wir müssen die Ver­wun­de­ten respek­tie­ren. Wir müssen die Sol­da­ten an der Front respek­tie­ren. Wir müssen all die­je­ni­gen respek­tie­ren, deren Leben sich ver­än­dert hat – und das betrifft im Grunde jede:n einzelne:n Ukrainer:in in irgend­ei­ner Weise. Alles muss mit Respekt beginnen.

Denn ganz offen­sicht­lich sind wir nicht „kriegs­müde“. Es gibt keine Mög­lich­keit, dass dieser Krieg für den Westen ermü­dend ist. Wir haben keinen ein­zi­gen Sol­da­ten geschickt. Die Summe, die wir finan­zi­ell bei­getra­gen haben, ist in unseren Haus­hal­ten kaum der Rede wert. 0,15 Prozent des BIP – das gilt sowohl für Europa als auch für die Ver­ei­nig­ten Staaten – ist im Grunde nichts.

Also nein, wir sind nicht müde. Wir haben nur eine kurze Auf­merk­sam­keits­spanne – und das ist etwas völlig anderes. Viel­leicht wollen wir, dass „der Film“ endlich endet. Viel­leicht sind wir bereit für ein Happy End. Aber das hier ist kein Film. Das ist das echte Leben. Wenn man will, dass dieser Krieg endet, dann muss man eine Situa­tion schaf­fen, in der die Ukraine gewin­nen kann. Man muss es Russ­land schwe­rer machen. Es reicht nicht, wenn Donald Trump morgens auf­wacht und sagt: „Ich habe es satt. Es soll aufhören.“

Man muss die Instru­mente der Macht nutzen, um es Russ­land schwe­rer und der Ukraine leich­ter zu machen. Wenn man das nicht tut, dann ergibt es keinen Sinn, über Waf­fen­still­stände und Frie­dens­pläne zu spre­chen. Das sind die grund­le­gen­den Rea­li­tä­ten dieser Welt. Russ­land wird diesen Krieg nicht beenden, solange Putin nicht erkennt, dass die Zukunft für ihn schlim­mer ist als die Gegen­wart. Derzeit gibt ihm die US-Regie­rung allen Grund zu glauben, dass es in Zukunft leich­ter für ihn wird. Wenn die Ame­ri­ka­ner Putin tat­säch­lich an den Ver­hand­lungs­tisch bringen wollen, müssen sie eine Situa­tion schaf­fen, in der die Zukunft für ihn schwie­ri­ger wird als die Gegen­wart es ist. Bislang gab es viele Worte, aber keine Taten in diese Richtung.

EC: Drei Jahre sind ver­gan­gen. Was sind Ihre Erwar­tun­gen für die kom­men­den Wochen und Monate?

TS: Die Lage in meinem eigenen Land ist sehr insta­bil. Ich hoffe, dass wir irgend­ei­nen sta­bi­len Punkt errei­chen, an dem unsere Insti­tu­tio­nen noch funk­tio­nie­ren. Auch dieser Krieg ist in einer Phase großer Unsi­cher­heit. Ich hoffe sehr, dass sich die euro­päi­schen Staats- und Regierungschef:innen zu einer festen Haltung durch­rin­gen – denn egal, ob es einen Waf­fen­still­stand gibt oder nicht, die Ver­su­chung ist immer die­selbe: Wenn ein guter US-Prä­si­dent im Amt ist, sagt man: „Lassen wir ihn zuerst etwas tun.“ Wenn ein schlech­ter US-Prä­si­dent im Amt ist, sagt man: „Dann können wir nichts tun.“

Aber das stimmt einfach nicht. Europa könnte genug tun – und muss endlich damit anfan­gen. Deshalb ist es ent­schei­dend, was die euro­päi­schen Politiker:innen in den nächs­ten Wochen und Monaten unter­neh­men. Wenn man will, dass der Krieg kurz ist, muss man sich darauf ein­stel­len, dass er lange dauern könnte. Es kann nicht nur um ein biss­chen Hilfe hier und da gehen.

Europa muss einen klaren Plan haben, um der Ukraine genug Unter­stüt­zung zu geben, damit sie den Krieg gewin­nen kann. Das wird nicht nur die Ukrai­ner auf­recht­erhal­ten, sondern auch die Wahr­schein­lich­keit erhöhen, dass wir am Ende einen akzep­ta­blen Frieden haben.

Portrait von Emmanuelle Chaze

Emma­nu­elle Chaze lebt in Kyjiw und arbei­tet als Ukraine-Kor­re­spon­den­tin unter anderem für Radio France Inter­na­tio­nale, France24 und Ouest-France.

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