Imperien werden immer wieder von kleineren Ländern geschlagen

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder ist ein großer Unterstützer der Ukraine. Während Donald Trump gerade wie ein Verbündeter Putins auftritt und nicht nur der Ukraine, sondern damit auch Europa und die transatlantische Wertegemeinschaft verrät, reist Snyder erneut nach Kyjiw und analysiert in dem Gespräch mit Emmanuelle Chaze die aktuelle Lage. Diese ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Nun liegt alles an Europa.
Emmanuelle Chaze: Timothy Snyder, gerade sind Sie sind wieder zu Besuch in der Ukraine. Es ist Ihr erster Besuch, seit die neue US-Regierung im Amt ist – wie fühlt es sich an, unter diesen Umständen zurückzukehren?
Timothy Snyder: Das ist meine fünfte Reise in die Ukraine seit Beginn der Vollinvasion. Es fühlt sich definitiv anders an, weil es viel unklarer ist, was meine Regierung der Ukraine anbieten wird. Und es fühlt sich auch als Amerikaner anders an, weil das Maß an Chaos und Unsicherheit in meinem eigenen Land viel größer ist. Seltsamerweise fühlte ich mich beim Überqueren der Grenze in die Ukraine plötzlich viel ruhiger, weil ich das Gefühl habe, hier viel besser zu wissen, was passiert, als es derzeit zu Hause der Fall ist.
EC: Wir erleben eine rasche Demontage von Institutionen. Besorgt Sie das als Amerikaner und als Historiker?
TS: Ja, das beunruhigt mich als Amerikaner, als Historiker und als Beobachter der Welt. Wenn die Vereinigten Staaten ein Rechtsstaat bleiben sollen, müssen Institutionen existieren, die das Recht durchsetzen. Und wenn die USA eine Rolle in der Welt spielen wollen – wenn wir beispielsweise glauben, dass wir eine positive Rolle in der Ukraine spielen –, dann brauchen wir funktionierende Institutionen, um das zu tun.
Es ist genau diese Kombination, die mir Sorgen bereitet: Man kann gleichzeitig tyrannischer im Inneren und schwächer nach außen werden. Als Historiker beschäftigt mich vor allem die drohende Staatenlosigkeit. Die USA können natürlich verschiedene politische Richtungen einschlagen, aber wenn wir zu weit gehen, riskieren wir den Zusammenbruch großer Institutionen.
Ich glaube nicht, dass die Amerikaner:innen das wirklich verstehen. Wir nehmen als selbstverständlich an, dass unser Land immer existieren wird, während wir gleichzeitig glauben, dass man den Staat immer weiter verkleinern kann. Doch diese beiden Dinge widersprechen sich.
EC: Hier in der Ukraine sehen wir direkte Konsequenzen einiger bereits getroffener Entscheidungen. Wie nehmen Sie das wahr?
TS: Ich bin erst seit ein paar Stunden in der Ukraine, also kann ich das nicht detailliert beantworten. Aber in den letzten drei Jahren haben wir es geschafft, eine Reihe wirklich guter NGOs und zu unterstützen – sowohl in der Ukraine als auch weltweit.
Das ist etwas, was die US-Regierung ziemlich gut macht. Diese Hilfe nun einzufrieren bedeutet, dass einige der besten Leute in der Ukraine plötzlich keine Unterstützung mehr haben, um Dinge zu tun, die das Leben der Menschen verbessern, Kinder unterrichten und generell eine bessere Gesellschaft schaffen. Es ist schockierend, darüber nachzudenken, jegliche Hilfe einzufrieren – und das besonders in einem Land, in dem Krieg herrscht.
EC: Die Aussetzung der Hilfe betrifft viele NGOs, die in den Bereichen Gesundheitswesen, Bildung, humanitäre Hilfe und auch im Kampf gegen Desinformation tätig sind. Zahlreiche unabhängige ukrainische Medien erhielten ebenfalls Zuschüsse aus den USA. Was denken Sie über die Bedeutung des Kampfs gegen Desinformation in unserer Zeit?
TS: Der Abbau der USAID-Hilfen, auf den Sie sich beziehen, ist besonders schockierend. Erstens, aus amerikanischer Sicht war USAID eine Institution, die durch einen Akt des Kongresses geschaffen wurde – der Präsident sollte also nicht in der Lage sein, sie eigenmächtig aufzulösen.
Zweitens ist USAID ein perfektes Beispiel für das, was ich zuvor angesprochen habe: Es unterstützt sowohl Institutionen als auch die weltweite Wahrnehmung, dass die USA Gutes tun können. Dass es plötzlich verschwindet, ist schrecklich für die amerikanischen Interessen.
USAID war ein Mittel, um Freundschaften zu schließen – und Freunde zu haben, ist in der internationalen Politik entscheidend. Es zeigt auch, dass Regierungen tatsächlich Gutes tun können. Die derzeitige US-Regierung vertritt die Position, dass Regierungen nur Schaden anrichten können – aber das ist offensichtlich nicht wahr.
Es gibt bestimmte Dinge, wie etwa Gesundheitsversorgung oder Hilfe in Kriegszeiten, die nur eine Regierung wirklich leisten kann. Wenn man das aufgibt, verlieren Menschen nicht nur ihre Arbeit, sondern sie leiden und sterben möglicherweise auch.
EC: Nach Ihrem Buch Über Tyrannei haben Sie kürzlich auch Über Freiheit veröffentlicht. Sie scheinen also Hoffnung zu haben. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Do not obey in advance“, also: „Gehorche nicht im Voraus“. Was genau meinen Sie damit?
TS: Ich meine damit, dass es immer Hoffnung gibt. Ohne Hoffnung wären wir keine Menschen. Hoffnung ist eines der Dinge, die uns ausmachen.
Diejenigen, die Demokratien zerstören wollen, versuchen zuerst, uns zu entmutigen – darin ist Putin zum Beispiel sehr gut. Das Beeindruckende an den Ukrainer:innen ist, dass sie angesichts einer existenziellen Bedrohung für Demokratie und Zukunft zeigen, dass es Möglichkeiten gibt, wenn man nicht in Hoffnungslosigkeit verfällt.
Ich glaube, wir im Westen schätzen nicht genug, dass die Ukrainer:innen nicht nur Russland aufgehalten haben, sondern auch Möglichkeiten für uns geschaffen haben. Dass wir weiterhin normale Wahlen und Diskussionen führen können, verdanken wir in großem Maße ihrem Widerstand.
EC: Glauben Sie, dass sich der Westen der täglichen Herausforderungen der Ukrainer:innen nicht ausreichend bewusst ist? Wie Sie gesagt haben, sie halten durch nicht nur für uns, sondern für die Zivilisation, wie wir sie kennen.
TS: Ja, das denke ich. Ich war gerade in Paris – es war schön, an der Sorbonne Vorträge zu halten und mit der französischen Presse zu sprechen. Aber ich hatte dieses überwältigende Gefühl, dass wir im Westen auf geliehener Zeit leben – und wir haben sie von den Ukrainer:innen geliehen.
Die Ukrainer:innen bezahlen mit ihrem Leben und ihrem Blut dafür, dass wir weiterhin unser Paris, unser London oder unser Barcelona haben können. Doch wir zollen ihrem Mut nicht genug Respekt, weil wir vielleicht ein wenig eingeschüchtert sind oder uns einfach nicht vorstellen können, wie schnell sich unsere eigene Situation verschlechtern könnte, wenn die Ukraine fällt.
EC: Als Historiker könnten Sie einfach an Ihrer Universität bleiben, lehren und Bücher schreiben. Doch Sie gehen weit über Ihre Rolle als Historiker hinaus und unterstützen die Ukraine aktiv. Können Sie uns von einigen Initiativen erzählen, an denen Sie beteiligt waren? Warum ist es Ihnen so wichtig, sich auf diese Weise zu engagieren?
TS: Nun, zunächst einmal müssen Historiker nicht langweilig sein. Wir können auch aktiv etwas tun. In diesem Fall war es so: Als ich gefragt wurde, ob ich Geld für die ukrainische Regierung sammeln könnte, habe ich sofort ja gesagt. Die ersten Vorschläge betrafen Dinge wie die Finanzierung einer Bibliothek. Es handelte sich tatsächlich um eine Bibliothek in Tschernihiw, die zerstört worden war und die ich kannte. Ich dachte darüber nach und fand die Idee moralisch sehr einfach zu vertreten. Aber dann fragte ich meine ukrainischen Freunde, und sie sagten: „Eigentlich solltest du lieber Geld für die Drohnenabwehr sammeln.“
Also dachte ich mir: Ich werde das tun, was aus ihrer Sicht wirklich Sinn ergibt. Die größten Projekte, auf die ich stolz bin, haben sich auf zwei Dinge konzentriert: die Finanzierung der Drohnenabwehr und – gemeinsam mit Mark Hamill – die Beschaffung von Robotern zur Minenräumung. In beiden Fällen geht es darum, Menschen zu schützen und ihr Leben auf ganz praktische Weise sicherer zu machen.
Ich denke, meine Arbeit in Zusammenarbeit mit United24 hat sich auf das konzentriert, was gerade am dringendsten benötigt wird. Und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich auch sehr gerne Geld für Bibliotheken sammeln – und mich als Historiker wieder zurückziehen, um in Bibliotheken in Ruhe Bücher zu lesen. Denn das ist natürlich dasjenige, was ich am liebsten tue.
EC: Angesichts der aktuellen Debatten im Westen über Waffenstillstand und Verhandlungen: Wie stehen Sie dazu, insbesondere wenn Sie mit Ukrainer:innen sprechen?
TS: Zunächst einmal wird es nicht funktionieren – nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch aus rein politischen Gründen, wenn die Ukrainer:innen nicht selbst einbezogen werden. Das ist ihr Krieg mehr als der Krieg von irgendjemand anderem. Jede Art von Waffenstillstandsabkommen muss sie einbeziehen. Denn wenn es das nicht tut, werden sie einfach gezwungen sein, auf die Realität zu reagieren, so wie sie ist.
Der zweite entscheidende Punkt ist: Jede Art von Abkommen muss die ukrainische Souveränität respektieren. Das ist etwas, das Putin nicht will – und was die Amerikaner vielleicht nicht vollständig verstehen. Mit Souveränität meine ich grundlegende Dinge wie: Die Ukrainer entscheiden selbst, wie ihre Streitkräfte aussehen und wer ihre Verbündeten sind, niemand schreibt der Ukraine vor, welche Truppen verbündeter Staaten auf ihrem Territorium sein dürfen, und niemand kann die Ukraine zwingen, rechtlich auf ihr eigenes Staatsgebiet zu verzichten.
Ich kann mir auch nur schwer vorstellen, dass Putin und Trump gemeinsam ein Friedensabkommen aushandeln könnten. Denn ich glaube nicht, dass Putin überhaupt eines will – und ich glaube nicht, dass Trump das intellektuelle Format für eine so umfassende Verhandlung hat. Was sie vielleicht erreichen könnten, ist ein Waffenstillstand. Und wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, dann ist das der Moment der Wahrheit für Europa. Denn ein Waffenstillstand würde Europa die Möglichkeit geben, die Ukraine in die EU aufzunehmen, private Investitionen zu fördern, staatliche Investitionen zu mobilisieren und all die Dinge zu tun, die nötig sind, um die Ukraine sicher zu machen. Ein Waffenstillstand wäre eine Chance für Europa.
Meine Sorge ist jedoch, dass Putin einen Waffenstillstand nur als Ablenkungsmanöver nutzen würde. Und Europa hat die Angewohnheit, immer erst abzuwarten, was die Amerikaner tun.
Wenn Trump es schafft, einen Waffenstillstand zu erreichen, dann wird danach wahrscheinlich kein Friedensvertrag folgen. Sollte es also zu einem Waffenstillstand kommen, müssen die Europäer sofort handeln – aus eigenem Antrieb und in ihrem eigenen Interesse – um die Ukraine dauerhaft sicher und wohlhabend zu machen.
Ich denke hier an Beispiele wie Südkorea oder Westdeutschland. Dort gab es keinen formellen Friedensvertrag, sondern nur einen Waffenstillstand. Aber mit Investitionen und Unterstützung entwickelten sich diese Länder rasch zu blühenden Nationen.
EC: Ein Waffenstillstand kann nur funktionieren, wenn sich beide Seiten an die gleichen Regeln halten. Und wir haben immer wieder gesehen, dass Russland keine anderen Regeln respektiert als seine eigenen. Wie können wir dieses Problem umgehen?
TS: Worüber ich spreche, ist ein sehr spezifisches Szenario: Ein offiziell erklärter Waffenstillstand. Wenn wir verhindern wollen, dass Russland den Krieg erneut beginnt, muss Europa handeln. Denn, wie wir bereits besprochen haben: Die Amerikaner werden es nicht tun. Der einzige Weg, Russland abzuschrecken, ist, die Ukraine so schnell wie möglich so stark wie möglich zu machen. Denn wenn es einen Waffenstillstand gibt, bedeutet das für Putin nur eines: Die Zeit läuft. Er wird einen neuen Krieg beginnen –neun, zwölf oder fünfzehn Monate später.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Ukraine weiterhin auch militärisch unterstützt werden muss. Denn wenn Putin wieder auf die Ukraine schaut, darf er es nicht ein zweites Mal wagen. Russland hat noch nie einen Waffenstillstand mit der Ukraine eingehalten. Sie haben die Minsker Abkommen von Anfang an verletzt und es gibt keinen Grund, ihnen jetzt zu vertrauen. Deshalb muss Europa aktiv werden.
Es reicht nicht aus, zu sagen: Die Amerikaner sind unzuverlässig, die Russen sind unzuverlässig. Natürlich ist das wahr. Aber dann stellt sich die Frage: Was tun die Europäer konkret, um die Lage in ihrem eigenen Sinne zu gestalten?
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EC: Warum ist es für den russischen Präsidenten so wichtig, diesen Krieg fortzusetzen, der viele Merkmale eines imperialistischen Krieges gegen die Ukraine aufweist?
TS: Es gibt zwei Hauptgründe. Erstens: Tyrannen können niemals falsch liegen. Es ist ihm egal, wie viele Ukrainer oder Russen sterben – er kann sich nicht eingestehen, dass er falsch lag.
Und zweitens glaube ich, dass er zutiefst von der Idee besessen ist, dass die Ukraine nicht wirklich existiert, und das ist eine dieser verrückten Ideen, die Tyrannen und Milliardäre haben. Für ihn ist die Ukraine nur eine Illusion, die er „entlarven“ will.
Darüber hinaus gibt es sehr traditionelle, um es mit Ihren Worten zu sagen, imperiale Attribute. Ein Russland, das dieses Gebiet kontrolliert, ist dann der größte Agrarproduzent der Welt. Es hat Zugang zu allen Arten von Kohlenwasserstoffressourcen, allen Arten von seltenen Erden und, traurigerweise, letztendlich auch zu den ukrainischen Arbeitskräften, da es diese ebenfalls als solche betrachtet. Doch Russland kann nur dann Erfolg haben, wenn Europa und Nordamerika es zulassen. Sollte das geschehen, würde Russland jahrzehntelang Europa dominieren.
EC: Vor einiger Zeit sagten Sie, dass alle Imperien dazu neigen, sich zu überdehnen und schließlich zu kollabieren. Glauben Sie, dass das auch auf Russland zutrifft, das sich wie ein Imperium verhält?
TS: Natürlich. Alle Imperien brechen irgendwann zusammen. Sie alle behaupten, dass sie für immer bestehen werden – und doch kollabieren sie irgendwann. Das ist eine innere Spannung, die allen Imperien eigen ist.
Aber es gibt noch einen weiteren Punkt: Imperien neigen dazu, Kriege zu verlieren. Wenn ein Krieg beginnt und man nicht historisch denkt, sagt man oft: Das große Land muss doch gewinnen, das Imperium wird sich durchsetzen. Doch seit 1945 ist das einfach nicht mehr wahr. Kolonialmächte verlieren ihre Kriege in der Regel – und neigen dann dazu, diese Niederlagen zu verdrängen. Das war bei Frankreich der Fall. Das war bei den USA der Fall. Wir verlieren viele Kriege. Deshalb wäre es eigentlich normal, wenn die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Es wäre normal, wenn Russland diesen Krieg verliert.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir historisch denken. Denn nicht nur verlieren Imperien oft ihre Kriege – der einzige Weg für ein Land, normal zu werden, ist der, seine imperialen Kriege zu verlieren. Es war für Deutschland, Frankreich, Belgien und alle anderen europäischen Länder entscheidend, ihre imperialen Kriege zu verlieren. Das ist es, was sie zu den im Grunde genommen sehr attraktiven Ländern gemacht hat, die sie heute sind.
Selbst wenn man sich nur für Russland interessiert, sollte man sich eine Niederlage für Russland wünschen. Und übrigens: Viele Menschen, denen Russland am Herzen liegt – einschließlich Russ:innen selbst – tun das. Denn eine Niederlage ist die einzige Chance, dass sich Russland von seinem aktuellen System löst und sich in eine andere Richtung entwickelt.
EC: Sehen Sie eine Zukunft, in der Russland nicht mehr aggressiv gegenüber seinen Nachbarländern auftritt?
TS: Langfristig gesehen, ja. Aber jeder weitere Monat, den dieser Krieg andauert, verzögert eine Veränderung um Jahre. Denn jeder Monat bedeutet sinnlosen Tod für Russen und schafft gleichzeitig die Notwendigkeit eines Mythos darüber, warum das alles „notwendig“ war. Jeder weitere Monat bringt mehr Desinformation für die Russ:innen. Er trägt dazu bei, dass sie weiter in der Kriegspropaganda indoktriniert werden – die sogar noch schlimmer ist als die Propaganda in Friedenszeiten.
Was wir gerade beobachten, ist nicht nur der sinnlose Tod, sondern auch die Traumatisierung einer weiteren Generation von Russ:innen. Deshalb denke ich, dass eine Veränderung möglich ist, aber sie wird sich über Jahrzehnte hinweg vollziehen. Und sie muss mit unerwarteten Ereignissen beginnen – wie einer militärischen Niederlage.
Historisch gesehen hat sich Russland immer nach einer Niederlage verändert: nach der Niederlage im Krimkrieg, nach der Niederlage gegen Japan, nach der Niederlage in Afghanistan für die Sowjetunion. Solche Momente sind Wendepunkte, in denen die Menschen sich einig sind, dass sich etwas ändern muss.
Ich muss jedoch hinzufügen, dass Tyrannei äußerst unberechenbar ist. Sie erscheint immer stabil – bis sie es plötzlich gar nicht mehr ist. Und genau so wird es mit Russland sein.
EC: Im Westen wird zunehmend darüber diskutiert, dass die Ukraine an den Verhandlungstisch kommen sollte. Wolodymyr Selenskyj hat sich ebenfalls bereit gezeigt, direkt mit Wladimir Putin zu sprechen. Aber es ist offensichtlich, dass Russland kein Interesse an solchen Gesprächen hat. Gleichzeitig äußert der Westen eine Art „Kriegsmüdigkeit“ und möchte, dass die Ukrainer:innen verhandeln.
Das ist schwer zu ertragen, wenn man sich hier in der Ukraine befindet und die Menschen weiterkämpfen. Man hat manchmal das Gefühl, dass die Ukraine selbst von ihren Verbündeten in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird. Alle dachten, Kyjiw würde keine drei Tage überleben – und nun sind es drei Jahre.
TS: Es gibt keinen anderen Weg als Respekt. Wir müssen die Toten respektieren. Wir müssen die Verwundeten respektieren. Wir müssen die Soldaten an der Front respektieren. Wir müssen all diejenigen respektieren, deren Leben sich verändert hat – und das betrifft im Grunde jede:n einzelne:n Ukrainer:in in irgendeiner Weise. Alles muss mit Respekt beginnen.
Denn ganz offensichtlich sind wir nicht „kriegsmüde“. Es gibt keine Möglichkeit, dass dieser Krieg für den Westen ermüdend ist. Wir haben keinen einzigen Soldaten geschickt. Die Summe, die wir finanziell beigetragen haben, ist in unseren Haushalten kaum der Rede wert. 0,15 Prozent des BIP – das gilt sowohl für Europa als auch für die Vereinigten Staaten – ist im Grunde nichts.
Also nein, wir sind nicht müde. Wir haben nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne – und das ist etwas völlig anderes. Vielleicht wollen wir, dass „der Film“ endlich endet. Vielleicht sind wir bereit für ein Happy End. Aber das hier ist kein Film. Das ist das echte Leben. Wenn man will, dass dieser Krieg endet, dann muss man eine Situation schaffen, in der die Ukraine gewinnen kann. Man muss es Russland schwerer machen. Es reicht nicht, wenn Donald Trump morgens aufwacht und sagt: „Ich habe es satt. Es soll aufhören.“
Man muss die Instrumente der Macht nutzen, um es Russland schwerer und der Ukraine leichter zu machen. Wenn man das nicht tut, dann ergibt es keinen Sinn, über Waffenstillstände und Friedenspläne zu sprechen. Das sind die grundlegenden Realitäten dieser Welt. Russland wird diesen Krieg nicht beenden, solange Putin nicht erkennt, dass die Zukunft für ihn schlimmer ist als die Gegenwart. Derzeit gibt ihm die US-Regierung allen Grund zu glauben, dass es in Zukunft leichter für ihn wird. Wenn die Amerikaner Putin tatsächlich an den Verhandlungstisch bringen wollen, müssen sie eine Situation schaffen, in der die Zukunft für ihn schwieriger wird als die Gegenwart es ist. Bislang gab es viele Worte, aber keine Taten in diese Richtung.
EC: Drei Jahre sind vergangen. Was sind Ihre Erwartungen für die kommenden Wochen und Monate?
TS: Die Lage in meinem eigenen Land ist sehr instabil. Ich hoffe, dass wir irgendeinen stabilen Punkt erreichen, an dem unsere Institutionen noch funktionieren. Auch dieser Krieg ist in einer Phase großer Unsicherheit. Ich hoffe sehr, dass sich die europäischen Staats- und Regierungschef:innen zu einer festen Haltung durchringen – denn egal, ob es einen Waffenstillstand gibt oder nicht, die Versuchung ist immer dieselbe: Wenn ein guter US-Präsident im Amt ist, sagt man: „Lassen wir ihn zuerst etwas tun.“ Wenn ein schlechter US-Präsident im Amt ist, sagt man: „Dann können wir nichts tun.“
Aber das stimmt einfach nicht. Europa könnte genug tun – und muss endlich damit anfangen. Deshalb ist es entscheidend, was die europäischen Politiker:innen in den nächsten Wochen und Monaten unternehmen. Wenn man will, dass der Krieg kurz ist, muss man sich darauf einstellen, dass er lange dauern könnte. Es kann nicht nur um ein bisschen Hilfe hier und da gehen.
Europa muss einen klaren Plan haben, um der Ukraine genug Unterstützung zu geben, damit sie den Krieg gewinnen kann. Das wird nicht nur die Ukrainer aufrechterhalten, sondern auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wir am Ende einen akzeptablen Frieden haben.
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